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Das Projekt „Wahlzone“ – künstliche Intelligenz in der politischen Berichterstattung

Über die A 9 sind es 6 Stunden, 56 Minuten – und das ohne Stau und ohne Baustellen. Es sind nicht die 721 Kilometer, die das politische Berlin von Bad Reichenhall trennen. Es ist die gefühlte Distanz, die zwischen dem Alltag der Kleinstadt in Deutschlands äußerstem Südosten mit seinen etwas über 17.000 Einwohnern und der politischen Elite der Bundeshauptstadt besteht. Hier, vor den Bergen Berchtesgadens, ticken die Uhren anders und der Berliner Bundestag ist eine weite Reise entfernt. So fragt man sich: Welche Nachricht schafft es überhaupt auf den Frühstückstisch? Welche Entscheidung im Bundestag hat Relevanz für das Leben in der Nachbarschaft? Und welchen Beitrag kann Künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence, AI) leisten? Antworten auf diese Fragen will das Projekt „Wahlzone“ geben, das im Folgenden vorgestellt wird.

Im Kooperationsprojekt „Wahlzone“ haben sich der MDR Sachsen und Liquid Newsroom zusammengefunden, um sich dem Thema Nachrichtenrelevanz am Beispiel von Sachsen zu stellen. Von Ende August bis zum 24. September 2017 geht es um die Fragen: Was bewegt Menschen wirklich? Und: Haben das Berlin der Politiker und die deutsche Medienlandschaft eine Parallelgesellschaft entstehen lassen, die sich ihre eigene Agenda setzt und nichts mehr mit unserer alltäglichen Wirklichkeit zu tun hat? Die beiden Partner übernehmen in dem Projekt spezifische Rollen: Der MDR Sachsen wird sich auf Basis seiner Regionalkompetenz um die Entwicklung neuer Erzählformate kümmern. Liquid Newsroom ist neben der technologischen Plattform zur Verbreitung von Nachrichten vor allem Entwicklungsabteilung und bringt damit das Know-how im Bereich von AI, Natural Language Processing und Social Graph Analytics mit in das Gemeinschaftsprojekt ein.

Ende August gestartet, gehen bis zu 20 Journalisten diesen und weiteren Fragen nach. Sie fahren zum Beispiel nach Mittweida und in andere sächsische Städte und Regionen, um den Menschen zuzuhören. Bis zum Urnengang am 24. September geht es neben Experimenten mit neuen Artikelformaten im Regionaljournalismus auch um die Frage, wie künstliche Intelligenz und Social-Graph-Analyse genutzt werden können, um eine neue Dimension in der Berichterstattung einzuführen, und so vielleicht auch unerwartete Antworten im Rahmen des politischen Journalismus zu liefern.

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Abbildung 1: Liquid Newsroom – Beispiel für AI-Analyse: Themen rund um „Innere Sicherheit“ im Zeitverlauf, 2017

 

Konkret geht es um Fragen wie: Welche Themen werden durch die Medien gesetzt und was wird wirklich in der Gesellschaft diskutiert? Gibt es Berichterstattungsfehler (Medienbias), die dazu führen, dass „falsche“ Themen höher gewichtet, eigentliche Themen aus Sicht der Zielgruppe jedoch nicht erkannt werden? Sind Diskussionen in den sozialen Medien nur große Echoblasen, in denen einige wenige einen Diskurs führen, ihn bestimmen und relevant erscheinen lassen, der in Wirklichkeit bei Weitem nicht die Bedeutung hat, die die Berichterstattung vermuten lässt? Mit welchen Themen sind Politiker verbunden und wie werden sie in diesen Themenräumen wahrgenommen?

Artificial Intelligence (AI)

Im Rahmen des Projekts „Wahlzone“ setzen wir Sprachverarbeitung (Natural Language Processing) ein, um große Mengen von Inhalten – die als Artikel, Blogpost, Videobeitrag, Tweet und in anderen Formaten vorliegen – zu kategorisieren und zu strukturieren, um diese Daten auswertbar zu machen. Die Maschine muss Texte „verstehen“ lernen, damit komplexere Fragen, die über Wortsuchen hinausgehen, beantwortet werden können, etwa: Welche Parteien werden mit „Innerer Sicherheit“ in Verbindung gebracht (siehe Abb. 2) – und ist die Verbindung eher positiv, neutral oder negativ? Oder: Wie wird „Sachsen“ in der Medienberichterstattung wahrgenommen: Wird das Bundesland überwiegend mit Pegida assoziiert? Oder sind es andere Themen, die die Medienberichterstattung prägen – und wenn ja: in welchem Umfang?

Für die letztere Frage ergibt die Betrachtung des Zeitraums von Anfang des Jahres bis Ende August 2017 bereits über 230.000 Dokumente, die natürlich nicht persönlich durchgelesen und händisch erschlossen werden können. Dieser Prozess wäre zu teuer und sehr zeitaufwendig. Hier helfen die Methoden der AI, durch Verfahren der Sprachanalyse Datenmengen in Millisekunden zu strukturieren und für tiefere Analysen aufzubereiten. Vermutete man noch, beruhend auf dem Bauchgefühl, dass das eine oder andere Thema Bedeutung hat, erlaubt diese Form der technikgestützten inhaltlichen Analyse in Kombination mit der Auszählung der Häufigkeit von Themen, die subjektiven Thesen objektiv zu überprüfen.

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Abbildung 2: LIQUID NEWSROOM – Welche Themen werden mit „Innerer Sicherheit“ in Verbindung gebracht? Daten: 2017

 

Der Einsatz von AI erlaubt, auch versteckte kausale Zusammenhänge aufzudecken. Gibt es beispielsweise einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Wahlverhalten? Kombiniert man strukturierte Daten – wie Zahlen aus der Bundesstatistik – mit unstrukturierten Daten – dazu gehören Artikel –, könnten Zusammenhänge zwischen demografischen Merkmalen und bestimmten Themen aufgedeckt werden.

Social Graph Analytics (SGA)

Eines der interessantesten Forschungsgebiete ist die Theorie der Netzwerke. Die dabei betrachteten Verbindungen zwischen Personen und Gruppen können über sogenannte soziale Graphen visualisiert, analysiert und beschrieben werden.

Im Projekt „Wahlzone“ geht es hier weniger um die Beschreibung formaler Verbindungen zwischen zum Beispiel Politikern, Institutionen und anderen Akteuren. Es geht um die Interaktion untereinander. Wer wird am häufigsten erwähnt – und lässt sich daraus die Bedeutung einer Person im Kontext eines konkreten Themas ableiten? Wer verteilt die Informationen und wie sehen typische Verbreitungswege aus? Ist das Thema nur eine Echokammer der immer gleichen Ansichten oder findet ein Diskurs mit unterschiedlichsten Perspektiven statt? Gibt es Barrieren, sprich: Handelt es sich um einen Kreis von Personen, der von anderen Gruppen getrennt ist („Tribes“ oder „Communitys“)? Gibt es Übergänge zwischen gesellschaftlichen Gruppen? Wenn ja: Wer sitzt an dieser Stelle und übernimmt die Rolle als Bindeglied („Hub“) zwischen zwei getrennten Kleingesellschaften? Dazu gehört zum Beispiel auch die Frage, ob die AfD erst durch die Medien gesellschaftlich relevant wurde oder ob es andere Dynamiken gibt – respektive, ob die Partei relevante gesellschaftliche Bedeutung erlangt hat, erlangen kann oder ob es keine Übergänge zur breiteren Masse gibt.

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Abbildung 3: Liquid Newsroom – Social Graph Analytics am Beispiel der Diskussion rund um AfD (23.499 Knoten, 81.846 Edges, directed Graph, Indigree-Filter: 90 – gefiltert: Knoten: 243 (1,03 % sichtbar), Edges: 5.001 (6,11 % sichtbar) – Daten 2017

 

Datenperspektive

Die Informationen, die wir aus Google-Trends-Daten, die konkrete Nachfrage visualisieren, aus AI-Daten bei der Themenanalyse oder aus Social-Graph-Analysen gewinnen, stellen wir den Ergebnissen der Recherchen der bis zu 20 Journalisten gegenüber, um die erwähnten Lücken in der Berichterstattung zu finden und zu schließen oder um den Artikeln eine weitere objektive Perspektive hinzuzufügen.

Ziel ist, mithilfe von AI ein Methodenspektrum zu entwickeln, das weit über den 24. September hinaus verwendet werden kann. Die im Rahmen des Projekts „Wahlzone“ entwickelten Methoden stehen damit der politischen journalistischen Berichterstattung auch künftig zur Verfügung und werden Teil eines größeren neuronalen Netzwerkmodells, mit dessen Hilfe die Beantwortung komplexerer kausaler Fragen möglich sein wird.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Steffen KonrathDer Autor Steffen Konrath ist Gründer und Geschäftsführer von Liquid Newsroom, einem Anbieter einer webbasierten Plattform zur schnellen Verbreitung von Nachrichten im Echtzeitweb und zur Nutzung im Rahmen von Content Marketing. Er blickt auf  Managementstationen bei Medialab, Icon Medialab, Tiscover und dem Süddeutschen Verlag zurück. Der Fokus seiner derzeitigen Tätigkeit liegt auf der Entwicklung und Bewertung neuer journalistischer Werkzeuge, der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und der Bewertung von Innovationen in den Medien. Steffen Konrath ist Mitglied im Fachbeirat des DFJV.

 

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