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Investigative Recherchen, Teil 1: Auf der Suche nach der Wahrheit

Ob VW-Skandal, NSA-Enthüllungen oder jüngst die „Panama Papers“ – ohne investigativen Journalismus kommt die Wahrheit nur selten ans Licht. Auch Fachjournalisten stoßen bei ihrer Arbeit immer wieder auf Themen, die hartnäckige Recherchen oder gar unkonventionelle Methoden erfordern. Was gilt es dabei zu beachten? Der „Fachjournalist“ stellt in einer Serie Ansätze und Methoden der investigativen Recherche vor. Im ersten Teil stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie verlässlich sind Pressemitteilungen, wie lassen sich darin enthaltene Daten überprüfen – und welche Mittel eignen sich für die eigene Spurensuche?

Was wäre geschehen, wenn sich Journalisten stets auf die Mitteilungen von Energiekonzernen verlassen hätten, die jahrzehntelang Stromerzeugung in Atomkraftwerken unisono als „sicher“ und „umweltfreundlich“ darstellten? Was, wenn nie hinterfragt worden wäre, welche Schadstoffe sich in bestimmten Lebensmitteln, Textilien oder Möbeln verbergen? Was, wenn die Medien schädliche Wirkungen einzelner Medikamente, Ärztepfusch oder gar kriminelle Strukturen im Organhandel als selbstverständlich hinnehmen würden?

„Transparenz“ gehört zum Repertoire von Pressesprechern

Nicht nur bei Umwelt- oder Gesundheitsthemen gilt: Augen auf, wenn die „offizielle“ Pressemitteilung von Unternehmen oder Behörden aufpoppt. Denn darin wird noch immer vieles schöngeredet. Zwar haben Pressesprecher in den letzten Jahren dazugelernt: Transparenz und Kritikfähigkeit gehören – zumindest in einem gewissen Rahmen – inzwischen durchaus zum gängigen Repertoire professionell betriebener Pressestellen. Doch für Journalisten bedeutet dies umso mehr, weiterhin wachsam zu bleiben und im Zweifel auch dann noch Fragen zu stellen, wenn scheinbar alles gesagt wurde. Ohne diese Wachsamkeit wäre so manches marode Atomkraftwerk vielleicht nie vom Netz genommen worden, das Leid der Opfer von Contergan oder krebserregenden Brustimplantaten noch größer, als es ohnehin ist, und auch die berühmte Silvesternacht von Köln wäre wohl für alle, die nicht selbst dabei waren und einem ersten Polizeibericht Glauben schenkten, „weitgehend ruhig verlaufen“.

Gerade Fachjournalisten, die häufig mit offiziellen Stellungnahmen zu tun haben, stoßen darin immer wieder auf Ungereimtheiten: Sind zum Beispiel Ergebnisse von Material- oder Schadstoffprüfungen wirklich immer zutreffend? Gibt es Untersuchungen, die zu anderen Ergebnissen kommen? Decken sich die Zahlen mit früheren Erhebungen? Unter welchen Bedingungen wurden die Prüfungen durchgeführt? Was, wenn gesetzliche Normen oder empfohlene Höchstgrenzen unabhängiger Institutionen und Wissenschaftler überschritten werden?

Daten sind oft der Schlüssel zur Wahrheit

Leider werden solche und ähnliche Fragen im journalistischen Alltagsgeschäft oft genug vernachlässigt. Wäre es anders, hätten zum Beispiel aufmerksame Autojournalisten schon viel früher entdecken können, dass so mancher Fahrzeughersteller bei den Abgaswerten einiger Modelle kräftig getrickst hat. Schließlich waren die Prüfmethoden bekannt, die – in Verbindung mit entsprechenden Manipulationen – zu den geschönten Werten führten. Und auch einige Behörden wussten längst von den Prüfmängeln, bevor das Thema weltweit zum Skandal wurde. Dies gilt auch für andere Bereiche: Was nützt etwa eine Messsonde auf einem Umweltmobil, die Feinstaub in drei Metern Höhe erfasst, wenn Kinder aufgrund der in Bodennähe viel höheren Schadstoffkonzentrationen längst unter Asthma leiden? Was, wenn ein Härtetest für einen Gefahrstoffbehälter zwar für den Fall Entwarnung gibt, dass dieser eines Tages auf der Straße vom Lkw kippt – die tatsächliche Unfallstelle aber auf einer Hochbrücke oder an einem Abhang liegt? Und: Sind umstrittene Verfahren wie hochfrequenter Mobilfunk, Mikrowellen, Fracking, Geothermie oder der ungehemmte Einsatz von Nanopartikeln nun eigentlich umweltschädlich oder ein Segen für die Menschheit?

Tatsächlich kommt der Mess- und Prüftechnik, dem konkreten Ablauf von Tests und der Bewertung ihrer Ergebnisse häufiger eine Schlüsselrolle zu, als vielen bewusst ist. Laboruntersuchungen und Gutachten, die im Auftrag von Unternehmen erstellt werden, sowie entsprechende Kontrollverfahren von Behörden entscheiden über die Zulassung von Produkten, die Sicherheit von Bauwerken, die Genehmigung von Produktionsstätten oder den Einsatz bestimmter Methoden – etwa bei der Behandlung von Erkrankungen, der Durchführung gefährlicher Arbeiten oder dem Schutz bestimmter Anlagen. Nackte Zahlen aus Prüftabellen und daraus resultierende Schlussfolgerungen bewegen Menschen, Finanzmittel, Maschinen. Nicht selten entscheiden diese Zahlen über die Vergabe von Mitteln sowie über die Gesundheit von Mitarbeitern, Anwendern und Bevölkerung: Nachtflugverbote hängen von Lärmmessungen ab; Bodenproben geben den Ausschlag für Großbauprojekte; statistische Erhebungen verändern die Infrastruktur einer Stadt.

Diese und viele weitere Themen beruhen auf Daten, die, je nach Interessenlage der Beteiligten und der Seriosität der Datenerhebung, objektiv und unter wissenschaftlichen Kriterien erhoben wurden – oder eben „mit dem Finger auf der Waagschale“, um eine bestimmte Aussage zu stützen. Die Aufgabe von Fachjournalisten sollte es stets sein, die Wahrheit herauszufinden – oder zumindest in Erfahrung zu bringen, wer welche „Wahrheit“ für sich in Anspruch nimmt und worauf diese sich stützt.

Bei der Fehlersuche werden Journalisten zu „Detektiven“

Wie „Detektive“ benötigen auch Journalisten zunächst triftige Anhaltspunkte für Fehlerquellen oder eine mögliche Manipulation der Daten, die Grundlage ihrer Berichterstattung sein sollen. Denn natürlich ist nicht alles falsch, was in offiziellen Verlautbarungen steht. Genauso gut wie die Daten selbst kann auch der Verdacht, dass diese nicht stimmen, auf falschen Grundlagen beruhen. Ein Beispiel: In den 1980er-Jahren suchten Wissenschaftler weltweit fieberhaft nach den Ursachen von Aids. Erste Spuren führten dabei zu bestimmten Affenarten in Afrika, die heute als ursprüngliche Wirte des HI-Virus gelten. Doch plötzlich verbreitete sich die „Nachricht“, dass das gefährliche Virus angeblich aus einem geheimen US-Militärlabor entwichen sei. Heute wissen wir: Die Story vom „Laborvirus“ war eine Erfindung des russischen Geheimdienstes KGB. Viele Journalisten saßen der seinerzeit gezielt gestreuten „Ente“ auf.

Die Kunst, mangelhafte Angaben in Pressemitteilungen zu erkennen, besteht folglich darin, von Fall zu Fall gründlich abzuwägen, ob Anhaltspunkte für eine Fehlinformation bestehen und ob diese stichhaltig sind. In der Praxis finden sich solche Anhaltspunkte vor allem in konträren Mitteilungen – etwa von Wissenschaftlern, Bürgerinitiativen, Branchenverbänden, Umweltgruppen, Gewerkschaften oder involvierten Institutionen, Behörden und Politikern. In jüngster Zeit sind es vor allem sogenannte Whistleblower, also Insider, die Kenntnis von Missständen haben und den entscheidenden Tipp geben (mehr zum Umgang mit Whistleblowern in Kürze in einer weiteren Folge unserer Serie über Investigativen Journalismus).

Steht Aussage gegen Aussage, hilft oft nur eins: eigene Untersuchungen anstellen. Natürlich können es sich freie Journalisten nur in seltenen Fällen leisten, ein teures Labor mit einer bestimmten Prüfung zu beauftragen. Und auch viele Redaktionen scheuen oft Kosten und Mühen. Doch immer mehr setzt sich zumindest in Verbraucher- und Fachmedien mit hohem Ratgeberanteil der Gedanke durch, dass der gute Glaube allein bei einer ernsthaften Berichterstattung nicht weiterhilft. Keinem Apfel ist von außen anzusehen, ob er mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, bevor er in den Handel kam. Fühlen sich die Anwohner einer Chemiefabrik von unangenehmen Gerüchen belästigt, kommt es vor allem darauf an, ob diese Ausdünstungen tatsächlich von der Fabrik kommen oder andere Ursachen haben (etwa eine Biogasanlage) und wie gefährlich sie sind. Werden in Altenheimen, Krankenhäusern oder Großküchen Hygienevorschriften verletzt? Wer sich in solchen Fällen nicht allein auf die Selbstkontrolle der jeweiligen Betreiber oder die zuständigen Behörden verlassen will, muss zwangsläufig selbst zur Tat schreiten.

Spuren sammeln mit Messgerät und sterilen Tupfern?

Eigene physikalische oder (bio-)chemische Prüfungen sind allerdings nicht ganz einfach. In der Regel ist es erforderlich, ein Labor mit geschultem Personal einzuschalten. Ein Tipp: Viele Universitäten forschen bereits zu bestimmten Umwelt- oder Gesundheitsthemen. Es lohnt sich also, zunächst bei den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten vor Ort anzufragen und diese gegebenenfalls um Unterstützung bei der Durchführung bestimmter Messungen zu bitten. Natürlich können – rein theoretisch – auch mobile Messgeräte etwa zur Luft- oder Lärmmessung von Journalisten selbst vor Ort eingesetzt werden. Einige Hersteller und Labore bieten zu diesem Zweck Leihgeräte an. Giftige Bodenproben lassen sich notfalls von Hand einsammeln – natürlich unter Beachtung entsprechender Vorsichtsmaßnahmen wie Handschuhe und Mundschutz und mit geeigneten Sammelbehältern. Für Hygienetests werden an neuralgischen Stellen Abstriche mit sterilen Tupfern genommen, die dann – in geeigneten Glasröhrchen gesichert – zeitnah von einem Labor untersucht werden können.

Doch Vorsicht: Selfmade-Untersuchungen können Anhaltspunkte liefern, mehr nicht. Vor jeder Publikation ist eine Nachprüfung der Ergebnisse durch Profis – etwa die zuständige Umweltbehörde, die Lebensmittelaufsicht oder das Gewerbeamt – erforderlich. Darüber hinaus bedürfen die ermittelten Werte einer gründlichen Analyse und Bewertung durch anerkannte Wissenschaftler. Und noch ein Gebot sollte in jeder Redaktion Beachtung finden: Sind aufgrund von investigativen Labortests akute Gesundheitsgefahren für die Betroffenen zu befürchten – etwa bei der Entdeckung von „Gammelfleisch“ oder einer hohen Luftverschmutzung nach einem Chemieunfall – sind die zuständigen Behörden der erste Ansprechpartner. Wer die Zustände als Journalist bis zu einer Veröffentlichung laufen lässt, handelt unverantwortlich.

„Enthüllungen“ kommen meist allen Beteiligten zugute

In jedem Fall gilt: Eigene Recherchen oder Informationen Dritter, die im Widerspruch zu einer Pressemitteilung stehen, bieten erste Ansatzpunkte für weitergehende Fragen, mit deren Hilfe sich der „Fall“ vielleicht aufklären lässt. Oft geht es dabei nicht einmal um unterschiedliche Aussagen – sondern schlicht um Aspekte, die in der ursprünglichen Stellungnahme gar nicht erst enthalten sind. So werden etwa Hersteller sogenannter Wärmeverbundsysteme in ihren Mitteilungen nicht müde, die Energieeffizienz damit gedämmter Häuser hervorzuheben. Dass die dabei zum Einsatz kommenden Materialien häufig giftige Stoffe enthalten, wird in der Regel gar nicht erst erwähnt.

Dies ist nur ein Beispiel für viele ähnliche Themen, in denen sich Widersprüche verbergen, deren Aufklärung allen zugutekommt – letztlich auch den Verantwortlichen selbst, die hausgemachte Probleme durch eine Veröffentlichung schneller erkennen und für Abhilfe sorgen können. Eine zuständige Pressestelle wird sich daher entsprechende Nachfragen gefallen lassen müssen. Ob sie die Fragen auch immer beantwortet, steht auf einem anderen Blatt. Spätestens an dieser Stelle beginnt für engagierte Journalisten die „hohe Kunst der investigativen Recherche“ …

Erfahren Sie im zweiten Teil unserer Serie „Investigative Recherchen“ mehr über „Auskunftsrechte für Journalisten„, Fälle aus der Praxis und ein spektakuläres Urteil des OLG Hamm von Dezember 2015, mit dem sich vieles verändern könnte.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Uwe HerzogDer Autor Uwe Herzog ist Fachjournalist für Innovationen, Design und Lifestyle. Er war langjähriger Autor der ARD und Nachrichtenredakteur bei Privatsendern wie Radio ffn und Radio Victoria. Er berichtete u.a. über Risiken der Atomwirtschaft, die „Wehrsportgruppe Hoffmann“, den Bombenanschlag von Bologna, die „Colonia Dignidad“ und das Attentat auf Henriette Reker. Darüber hinaus ist der ehemalige Mitarbeiter von Günter Wallraff Koautor zweier investigativer Sachbücher über Innere Sicherheit. Herzog plädiert für einen verantwortlichen Umgang mit den Instrumenten des investigativen Journalismus.

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