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Jenseits von Tabu und Sensation: Depressionen und Suizid in den Medien

Der Weltgesundheitstag am 7. April 2017 steht unter dem Motto „Depression – Let’s talk“. Welche Rolle spielen die Medien in diesem Kontext? Wie berichten sie über psychische Erkrankungen? Dieser Beitrag bietet einen Überblick über Forschungsergebnisse, gibt praktische Tipps und diskutiert die Chancen einer sachlichen Berichterstattung.

Laut Robert-Koch-Institut erkranken allein in Deutschland jährlich rund sechs Millionen Erwachsene an einer Depression, über die gesamte Lebenszeit gesehen sogar fast jeder Fünfte (Robert-Koch-Institut 2010, S.19).

Rund 10.000 Menschen nehmen sich jedes Jahr das Leben, viele von ihnen sind depressiv. Damit sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen, Aids, Mord und Totschlag zusammen.

Eine „Volkskrankheit“ und ein gesellschaftliches Tabu

Die Zahlen zeigen: Viele Menschen sind betroffen, die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Bedeutung ist groß. Doch noch immer sind Depressionen und Suizid gesellschaftliche Tabus. Das gilt auch für andere psychische Erkrankungen. Betroffene werden stigmatisiert, nicht zuletzt in den Medien.

Wenn über psychische Erkrankungen berichtet wird, dann häufig im Kontext von Verbrechen, Gewalt oder sozial abweichendem Verhalten. Gleichzeitig wird die „Psychiatrie (…) in den Medien als Einbahnstraße inszeniert“. Beides ist vor allem deswegen problematisch, weil „der Journalismus die meistgenutzte Quelle der Information über psychische Erkrankungen ist“ (Wyss, V. 2016).

Dabei steht der sensationsorientierten Berichterstattung „grundsätzlich eine erheblich geringere Anzahl an Medienbeiträgen gegenüber, die etwa die Bewältigung psychischer Erkrankungen thematisieren“ (Scherr, S. 2016, S. 5).

Diese stereotypen Darstellungen wirken in zwei Richtungen. Einerseits verstärken sie gesellschaftliche Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen. Andererseits wiederum suchen Betroffene aus Angst vor Stigmatisierung keine oder sehr spät Hilfe.

Ein wichtiger Beitrag zu Aufklärung und Prävention

Das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit betont, wie wichtig Prävention und Früherkennung für eine wirksame Behandlung sind: „Diese Maßnahmen setzen aber voraus, dass psychische Erkrankungen genauso wie körperliche Erkrankungen als sozial anerkanntes und ernst zu nehmendes Gesundheitsrisiko betrachtet und nicht tabuisiert werden“ (Aktionsbündnis Seelische Gesundheit 2014, S. 10).

Berichten Medien über körperliche Erkrankungen, findet man oft Informationen über Symptome, Therapien und Heilungschancen oder Geschichten darüber, wie Betroffene und Angehörige mit ihrer Situation im Alltag umgehen. Bei psychischen Erkrankungen kommen all diese Aspekte viel seltener zum Tragen. Dabei haben viele Betroffene einen geregelten Alltag, verantwortungsvolle Aufgaben und gute Bewältigungsstrategien.

Medien können „einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Aufklärung über psychische Erkrankungen“ leisten (Scherr, S. 2016, S. 9). Wie das gelingen kann, zeigen spezielle Handreichungen, die Medienschaffenden bei der Recherche und bei der Einordnung von Sachverhalten weiterhelfen.

Sachgemäß, differenziert und perspektivenreich berichten

Der Begriff „Psychische Krankheiten“ fasst eine Vielzahl von Symptomen und Krankheitsbildern zusammen. Medienschaffende sollten spezifisch formulieren und sich mit den richtigen medizinischen und psychologischen Begriffen vertraut machen, denn häufig werden (wissenschaftliche) Begriffe nicht korrekt verwendet. Im Zweifelsfall helfen Fachverbände weiter.

Das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit hat eine Hilfestellung für Medienschaffende erarbeitet, die unter anderem eine gute Übersicht über die Fachverbände gibt. Die Broschüre ruft auch die Richtlinien des Deutschen Pressekodex in Erinnerung, die beim Thema psychische Erkrankungen relevant sind (Recherche bei schutzbedürftigen Personen, der Schutz der Persönlichkeit, Privatsphäre, Berichterstattung bei Straftaten etc.).

Nicht zuletzt findet man praktische Tipps dazu, wie man Gespräche mit Betroffenen und Angehörigen führen sollte: Verschiedene Perspektiven in einem Beitrag zum Thema lassen ein mehrdimensionales Bild entstehen. Die verwendete Sprache sollte möglichst wertfrei sein und die Menschen nicht auf ihre psychischen Erkrankungen reduzieren.

Wissen vermitteln und Ereignisse einordnen

Um kein verzerrtes Bild von psychischen Erkrankungen zu geben, ist die Einordnung in einen größeren Kontext wichtig. Das gilt zunächst für Informationen über die Krankheiten und Behandlungsmöglichkeiten. Psychische Erkrankungen sind kein unabwendbares Schicksal. Sie sind behandelbar und es gibt viele Möglichkeiten, selbst Einfluss zu nehmen. Wer dieses Wissen vermittelt, hilft Stigmata und Tabus abzubauen – und kann Betroffene ermutigen, Hilfe zu suchen.

Bei der Berichterstattung über Straftaten ist besondere Sorgfalt notwendig. Nicht jede Straf- oder Gewalttat, auch wenn sie schwer nachvollziehbar scheint, hat ihre Ursache in einer psychischen Erkrankung. Tatsächlich werden Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht häufiger gewalttätig als psychisch gesunde Menschen. Hier sollten sich Medienschaffende auf die gesicherten Fakten beziehen.

Wie man es nicht machen sollte, zeigen von Heydendorff und Dreßing (2016) mit ihrer Analyse von 251 Medienberichten über die „Germanwings-Katastrophe“: 31,5 Prozent der Texte stufen sie als „explizit stigmatisierend“, 64,1 Prozent als „riskante Berichterstattung“ ein. Sie kritisieren unter anderem, dass die psychische Erkrankung des Kopiloten kausal mit dem Verbrechen verknüpft wird – ohne dass auf die wissenschaftliche Datenlage zum Thema verwiesen wird. Die Nebenwirkung kann in „Stigmatisierungseffekten für Millionen von psychisch Kranken bestehen, die in ihrem Leben niemals gewalttätig werden“ (ebd., S. 137). Denn, so die Autoren: „Insbesondere für einen depressiven Menschen ist eine derartige Tat untypisch.“ Sie raten auch zum Beispiel dazu, den Begriff „erweiterter Suizid“ nicht mehr zu verwenden, sondern stattdessen „Tötung mit anschließender Selbsttötung“.

Grundsätzlich sei es sinnvoll, vor Veröffentlichungen „fachliche Expertise einzuholen, um sachgerecht informieren zu können und ungewollte Stigmatisierung zu vermeiden“ (ebd., S. 139). Die Frage nach den Ursachen bei einem solchen Ereignis sei natürlich absolut legitim – aber die Antworten sollten auf Fakten, nicht auf Spekulationen beruhen.

Berichterstattung über Suizid – eine besondere Verantwortung

Richtlinie 8.7 des Deutschen Pressekodex besagt: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung.“ Berichte über Suizide können Nachahmungstaten auslösen. Und zwar dann, wenn die Darstellung besonders spektakulär und detailliert ist. Etzersdorfer und Sonneck (1998) haben dies anhand der Wiener U-Bahn-Suizide untersucht: Zu Beginn der 1980er-Jahre gab es zahlreiche sensationsheischende Medienberichte über Suizide in der Wiener U-Bahn. Die 1987 eingeführten Medienempfehlungen bewirkten eine deutlich zurückhaltendere Berichterstattung. In der Folge ging die Zahl der U-Bahn-Suizide signifikant zurück.

Das Kriseninterventionszentrum Wien hat einen „Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid“ herausgegeben. Er soll zu einer „sorgsamen Berichterstattung“ anregen, „die frei von Vorurteilen und Mythen über Suizidalität ist und das Thema auch nicht tabuisiert“ (Kriseninterventionszentrum Wien 2014, S. 3).

Zentral sei vor allem, sachlich zu berichten und nicht sensationsträchtig. Es sollten keine Details zur Person und den Begleitumständen des Suizids genannt werden. Die Tat solle weder heroisiert noch romantisiert werden. Dazu kann eine bewusste Wortwahl beitragen. Medienschaffende sollten konkrete Informationen über Behandlungsmöglichkeiten, Hilfsangebote und andere Lösungsmöglichketen bieten.

Papageno- statt Werther-Effekt

Hintergrund dieser Empfehlungen ist, dass der sogenannte Werther-Effekt eintreten kann: Nach dem Erscheinen von Goethes „Werther“ soll es eine Reihe von ähnlichen Suiziden unter jungen Männern gegeben haben. Suizidgefährdete Menschen befinden sich in einer schweren Krise. In dieser Phase kämpfen sie häufig mit widerstreitenden Gefühlen, sehen sich in einer ausweglosen Lage. In dieser Situation sind die Reaktionen der Umwelt besonders wichtig.

Aus der Forschung weiß man, dass Medien Vorbilder und Rollenmodelle liefern. Sensationsträchtige und detailreiche Medienberichte über Suizide können Nachahmungstaten auslösen. Details zur Person oder eine vereinfachte Darstellung der Gründe (zum Beispiel „Selbstmord aus Liebe“) erhöhen die Identifikation, sodass es zu Imitationseffekten kommt.

Dem „Werther-Effekt“ steht der „Papageno-Effekt“ gegenüber: Als der Vogelfänger aus Mozarts Zauberflöte den Verlust seiner geliebten Papagena befürchtet, denkt er daran, sich das Leben zu nehmen. Die drei Knaben eröffnen ihm Alternativen und helfen ihm, die suizidale Krise zu überwinden. Berichte über Menschen, die schwere Krisen durchlebt und sich nicht umgebracht haben, können Betroffenen Mut machen. Sie können so zu einer Prävention von Suiziden beitragen (Niederkrotenthaler, T. et al. 2010).

Fazit

Ein Berichtsverbot über Suizide oder ein Verschweigen der Thematik würde nur das Tabu vergrößern. Diesen Aspekt betont auch der Medienpsychologe Benedikt Till im Interview mit ZEIT-Online-Redakteurin Parvin Sadigh (2011): „Prinzipiell geht es nicht nur darum, ob berichtet wird, sondern vor allem auch darum, wie berichtet wird.“

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Die Autorin Elisabeth Gregull studierte Germanistik, neugriechische Literatur und Geschichte in Berlin und Thessaloniki. Anschließend arbeitete sie zehn Jahre als Projektmanagerin für Stiftungen und Organisationen im Bereich demokratischer und interkultureller Bildung. Nach ihrem Zweitstudium an der Deutschen Fachjournalisten-Schule ist sie seit 2011 als freie Journalistin tätig. Schwerpunktthemen sind Migration, Diversity und Folgen der NS-Zeit.

 

Literatur:

Aktionsbündnis Seelische Gesundheit (Hrsg.) (2014): Berichterstattung über Menschen mit psychischen Erkrankungen. Eine Hilfestellung für Journalistinnen und Journalisten sowie Redakteurinnen und Redakteure

Etzersdorfer, E./Sonneck, G. (1998): Preventing suicide by infuencing mass-media reporting. The Viennese experience 1980-1996, in: Archives of Suicide Research, 4; S. 67-74

FAIR Media. Für die Menschen, gegen Ausgrenzung (Webportal des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit mit Informationen für Medienschaffende)

Kriseninterventionszentrum Wien (Hrsg.) (2014): Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid. Wien

Niederkrotenthaler, T./Voracek, M./Herberth, A./Till, B./Strauss, M./Etzersdorfer, E.; Eisenwort, B./Sonneck, G. (2010): The role of media reports in completed and prevented suicide – Werther versus Papageno effects, British Journal of Psychiatry, 197; S. 234-43

Robert-Koch-Institut (2010): Depressive Erkrankungen, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 51, Berlin

Scherr, S. (2016): Psychische Krankheiten in der Gesellschaft und in den Medien in: Rossmann, C./Hastall, M.R. (Hrsg.): Handbuch Gesundheitskommunikation, Wiesbaden

Von Heydendorff, S.C./Dreßing, H. (2016): Mediale Stigmatisierung psychisch Kranker im Zuge der „Germanwings“-Katastrophe, in: Psychiatrische Praxis, 43; S. 134-140

Wyss, V. (2016): „Wie gehen Medien mit psychischen Erkrankungen um? Und wie wirkt sich das aus?“; Interview von Aleksandra Gnach; Blog der ZHAW Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften

Till, B. (2011): „Der Werther-Effekt schadet, der Papageno-Effekt nutzt“; Interview von Parvin Sadigh mit dem Medienpsychologen; Zeit Online

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