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Teil II: Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Wirtschaftsjournalismus

Weg vom Manager als Zielgruppe, hin zum Bürger, heißt der Grundsatz eines ganzheitlichen Wirtschaftsjournalismus. Diese neue Variante umfasst sowohl ökonomische als auch soziale und ökologische Aspekte. Der Bürger wird damit als Arbeitnehmer, Steuerzahler und verantwortungsbewusster Verbraucher angesprochen.

Die Branche beginnt langsam aber sicher, ihre bisherige Philosophie in Frage zu stellen, in erster Linie für Manager und Investoren zu berichten. Dies zeigten die Diskussionen beim „13. Tag des Wirtschaftsjournalismus“ in Köln ganz deutlich. Fernsehsendungen wie der ARD-„Markencheck“ haben eine Vorreiterrolle bei neuen Formaten übernommen. Bei den Printtiteln – bisher die klassischen Leitmedien im Wirtschaftsressort – tut man sich deutlich schwerer. Doch auch dort gibt es immerhin erste Reformansätze.

Es gilt nun, diese einzelnen Fäden zusammenzuführen und daraus eine neue Herangehensweise, ein neues Konzept für den Wirtschaftsjournalismus zu modellieren. Dieses Konzept lässt sich als ganzheitlicher Wirtschaftsjournalismus bezeichnen. Ganzheitlich deshalb, weil er:

  • wirtschaftliche Vorgänge nicht isoliert betrachtet, sondern immer versucht, eine Beziehung zum Gesamtsystem Gesellschaft herzustellen;
  • sich nicht länger auf die unternehmensnahe BWL-Perspektive verengt, sondern auch ökologische und soziale Aspekte berücksichtigt und diese miteinander verbindet;
  • die Anliegen verschiedener gesellschaftlicher Anspruchsgruppen berücksichtigt und Vertreter dieser Gruppen zu Wort kommen lässt.

Im Einzelnen bedeutet dies:

  • ein neues Selbstverständnis entwickeln;
  • den Blickwinkel erweitern;
  • für die Masse der Bürger berichten;
  • auch neue und andere Quellen nutzen.

Neues Selbstverständnis

Sowohl die Wirtschaftsmedien als auch jeder einzelne Wirtschaftsjournalist sollten zunächst ihr (berufliches) Selbstverständnis grundlegend hinterfragen, indem sie sich mit zwei Thesen auseinandersetzen:

  • These 1: Die Wirtschaft bildet kein Paralleluniversum, sondern ist (im Idealfall integraler) Bestandteil der Gesellschaft.
  • These 2: Die Wirtschaft hat der Gesellschaft zu dienen – und nicht umgekehrt.

Jeder mag daraus seine individuellen Schlüsse ziehen. Wer die formulierten Thesen für richtig hält, kann aber durchaus zu der Erkenntnis gelangen, dass die gängige „BWL-Perspektive“ bei der Unternehmensberichterstattung zu eng gefasst ist. Nicht (allein) die Frage „Was ist gut für das Unternehmen?“ sollte deshalb im Vordergrund stehen, sondern im Zweifel die Frage „Was ist von Vorteil für die gesamte Volkswirtschaft?“. Aber selbst diese VWL-Perspektive ist noch zu kurz gesprungen. Die zentrale Leitfrage muss vielmehr lauten: „Was ist gut für die Gesellschaft?“

Um dies zu beantworten, müssen sich Wirtschaftsjournalisten möglicherweise auch stärker von rein ökonomischen Bewertungsmaßstäben lösen und sich noch mehr  auf den interdisziplinären Austausch einlassen, zum Beispiel mit Politikredakteuren. Ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis besteht darin, gängige Lehren und Dogmen kritisch zu hinterfragen, die zu marktliberalem Schablonendenken führen (vgl. hierzu Frühbrodt 2007, S. 19-22).

Blickwinkel deutlich erweitern

Die rein ökonomische Sicht muss um soziale und ökologische Aspekte ergänzt werden – bei der Berichterstattung, aber auch schon bei der Recherche. Was bedeutet dies konkret?

Die ökonomische Analyse besteht aus:

  • der Bewertung des Unternehmenserfolgs (Gewinn, Rentabilität etc.);
  • dem geldwerten Vorteil für Verbraucher und Anleger (Produktvergleiche, Aktiencheck etc.).

Die soziale Analyse besteht aus:

  • der Überprüfung der Unternehmenspolitik, insbesondere von Produktionsbedingungen und ihren Auswirkungen auf einzelne Anspruchsgruppen (zum Beispiel Arbeitnehmer oder Anwohner);
  • der Frage nach gesamtgesellschaftlichen Folgen (welchen Gebrauchswert haben zum Beispiel reine Designer-Produkte, die mit gigantischen Marketing-Kampagnen in den Markt gedrückt werden? Welche Auswirkungen hat dies auf das gesamtgesellschaftliche Konsumverhalten?);
  • dem Einsatz des Bewertungskriteriums Gerechtigkeit(sempfinden).

Die ökologische Analyse fragt:

  • Sind Produkte und Produktionsmethoden umweltschonend?

Sicher: Viele Wirtschaftsjournalisten haben bereits die sozialen und ökologischen Aspekte auf dem Schirm, berücksichtigen sie aber in ihrer operativen Arbeit, wenn überhaupt, nur punktuell. Die ökonomische Analyse soll und muss weiter im Mittelpunkt stehen.  Aber wer die anderen Aspekte mit einbezieht, wird bei vielen Fällen wahrscheinlich zu anderen Urteilen kommen.

Beispiel: Wenn ein deutsches Unternehmen eine Milliardeninvestition in China bekannt gibt, bewerten dies Wirtschaftsjournalisten in der Regel sehr positiv – meist ohne nach den Produktionsbedingungen vor Ort zu fragen. Dies sollte sich ändern.

Nicht nur für Manager berichten, sondern für die Bürger

Ein verändertes Selbstverständnis und erweiterte Perspektiven würden dem Wirtschaftsjournalismus sicher helfen, die gesamte Bevölkerung besser zu erreichen. Unternehmer, Manager, Investoren und Wirtschaftspolitiker bilden ohne Frage die zentrale Zielgruppe des Wirtschaftsjournalismus. Es ist und bleibt aber eine Elite.

Wirtschaftsjournalismus muss deshalb breite Gruppen der Bevölkerung ansprechen – und zwar in ihren verschiedenen Rollen: als Kleinanleger, als normale Verbraucher, aber auch als Steuerzahler oder Staatsbürger, die zum Beispiel nach den gesellschaftlichen Kosten großer Wirtschaftsprojekte wie der Energiewende fragen.

In den Umfragen der Stuttgarter Kommunikationswissenschaftlerin Claudia Mast (2012) hat die große Mehrheit der Bürger angegeben, in erster Linie „neutral und objektiv“ informiert werden zu wollen. Zugleich wünschen sich aber viele, dass Wirtschaftsjournalisten für sie die Geschehnisse in einen größeren Kontext einordnen und ihre Bedeutung erklären. Wer diese Dienstleistung erbringt, wird jedoch nolens volens immer eine subjektiv-persönliche Interpretation vornehmen. Dies spricht nicht für einen Thesen- und Tendenzjournalismus, aber für eine offen anwaltliche Rolle des Journalisten. Dabei muss aber immer Sachlichkeit gelten.

Das Spektrum an Quellen erweitern

Mit dem neuen konzeptionellen Ansatz wird sich künftig auch die Recherche von Wirtschaftsjournalisten verändern. Klasse statt Masse, Tiefe statt Breite – heißt hier die Devise. Dies wird auch Auswirkungen darauf haben, mit welchen Informanten die Journalisten sprechen.

Natürlich müssen und können sie weiterhin Vorstände, Investoren, Unternehmensberater und Analysten konsultieren. Doch um auch die sozialen und ökologischen Aspekte stärker zum Tragen kommen zu lassen, sollten sie – wo immer es passt – verstärkt zusätzliche, den traditionellen Informanten wahrscheinlich oft widersprechende Quellen befragen:

  • Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) und lokale Bürgerinitiativen;
  • Verbraucherzentralen und Verbraucher selbst (in Stichproben zum Beispiel);
  • kritische Aktionäre (und nicht allein die üblichen Lobbygruppen der Kleinanleger, die vor allem auf höhere Ausschüttungen aus sind);
  • Gewerkschaftsvertreter (als Alternative zu den Betriebsräten, die sich zumindest meist offiziell äußern dürfen);
  • Betreiber unternehmensbegleitender bzw. -kritischer Blogs.

Ausblick

Es ist absehbar, dass ein ganzheitlicher Wirtschaftsjournalismus flächendeckend nicht von heute auf morgen umsetzbar ist. Dagegen wird es zu viele institutionelle und oft auch ideologische Widerstände geben. Doch wenn der wirtschaftliche Druck vor allem auf die Printmedien zunimmt – und er wird zunehmen –, dann müssen auch sie reagieren und sich ein breiteres Publikum erschließen. Der sture Blick durch die Managerbrille wird dazu jedenfalls nicht reichen.

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Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

 

Literatur:
Frühbrodt, L. (2007): Wirtschafts-Journalismus. Ein Handbuch für Praxis und Ausbildung. Berlin.

Mast, C. (Hrsg.)(2012): Neuorientierung im Wirtschaftsjournalismus. Redaktionelle Strategien und Publikumserwartungen. Wiesbaden.

FrühbrodtDer Autor Prof. Dr. Lutz Frühbrodt ist seit 2008 Leiter des Studiengangs „Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation (Wirtschaft/Technik) an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt.
Zuvor war er Wirtschaftsreporter der WELT-Gruppe in Frankfurt/Main.

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