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Der behinderte Mensch – das defizitäre Wesen?

Zur Berichterstattung über Menschen mit Behinderung

„Barfuß oder Lackschuh“ sang einst Harald Juhnke. Sicher hatte er mit diesem Lied in keiner Weise an die Berichterstattung über Menschen mit Behinderung gedacht. Und doch hat er sie mit diesen drei Worten auf den Punkt gebracht. Wie man fair und sachlich über Menschen mit Behinderung berichtet, erläutert Siegurd Seifert, Chefredakteur der Berliner Behindertenzeitung.

„Barfuß oder Lackschuh“: Über Menschen mit Behinderung wird entweder aus der Leidensperspektive oder in Form der Heldendarstellung berichtet. Auf jeden Fall wird der behinderte Mensch immer auf seine Defizite reduziert. Formulierungen wie „an den Rollstuhl gefesselt“, „sie genießt das Leben trotz ihres Schicksals“ oder „er leidet an der Glasknochenkrankheit“ sind in den Medien so verbreitet wie Vogelmiere im Schrebergarten.

Berichterstattung über Exoten?

Dabei scheint es gar nicht so schwierig zu sein, über Menschen mit Behinderungen zu schreiben. Doch allein diese Formulierung stellt sie bereits wieder als Wesen außerhalb der Gesellschaft dar, als Exoten, die eine ganz besondere berichtenswerte Leistung vollbringen: Sie leiden und meistern dennoch ihr Leben. Sie werden ganz bewusst auf ein Defizit reduziert und daraus entsteht die Geschichte, im Guten wie im Bösen. Der Fehler in der Berichterstattung liegt in dieser Reduzierung.

Ein Paradigmenwechsel …

1981 rief die UNO als das „Internationale Jahr der Behinderten“ aus. 2003 wurde das „Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung“ ausgerufen. Hinter dieser Änderung der Terminologie steht ein Paradigmenwechsel. Behinderte sollen als Menschen wahrgenommen werden und nicht als Exoten.

Sendungen im privaten Fernsehen, die behinderte Menschen dem Voyeurismus der Zuschauer preisgeben wollen, haben glücklicherweise nicht mehr den Zuspruch wie noch vor einigen Jahren. Das mag an dem geänderten gesellschaftlichen Bewusstsein liegen, aber sicher auch am selbstbewussten Auftreten der Menschen mit Behinderung und ihrer Interessenvertretungen.

Denn sie formulieren ihre Meinung mittlerweile lautstark und bringen sie öffentlichkeitswirksam an die Frau oder den Mann.

… und die Reaktion der Medien

Bei den Bemühungen um gesellschaftliche Anerkennung und ihrem Kampf gegen gesellschaftliche Ausgrenzung wäre eine faire und sachliche Berichterstattung – vor allem außerhalb ihrer eigenen Medien – sehr hilfreich. Die Wirklichkeit sieht oft anders aus.

Es gibt Formate wie „selbstbestimmt!“ im MDR, die aber eine Sendung von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung ist. Im normalen Sendeablauf tauchen sie eher seltener auf.

Bundeskanzleramt

Demonstration im Berliner Regierungsviertel anlässlich des Europäischen Protesttags für die Rechte behinderter Menschen (Foto: Florian Griep)

Jedes Jahr am 5. Mai wird deutschlandweit der „Europäische Protesttag für die Rechte behinderter Menschen“ durchgeführt. Auch in diesem Jahr fand eine von einem Aktionsbündnis organisierte Demonstration vom Kanzleramt zum Brandenburger Tor statt. Kurz vor dem Ziel wurde auf der Straße eine Mauer der Vorurteile aufgebaut: eine Mauer aus Kartons, auf denen viele Vorurteile aufgeführt waren, mit denen sich Menschen mit Behinderung den lieben langen Tag herumplagen müssen. Medienwirksam wurde diese Mauer von Rollstuhlfahrern eingerissen. Nur: Die Medien haben weder diese Aktion noch die Demonstration und erst recht nicht die Reden am Brandenburger Tor wahrgenommen. Der RBB berichtete beispielsweise stattdessen in seiner Abendschau über eine Veranstaltung zum gleichen Thema am Rathaus Lichtenberg, die aber mehr Volksfestcharakter hatte und bei Weitem nicht von dieser politischen Tragweite war, wie die zentrale Veranstaltung am Brandenburger Tor.

"Mauer der Vorurteile" (Foto: Siegurd Seifert)

„Mauer der Vorurteile“ (Foto: Siegurd Seifert)

Janusköpfiger Journalismus?

Journalisten suchen im alltäglichen Leben das Außergewöhnliche. Sie suchen immer das Besondere, das Berichtenswerte. Sie bauen Spannungsbögen auf, versuchen, in ihren Geschichten eine gewisse Dramatik zu entwickeln. Das funktioniert wunderbar bei einem Porträt oder einer Reportage über Ereignisse, die alle interessieren.

Der Journalist sucht sich seinen Protagonisten, führt ein oder zwei Gespräche mit ihr oder ihm. Im günstigen Fall begleitet er die Person eine gewisse Zeit und taucht ein in die für ihn fremde Welt. Oft sind psychologische Kenntnisse gefordert, um das Gesehene richtig bewerten zu können. Leser können so durch diesen Artikel einen Bereich der Welt kennenlernen, den sie nie betreten hätten, ja gar nicht betreten könnten. Wie sollte man vom Leben der Menschen in Syrien erfahren oder in die Welt eines Obdachlosen eintauchen, wenn der Bericht, die Reportage uns das nicht vermittelt.

Das Gleiche trifft auf Berichte über Menschen mit Behinderung zu. Da ist aber die Sichtweise der Leser, Zuschauer und Zuhörer oft eine ganz andere als die der behinderten Menschen. Peter Radtke, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft „Behinderung und Medien“, gehört seit 2003 zunächst dem Nationalen, später dem Deutschen Ethikrat an. Er ist Schauspieler und Schriftsteller. Er ist selbst behindert und benutzt einen Rollstuhl. In einer Untersuchung zum Thema kommt er zu folgendem Schluss:

„Tatsächlich … steckt der nichtbehinderte Journalist nicht in der Haut des Menschen mit Behinderung. Folglich trifft auch seine Schlussfolgerung nur in den seltensten Fällen zu. Nachdem auch die Leser, Radiohörer oder Fernsehteilnehmer in der Regel nichtbehindert sind, halten sie die Projektion des Außenstehenden für durchaus nachvollziehbar und machen sie sich für Menschenbild von Personen mit Behinderungen zu eigen. Hieraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass die Berichterstattung zu Behindertenthemen mitunter eher den Vorstellungen der Nichtbetroffenen vom Alltag behinderter Menschen entspricht als der tatsächlichen Situation.“ (www.bpb.de/apuz/27790/zum-bild-behinderter-menschen-in-den-medien)

Perspektivenwechsel

Sollten nichtbehinderte Journalisten in Zukunft also die Finger von Behindertenthemen lassen oder einfach nicht über Menschen mit Behinderungen schreiben? Das wäre wohl der falscheste Weg. Wenn man Inklusion nicht auf den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern beschränkt, sondern darunter die Auflösung von Trennwänden zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen versteht, dann gehören solche Themen noch viel öfter in die Medien. Aber bitte respektvoll und sachlich gut recherchiert. So viel Zeit muss sein.

Die Journalistin Rebecca Maskos richtete zusammen mit Raul Krauthausens Sozialhelden die Internetseite leidmedien.de ein. Sie soll Journalisten ein paar hilfreiche Handreichungen für die Berichterstattung über Themen behinderter Menschen geben. Beide sind selbst behindert, wissen also ganz genau und im Sinne Peter Radtkes, wovon sie sprechen. Dort wird mit einigen Phrasen aufgeräumt und es werden Alternativen angeboten.

Als ich die Seite das erste Mal sah und dort las, man solle nicht schreiben „an den Rollstuhl gefesselt“, dachte ich, das schreibt doch nun wirklich kein Mensch mehr. Bereits beim täglichen Zeitungsstudium am nächsten Morgen lief mir genau diese Phrase über den Weg. Dabei ist sie so falsch, wie es kaum falscher geht. Hätte sich der Autor einmal die Frage gestellt, was denn für den Betroffenen die Alternative zum Rollstuhl wäre, hätte er selbst darauf kommen können: Ein Mensch, der einen Rollstuhl benutzt, ist nicht an ihn gefesselt – für ihn ist er ein Instrument seiner Mobilität und damit seiner Selbstbestimmtheit.

In der eingangs zitierten „Barfuß oder Lackschuh“-Sequenz spiegelt sich die Auffassung über behinderte Menschen wieder, wie sie oft – allzu oft – in den Medien auftaucht. Tatsächlich, so Rebecca Maskos1, „sehen viele Menschen ihre Behinderung jedoch nicht als permanentes Leiden an, sondern eher als eine Lebensform, mit der sie sich arrangiert haben und die für sie eine organisatorische Herausforderung darstellt“. Diese Herausforderungen sind mangelnde oder überhaupt fehlende Barrierefreiheit und der gedankenlose Umgang mit behinderten Menschen. So drückte eine Sprechstundenhilfe bei einem Arzt einer blinden Patientin etliche Informationsschriften in die Hand mit dem Hinweis „Lesen Sie sich das mal bitte durch“. Das Thema für einen Journalisten wäre also nicht, wie diese Frau trotz ihrer Blindheit ihr Leben meistert (Heldenepos), sondern wie künstliche und unnötige Barrieren aufgebaut werden.

Grenzen des guten Geschmacks?

Vor einiger Zeit startete die Aktion Mensch eine Plakataktion zum Thema Inklusion. Auf einem der Fotos waren zwei Mädchen im Teenager-Alter zu sehen und im Hintergrund saß ein gleichaltriger Junge im Rollstuhl. Das eine Mädchen sagte zum anderen: „Darf man Jungen doof finden, auch wenn sie im Rollstuhl sitzen?“

Eine interessante Frage, finden Sie? Wenn das Individuum Mensch mit Behinderung als ebensolches Individuum wahrgenommen wird wie jedes andere auch, gelten natürlich die gleichen Regeln. Dann ist man beliebt oder unbeliebt, sympathisch oder unsympathisch.

Auf meinem Schreibtisch liegt eine kleine Broschüre mit Blindenwitzen. Ihr Titel ist „Das habe ich kommen sehen“. Sie wurde mir bei einem Empfang des Beauftragten der Bundesregierung für behinderte Menschen vom Herausgeber Dr. Thomas Nicolai überreicht. „Bitte veröffentlichen Sie die Witze auch“, gab er mir mit auf den Weg. Nicolai darf das, er ist selbst blind und war damals im Vorstand eines Blindenverbandes. Darf ich das aber auch?

Die taz veröffentlichte am 30.11.2013 eine Glosse zum Thema Blindenfußball: „Aua, huch, oh, nanu, uups, oje, hoppla, ach, seufz, o weh … Sorry, Schiri, ich dachte, Sie wären dieser verdammte Torpfosten!“

Das Portal Blindenfußball-Online schrieb am 3. Dezember daraufhin: „Ist jene Äußerung der genannten Redaktion noch von Meinungs- und Pressefreiheit gedeckt oder werden hier sowohl rechtliche Grenzen, als auch diejenigen des guten Geschmackes überschritten? Dürfen derartige Äußerungen neben dem angesprochenen Spieler auch eine gesamte Behindertensportart verunglimpfen oder sind sie einfach nur respektlos?“

Dieser Meinung schlossen sich viele Menschen mit Behinderungen und Vertreter ihrer Verbände an.

Die Seite leidmedien.de griff das Thema auf startete eine Facebook-Umfrage, ob man Witze über behinderte Menschen publizieren kann oder nicht. Eine der Meinungen war, dass Witze über behinderte Menschen nur behinderten Menschen erlaubt sein sollten. Also sollten Blondinen-Witze besser nur von Blondinen erzählt werden und die Ostfriesen erzählen sich jetzt die Witze über sich auch nur noch selbst. Hier stoße ich mit meinem inklusiven Weltbild an Grenzen.

Fazit

Auch ein Mensch mit einer wie auch immer gearteten Beeinträchtigung ist in erster Linie und vor allem ein Mensch mit sehr vielen unterschiedlichen Charaktereigenschaften. Sie oder er haben lediglich eine Eigenschaft zusätzlich: Sie oder er ist behindert. Mehr ist das aber nicht. Diese Eigenschaft hat bei dem einen mehr Gewicht, bei dem anderen weniger. So wie ein nichtbehinderter Mensch lustiger und der andere melancholischer veranlagt ist.

Kein Journalist würde seine ganze Geschichte auf dieser einen Charaktereigenschaft aufbauen. Der Protagonist wird als vielschichtiges und widersprüchliches Wesen dargestellt werden, denn daraus erwächst die Spannung.

Bei behinderten Menschen scheint diese Vielschichtigkeit verloren gegangen zu sein: Alles dreht sich um diese eine Eigenschaft und wie der Protagonist damit umgeht. Der Mensch mit Behinderung wird auf sein Defizit reduziert, es wird das, was er kann, außer Acht gelassen.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Siegurd SeifertDer Autor Siegurd Seifert ist freier Journalist in Berlin und schreibt überwiegend über Themen behinderter Menschen in Tages- und Fachzeitschriften. Er ist Chefredakteur der Berliner Behindertenzeitung und führt Workshops mit Studenten der Freien Journalistenschule Berlin durch.

 

 

  1.  Maskos, Rebecca (2015): Bewundernswert an den Rollstuhl gefesselt – Medien und Sprache in einer noch nicht inklusiven Gesellschaft, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention, S. 308-319.
Kommentare
  1. Herta Ramin sagt:

    Ein leicht erzählter und doch sehr eingängiger und bewusst machender Artikel, der Bilder und eigene Gedanken entstehen lässt, die wir nicht wieder vergessen, der unsere Wahrnehmung um eine wichtige Nuance mehr verändert. Vielen Dank für die feinen Anregungen, die hier und da verblüffen und einem achtsamen Lesen und Wahrnehmen im Alltag die Tür öffnet.
    Lieber Siegurd, es freut mich, in diesem Artikel eine wunderbare Zusammenfassung Deines sehr lebendigen und anregenden Vortrages an einem unserer Regionaltreffen zu lesen, auf dass auch ein breiter Leserkreis inspiriert werden kann.

  2. André Nowak sagt:

    Ein lesenswerter Artikel, der auch Stoff für weitere Diskussionen bietet. Schreibt man über Schäuble, dann in der Regel über seine Finanzpolitik und der Rollstuhl spielt dabei meistens keine Rolle. Schreibt man über den Protesttag am 5. Mai, dann geht es eben um behindertenpolitische Fragen, um Menschen mit Beeinträchtigungen, die deswegen diskriminiert, behindert, ausgegrenzt werden.
    Wenn also mehr Brücken zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen geschlagen werden sollen, Barrieren in den Köpfen abgebaut und fehlendes Wissen (und Fingerspitzengefühl) über die etwas andere Lebenssituation von Menschen in Folge ihrer Beeinträchtigungen (Defizite) und darauf nicht eingestellte Gesellschaft vermittelt werden soll, dann brauchen wir mehr (und bessere) Beiträge von Journalisten über Menschen mit Behinderungen. Dafür ist der Beitrag von Siegurd Seifert hilfreich. Danke!