RSS-Feed

„Das Einzige, was hilft, ist die Reflexionsschleife im Sprachgebrauch“

Interview mit Jurymitglied Stephan Hebel über Hintergründe und Ziele der sprachkritischen Aktion "Unwort des Jahres"

Am morgigen Dienstag ist es wieder so weit: Dann wird in in Darmstadt das „Unwort des Jahres“ bekanntgegeben. Für das „Unwort des Jahres 2015“ konnten alle Bürger bis zum 31.12.2015 ihre Vorschläge einreichen – besonders präsent war dieses Mal das Thema „Flüchtlinge“. Ausgewählt wird das „Unwort des Jahres“ durch eine Jury, die aus vier Sprachwissenschaftlern und einem Journalisten besteht. Ergänzt wird sie in diesem Jahr durch den Kabarettisten Georg Schramm. Was aus einem Wort ein Unwort macht, welche Ziele die sprachkritische Aktion verfolgt und worauf (Fach-)Journalisten bei der Verwendung von Begriffen im Redaktionsalltag achten sollten, erläutert Jurymitglied Stephan Hebel im Gespräch mit dem „Fachjournalist“.

Herr Hebel, was ist ein Unwort?

Es gibt Begriffsbildungen, die Beschönigungen oder Beleidigungen beinhalten oder transportieren, ohne das offen zu zeigen. Diese Wörter verstoßen gegen die Prinzipien der Demokratie oder der Menschenwürde, sind euphemistisch, also beschönigend, oder diskriminierend. Das sind die Regeln für das, was wir als Unwort bezeichnen.

Ein solches Unwort, das aus unserer Sicht, also aus Sicht der Jury, diesem Kriterium entspricht, ist das Wort „alternativlos“; ein Wort, das ich besonders „liebe“. Denn wenn etwas alternativlos ist, dann kann man sich die Debatte darüber auch sparen. Etwas im demokratischen Diskurs als alternativlos darzustellen, ist vom Demokratiegesichtspunkt aus fragwürdig.

An der Aktion können alle Bürgerinnen und Bürger teilnehmen und Vorschläge einbringen. Die Nominierung oder Auswahl erfolgt aber nicht nach der Häufigkeit der einzeln eingebrachten Vorschläge, sondern durch eine Jury. Welche Kriterien spielen dabei eine Rolle?

Das erste Kriterium ist die Frage: „Ist es ein Unwort im sprachwissenschaftlichen Sinn?“ Diese Frage wird von Professor Martin Wengeler, Sprachwissenschaftler an der Universität Trier, mit seinen Kolleginnen in einer Vorauswahl geprüft.

Nehmen Sie das häufig eingesendete Wort „Willkommenskultur“. Das ist per se noch kein Unwort, weil es mit dem, was damit gemeint ist, durchaus übereinstimmt. Auch wenn es in einer Weise verwendet wird, die bestimmte Menschen stört. Es werden häufig Wörter eingesendet, die zwar treffend sind, aber etwas bezeichnen, das den Menschen nicht gefällt.

Die zweite Frage ist: „Entspricht das Wort einem der Kriterien Verstoß gegen die Menschenwürde oder Demokratie? Äußern sich darin Diskriminierung oder Irreführung?“ Und da entwickeln sich dann Favoriten. Wir haben verschiedene Listen, auf denen wir eine Vorauswahl vorliegen haben. Aber wohlgemerkt: Alle Wörter sind drin in den Listen, sie sind nur klassifiziert.

Dann setzt sich die Jury zusammen. In einer meistens drei- bis vierstündigen Sitzung bringt jeder seine Favoriten mit und darüber findet dann eine oft angenehm streitige und ausführliche Diskussion statt.

"Wort des Jahres" und "Unwort des Jahres"

"Wort des Jahres": Erstmals 1971 und seit 1977 regelmäßig kürt die Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS) "Wörter und Wendungen, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich in besonderer Weise bestimmt haben". Am 11. Dezember 2015 gab die GfdS das Wort des Jahres 2015 bekannt. "Flüchtlinge" war demnach das bestimmende Wort des vergangenen Jahres.

"Unwort des Jahres": Seit 1991 wird das "Unwort des Jahres" gekürt, zunächst ebenfalls durch die GfdS, seit 1994 durch eine institutionell unabhängige Jury. Diese besteht aus vier Sprachwissenschaftlern, einem Journalisten sowie zusätzlich einem wechselnden Vertreter der Öffentlichkeit. Den Begriff "Unwort" gibt es übrigens schon länger – er findet sich bereits im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm.

Manche Begriffe werden erst durch den jeweiligen Kontext, in dem sie geäußert werden, zu Unwörtern. Sprachkritik in diesem Sinne ist Sprecherkritik, wie Professor Horst Dieter Schlosser, der Initiator der Aktion, es formulierte.

Ich finde die Formulierung recht treffend. Zunächst einmal soll es aber Sprachkritik im engeren Sinne sein, weil wir zeigen wollen, wie der Umgang mit Sprache funktionieren kann. Sprecherkritik wird es dadurch, dass wir hoffen, in die Techniken der öffentlichen Sprache ein bisschen mehr Transparenz zu bringen und damit auch in die Interessen und Motive, aus denen heraus diese Techniken des öffentlichen Sprechens angewendet werden.

Ist die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ mehr eine moralische oder eine eher politische Aktion?

 Zuallererst ist es eine sprachkritische Aktion. Ich habe vom öffentlichen Sprechen geredet und nicht nur von der Politik. Und das ganz bewusst, weil mir politisch viel zu eng wäre.

Wir wollen zeigen, wie im gesellschaftlichen Bereich insgesamt Sprache benutzt und auch missbraucht werden kann, um bestimmte Botschaften zu transportieren. Dass es damit natürlich sehr häufig auch zu einer politischen Kritik wird, liegt auf der Hand. Aber es ist keine Kritik an bestimmten politischen Haltungen, sondern an einer bestimmten Form, in der Politik zu sprechen. Vom Motiv und vom Ansatz her ist es kein politisches Projekt.

 Welche Differenzen oder auch Gemeinsamkeiten gibt es zur „Political Correctness“?

Fast hätte ich gesagt: schönes Unwort. Wenn, dann ist es eine Art „Speakers Correctness“. „Political Correctness“ unterstellt ja, dass über bestimmte Inhalte – politische Inhalte – Tabus verhängt würden. Und genau das tun wir nicht. Wir reden nur über eine bestimmte Form, Inhalte zu vermitteln.

Ich kenne diesen Vorwurf. Und wann immer ein Unwort gekürt wird, das einer bestimmten politischen Richtung oder einer bestimmten Denkrichtung nicht in den Kram passt, kommt der Vorwurf der „Political Correctness“. Aber unser Motiv ist das keineswegs.

Kritiker der „Political Correctness“ geben zu bedenken, dass das Nichtverwenden eines unkorrekten Wortes den dahinter stehenden Sachverhalt noch lange nicht aus der Welt schafft. Zum Beispiel bleibt Rassismus in einer Gesellschaft bestehen, auch wenn nicht mehr „Neger“ oder „Zigeuner“ gesagt werden darf. Was ist dran an dieser Kritik? Und sehen Sie dieses Problem auch im Hinblick auf das „Unwort des Jahres“?

Die Aktion „Unwort des Jahres“ ist das Gegenteil eines Versuchs, die Verwendung bestimmter Wörter zu verbieten. Was wir wollen ist, bei öffentlichen Sprechern – und dazu gehören auch Journalisten – ein Bewusstsein für die Frage zu schaffen: „Mit welchen Begriffen bezeichne ich einen Sachverhalt angemessen und nicht diskriminierend?“

Ich halte es für überhaupt nicht hilfreich, den Rassismus dadurch zu bekämpfen, dass man das Wort „Neger“ aus Kinderbüchern entfernt. Das sind historisch-künstlerische Dokumente. Wir müssen uns vielmehr die Frage stellen, was ist heute – zum Beispiel im Zusammenhang mit Rassismus und Nicht-Rassismus – die richtige Sprechweise, von der sich bestimmte Gesellschaftsgruppen nicht diskriminiert fühlen müssen. Das ist ein Bestandteil von Demokratie und hat mit Verboten nichts zu tun.

Worauf sollten (Fach-)Journalisten bei der Verwendung von Begriffen im Redaktionsalltag achten? Anders gefragt: Woran erkennt man ein Unwort?

Was ich am allerwichtigsten finde ist, dass Journalisten diese eine Runde der Reflexion über die Frage drehen: „Übernehme ich da eine Sprechweise, die womöglich meinen eigenen ethischen, politischen und journalistischen Kriterien nicht entspricht?“

Wenn ich etwa das Gefühl habe, dass das Wort „ethnische Säuberung“ ein Unding ist, dann muss ich mir darüber auch Rechenschaft ablegen. Dann darf ich nicht in der Eile ein solches Wort einfach mitschreiben, weil es von bestimmten politischen Sprechern benutzt wird. Das Einzige, was hilft, ist die Reflexionsschleife im Sprachgebrauch.

Haben Sie das Gefühl, dass die allgemeine Sprachsensibilität durch den fortschreitenden Medienwandel, insbesondere die Digitalisierung, abnimmt?

Ich bin kein Kulturpessimist. Auch nicht, was neue Medien betrifft. Ich glaube allerdings, dass manches, was wir in den sogenannten sozialen Medien erleben, zeigt, wie wichtig der professionelle Journalismus ist. Gerade deshalb, weil er zumindest den Anspruch und die Aufgabe hat, auch seinen Sprachgebrauch zu reflektieren.

Was mir in vielen Internetforen auffällt, ist, dass diese Reflexionsschleife in Momenten von Wut und Ärger und vielleicht euphorischem Überschwang einer bestimmten politischen Botschaft nicht durchlaufen wird, sodass tatsächlich eine unreflektiertere Sprache häufiger geworden ist. Allerdings zeigt es, dass es mediale Instanzen geben muss, bei denen man das Vertrauen haben kann, dass sie eine reflektierte Sprache sprechen. Da haben wir Medien noch viel zu tun.

Herr Hebel, vielen Dank für das Gespräch.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Foto: Alex Kraus

Foto: Alex Kraus

Stephan Hebel ist freier Journalist und Publizist. Fast 30 Jahre lang war er als Redakteur der „Frankfurter Rundschau“ (FR) tätig. Er schreibt u. a. für die FR, „Der Freitag“ und „Deutschlandradio Kultur“. Darüber hinaus ist der studierte Germanist Hebel seit 2011 ständiges Jurymitglied der sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“.

Kommentare sind geschlossen.