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Das endgültige Medium? Über das Potenzial von Virtual Reality für den Journalismus

Virtual Reality ist derzeit in aller Munde. Auch im Journalismus experimentieren immer mehr Medien mit der virtuellen Realität. Doch wird sich Virtual-Reality-Journalismus tatsächlich durchsetzen? Eine Einschätzung von Experte Lorenz Matzat.

Diesmal scheint es wirklich so weit: Virtual Reality (VR) als Medium ist gekommen, um zu bleiben. Die dafür notwendigen Head-Mounted-Displays (HMD) zeigen im Abstand von wenigen Zentimetern zu den Augen, vergrößert durch Linsen, für jedes Auge ein eigenes Bild. So können sie stereoskopisch – also in 3D – Szenarien liefern. Salopp gesagt: Bei diesen Displaybrillen handelt es sich um Kopfhörer für die Augen.

Die HMD füllen das Gesichtsfeld nahezu komplett aus. Bewegungssensoren erkennen die Kopfdrehung und bei manchen Geräten auch die Kopfneigung. Dies funktioniert mittlerweile mit einer so niedrigen Latenzzeit (Verzögerung), dass eines der großen Probleme beim Einsatz von VR zumindest reduziert wurde: ein Unwohlsein beim Betrachter, das der Seekrankheit ähnelt. Auf diese Weise kommt man dem Heiligen Gral der VR bereits recht nahe: dem Eindruck einer „Präsenz“. Dem Träger des HMD wird glaubhaft vermittelt, sich an einem anderen Ort aufzuhalten. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass Personen, die sich beim Nutzen von VR unterhalten, nicht fragen: „Was siehst Du?“, sondern: „Wo bist Du?“.

Fundamental räumlich

So eröffnet sich für Medienproduzenten ein mächtiges Instrument: Da die menschliche Wahrnehmung fundamental mit dem Konzept der Räumlichkeit verbunden ist, birgt ein Medium, das erlaubt, Personen bei niedrigen Kosten und risikofrei an alle möglichen tatsächlichen und fiktiven Orte zu „versetzen“, enormes Potenzial. Laut einer Studie der Investmentbank Goldman Sachs könnte VR im Jahr 2025 einen Markt von 80 Milliarden Dollar ausmachen. Demnach lägen die Geschäftsfelder neben dem Videospiel- und Unterhaltungsmarkt vor allem in den Bereichen Gesundheit und Ingenieurswesen.

Facebook, das 2014 mit einem Investment von zwei Milliarden US-Dollar in das VR-Start-up Oculus die Aufregung um Virtual Reality überhaupt erst in Gang setzte, hegt langfristige Pläne, träumt von sozialen Erlebnissen in virtuellen Räumen. Abgesehen davon fließt derzeit viel Geld  – neben dem Computerspielbereich und der Filmindustrie – in den Einsatz von VR als Marketing- und Verkaufsinstrument: Immobilien „betreten“, Hotelzimmer und Tourismusziele im Vorhinein „besuchen“, sich in Autos „setzen“, Möbel von allen Seiten maßstabsgetreu in ihrer Wirkung betrachten (die Bilder im Ikea-Katalog sind schon heute zum Großteil Computergrafiken). Wenig verwunderlich ist auch, dass die Pornoindustrie großes Interesse an VR zeigt; sie war schon immer ein Technologietreiber und auch an ihr dürfte es liegen, ob sich VR wirklich durchsetzt.

Darüber hinaus ist VR für den (Aus-)Bildungsbereich interessant: Google bietet bereits ein „Expeditions“-Programm an, mit dem sich Schüler etwa zur Großen Mauer in China bewegen können. Auch liegen Schulungen zu Arbeitsabläufen und -umgebungen auf der Hand. So setzt die NASA auf der Internationalen Raumstation ISS die noch in Entwicklung befindliche HoloLens-Brille von Microsoft ein. Bei dieser Technologie handelt es sich allerdings um den engen Verwandten von VR: Augmented Reality (AR). Dabei werden in die reale Umgebung mittels einer Brille mit einem transparenten Display (bzw. per Projektion direkt auf den Augapfel) Informationen eingeblendet. Werden darüber hinaus virtuelle Szenarien und Gegenstände eingeblendet, wird dies „Mixed Reality“ genannt.

Einsatz im Journalismus

Nähern wir uns Anwendungsmöglichkeiten von VR im Journalismus: Interessant wären etwa Konzertmitschnitte, bei denen sich der Betrachter neben den Musikern auf der Bühne wähnt, oder Sportübertragungen mit Sitz direkt am Spielfeldrand. Das sind die Gebiete, die als erstes „normal“ werden dürften – eine Weiterentwicklung des klassischen Fernsehens. Der Blick aus der Perspektive des Formel-1-Fahrers per Kamera ist längst etabliert – nun stelle man sich eben vor, man könne aus dieser Perspektive frei und selbstbestimmt umherschauen.

Hier ist es an der Zeit, über zwei grundlegend unterschiedliche VR-Konzepte zu sprechen: Es gibt zum einen filmische VR, also Aufnahmen mit 360-Grad-Kamerasystemen, im Idealfall sogar in 3D. Diese sind für den Journalismus interessant. Zum anderen gibt es die „echte“ VR, die im Computer erzeugt wird – dazu später.

360-Grad-Aufnahmen sind verhältnismäßig einfach zu produzieren. Neben dem Kamerasystem, das aus bis zu zwei Dutzend Kameras bzw. Linsen bestehen kann, wird Software benötigt, die in der Lage ist, das Bildmaterial zusammenzufügen („stitching“). Bei diesen Aufnahmen ist es möglich – auch ohne HDM –, am Bildschirm per Maus den Blickwinkel zu bestimmen, aus dem man den Film betrachten möchte. Eine weitere große Herausforderung bei VR-Filmen: Bei 360-Grad-Aufnahmen gibt es kein „hinter der Kamera“ mehr. Und nicht vergessen werden dürfen die Aufnahme und die Wiedergabe des Tons, der für die Glaubwürdigkeit, für das Erzeugen der „Präsenz“, ebenfalls bedeutsam ist.

Derzeit erscheint das meiste, was unter VR-Journalismus fallen mag, auf diese Weise. Sowohl Facebook als auch Youtube können solche Filme auch klassisch im Webbrowser darstellen.

Beispiel für 360-Grad-Video auf Youtube:

In der Regel wird derzeit noch nicht in 3D gefilmt. Denn dies ist nochmal aufwendiger: Es verlangt die doppelte Anzahl an Kameras, leistungsfähigere Soft- und Hardware bis hin zu einer entsprechenden Veröffentlichungsplattform.

Die „New York Times“ setzt seit einiger Zeit auf Reportagen und Dokumentarfilme in VR. In Europa ist der öffentlich-rechtliche Sender „Arte“ Vorreiter mit einer eigens entwickelten App. Wie sich 360-Grad-Filmaufnahmen im tagesaktuellen Journalismus einsetzen lassen, zeigte neulich ein Reporter der „Bild“-Zeitung: Er filmte an der Front in Syrien in 360 Grad mit einer Kamera auf einem Selfie-Stick.

Die andere Schiene, in der im eigentlichen Wortsinn virtuelle Realitäten erzeugt werden, ist die computergenerierte Grafik (Computer-Generated Imagery, CGI). Durch Computerspiel- und Filmindustrie steht hier leistungsfähige Software bereit – manche davon in ihrer Basisversion kostenfrei. Die sogenannten Spiel-Engines sind auf Interaktion und nicht-lineares Erzählen ausgelegt.

So setzt die Pionierin im Bereich des VR-Journalismus oder „Immersive Journalism“, wie sie es selbst nennt, Nonny de la Peña, auf eine Mischung aus Film und Computergrafik. Die US-Amerikanerin forscht seit einigen Jahren in dem Bereich und setzte zum Beispiel „Project Syria“ um: Es beginnt mit einer Realfilmaufnahme aus Aleppo in Syrien, in der in einer Straßenszene die Aufnahme eines echten Bombenanschlags zu sehen ist. Als sich der Rauch legt, befindet sich der Betrachter in einer computergenerierten Umgebung – mitten in dem zerstörten Straßenzug – und hört die realen Audioaufnahmen unmittelbar nach dem Anschlag. Solche Werke verdeutlichen eindrücklich, warum VR auch als „Empathiemaschine“ bezeichnet wird.

VR kann aber auch als Zeitmaschine fungieren: Das zeigt Apollo 11 VR, bei dem man den Flug zum Mond und die Landung auf ihm miterleben kann. Genauso erlaubt VR den Zugang zu anderen Orten, die für die meisten unerreichbar sind – etwa den Gipfel des höchsten Berges der Welt, dessen Besteigung Everest VR ermöglichen möchte:

Hier zeigt sich das Potenzial für den Fachjournalismus. Fachjournalisten können den „Leser“ mitnehmen: in Blutgefäße, tiefer als jedes Mikroskop hin zu Molekülen, mit zu geplanten Mars-Stationen, auf die Oberflächen von Asteroiden, hinein in Brennstoffkammern von Motoren, in Fahrerhäuser neuer Baumaschinen, zur Erkundung noch nicht errichteter Gebäude. Dank Computergrafik sind hier nahezu keine Grenzen gesetzt, um Gerätschaften, Mechanismen, Verfahrensweisen und Planungen zu verdeutlichen und näherzubringen.

Doch der Produktionsaufwand und die Kosten, nicht zuletzt durch die dafür benötigen Spezialisten, sind hoch. Immerhin lassen sich die meisten auf Computergrafik basierenden VR-Projekte auch als Video und interaktive 2D-Version veröffentlichen. Das heißt: Auch ohne entsprechende VR-Geräte kann solch ein Werk viele Rezipienten erreichen – und sich so amortisieren.

Der Einstieg: aus Pappe

Bevor VR im Journalismus alltäglich wird, müssen die entsprechenden Werkzeuge zugänglich sein. Einige sind bereits vorhanden, andere entstehen gerade oder sind in der Entwicklung. So wurde für die Spiel-Engine Unity, die direkt die Entwicklung der VR unterstützt, unlängst der Editor „Carte Blanche“ angekündigt. In dem VR-Editor, der 2017 erscheinen soll, baut man das Szenario direkt in VR – das WYSISYG-(what-you-see-is-what-you-get )Verfahren wird übertragen auf den 3D-Raum. Ähnliches soll es demnächst für die weit verbreitete Software Unreal 4 geben. Einen anderen Ansatz verfolgt die Mozilla-Stiftung: Aframe ist eine Programmiersprache, die erlaubt – ähnlich HTML – direkt im 3D-Raum Objekte zu erzeugen.

Doch die bedeutendste Hürde für den Erfolg bleibt die Frage, wie viele Nutzer überhaupt Geräte haben werden, um VR zu konsumieren. Tatsächlich sind die Angebote von Oculus (Facebook) und HTC, die in den nächsten Monaten auf den Markt kommen sollen, zuerst auf die Zielgruppe der so genannten Hardcore-Gamer zugeschnitten: Neben der Displaybrille von Oculus für 700 Euro wird ein leistungsfähiger PC benötigt, der mindestens mit 800 Euro zu Buche schlägt. Günstiger wird wahrscheinlich die VR-Brille für die Playstation, mit deren Verkauf Sony demnächst beginnen will.

Praktischerweise gibt es aber das Cardboard-Prinzip: Ein Gestell aus Pappe, das durch das Einfügen eines Smartphones zum HMD wird, sorgt dafür, dass VR auch jetzt schon sein Publikum findet (die „New York Times“ legte unlängst 1,3 Millionen solcher Papp-Bausätze ihrer Druckausgabe bei). Smartphones, die nicht älter als zwei, drei Jahre sind, bringen die notwendigen Bewegungssensoren, Prozessorgeschwindigkeit und Bildschirmauflösung mit, um zumindest erste Schritte im VR-Bereich zu unternehmen. Samsung hat für seine Galaxy-Reihe mit Gear VR eine Halterung herausgebracht, die zusätzliche Sensoren enthält. Google, so heißt es, will ebenfalls eine solche Halterung auf den Markt bringen und auch Apple, so wird gemunkelt, arbeitet an etwas in diesem Bereich. (Wer es selbst ausprobieren möchte: Googles Cardboard App gibt es für Android und iOS).

Ausblick: das endgültige Medium?

Das Faszinierende am Thema VR ist, dass derzeit ein neues Medium zu Entstehen scheint. Eines, das auch Journalisten viele noch unbekannte Möglichkeiten bietet. Zurzeit befindet sich VR in der Pionierphase – und vielleicht erleben wir nur einen weiteren unberechtigten Hype. Doch es deutet einiges darauf hin, dass mit VR das mächtigste und endgültige Medium kommt. Es ließe sich debattieren, ob VR überhaupt noch ein Medium ist – wenn kein Bildschirmrand mehr erkennbar ist und man völlig vom Inhalt umgeben ist, kann man dann überhaupt noch von einem Mittler sprechen? Jedenfalls ist klar: Viel weiter lässt es sich nicht mehr an den Sehnerv heranrücken.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Lorenz MatzatDer Autor Lorenz Matzat ist Softwareunternehmer und Journalist in Berlin. Er arbeitet derzeit an einem VR-Journalismusprojekt zum geplanten Autobahnausbau der A 100 in der Hauptstadt. Zudem bloggt er auf http://vrjournalist.de.

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