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Kommunikation über Bewegtbild: Warum Social TV für Journalisten mehr sein kann als nur das Vortragen von Tweets

In sozialen Netzwerken und Messengern tauschen sich immer mehr Menschen über Bewegtbildinhalte aus. Statt passiv vor dem heimischen TV-Gerät zu sitzen, kommunizieren die Zuschauer heute parallel mittels Facebook, Twitter oder WhatsApp und können die laufende Sendung mit ihrem Feedback teils sogar beeinflussen. Journalisten und Bewegtbildanbieter sollten dieses Potenzial strategisch ausschöpfen.

Fernsehen ist heute nicht mehr allein das, was auf der klassischen „Mattscheibe“ geschieht. Das Fernsehen, wie wir es einmal verstanden haben, gibt es in dieser Form nicht mehr. Neben die einfache Rezeption von Inhalten treten zunehmend neue Wege des Umgangs mit Bewegtbild, die aktive Zuschauer selbstständig geschaffen haben. Hier reiht sich Social TV ein – die Verknüpfung von Bewegtbildinhalten mit sozialen Medien.

Die rasant wachsende Verbreitung von Second Screens, also zusätzlichen Geräten wie Smartphones oder Tablets, auf denen Zuschauer parallel zum Fernsehen aktiv sind, hat Social Media in den Fernsehbereich hinein verlängert. Immer mehr Nutzer tauschen sich heute über Facebook, Twitter, WhatsApp oder andere Plattformen zu Fernsehprogrammen aus. Das belegte jüngst erneut eine Studie des Marktforschers Nielsen. Anders als beim Face-to-Face-Gespräch, das seit jeher während des Fernsehens stattfindet, wird das fernsehbegleitende Sprechen heute verschriftlicht und (teil-) öffentlich mit anderen Zuschauenden geteilt. Unsere Forschung zeigt, dass Menschen Social Media beim Fernsehen nutzen, um

  • sich selbst und ihr Wissen darzustellen;
  • Orientierung zu finden;
  • ihr Seherlebnis zu intensivieren;
  • eine Ersatzbeschäftigung zu haben;
  • Beziehungen zu pflegen.

Dabei ist es nicht nur der „Tatort“, der sich großer Beliebtheit im sozialen Netzwerk Twitter erfreut, wie wir spätestens wissen, seitdem Journalisten regelmäßig eine „Twittritik“ der Kultserie schreiben. Öffentlich nicht sichtbar, aber quantitativ vermutlich bedeutsamer sind die zahlreichen Gruppenchats bei WhatsApp oder Facebook, die sich Freundesgruppen zum regelmäßigen Austausch über ihre Lieblingsformate – Sendungen wie „Game of Thrones“ oder „Germanys Next Topmodel“ – geschaffen haben.

Dass Social TV zunehmend an Relevanz gewinnt, legen auch die Ergebnisse des Forschungsschwerpunkts am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover – vor allem der aktuelle Studienband „Social TV in Deutschland“ – nahe. In zahlreichen Studien haben sich die Autoren des Bandes mit den Social-TV-Nutzern, ihren Kommunikationsinhalten, den Charakteristika von Formaten sowie dem Markt auseinandergesetzt. Ihr Fazit: Fernsehen ist in den vergangenen Jahren sozialer geworden – und das eröffnet, so wird dieser Beitrag zeigen, nicht nur aufseiten der Nutzer einen neuen Möglichkeitsraum.

Kommuniziert wird zu emotionalen und aktuellen Formaten

Immer häufiger erkennen auch Fernsehsender heute die Potenziale von Social TV für das klassisch lineare Fernsehen. Dieses grenzt sich vom non-linearen Fernsehen, das Inhalte auch auf Abruf bereitstellt, dadurch ab, dass es in einem festgelegten Programm vorgibt, was gerade läuft. Wurden die Fernsehsender im Jahr 2012 noch vermehrt als Bremser der Entwicklung gesehen, so gelten sie mittlerweile als experimentierfreudiger. Bei der Entwicklung neuer Formate denken sie „vom Kick-off an Social TV mit“, wie es ein Experte in unserer Studie „Social TV in Deutschland: Eine Markteinschätzung“ formuliert. Doch obwohl einige Leuchtturmproduktionen in den letzten Jahren Maßstäbe gesetzt haben, gehen die Initiativen der Sender bei vielen Formaten doch weiterhin nicht über das Vortragen von Tweets oder Kommentaren während der laufenden Sendung hinaus.

Dabei wäre bei vielen Formaten ein weit größeres Potenzial für den sozialen Austausch angelegt: Den Ergebnissen unserer Forschung nach sind emotionale Ansprache und zeitliche Aktualität entscheidende Faktoren, die einen regen Austausch unter den Zuschauern initiieren können. Neben Castingshows trifft das ebenso auf große Showformate wie „Schlag den Raab“ zu. Auch Fußballspiele vereinen emotionale Ansprache mit zeitlicher Aktualität und brechen daher regelmäßig Twitter-Rekorde – nicht zuletzt mit 35,6 Millionen Tweets zur Halbfinalbegegnung Deutschland gegen Brasilien bei der WM 2014.

Für diese Formate gilt es, von Senderseite aus zukünftig Potenziale zu erschließen – gleichzeitig aber Schnellschüsse zu vermeiden. Die Sendung „Quizduell“, mit der sich die ARD 2014 aufgrund technischer Pannen blamierte, bleibt mahnendes Beispiel: Strategien, die in den sozialen Medien funktionieren, lassen sich nicht zwangsläufig auch auf das Fernsehen übertragen.

Das „Neo Magazin Royale“ als crossmediales Erfolgsformat

Im direkten Kontrast zur Pannensendung „Quizduell“ steht das Late-Night-Format „Neo Magazin Royale. Viel lässt sich hier über den derzeitigen „Verschmelzungsgrad“ von Fernsehen und Social Media lernen. Die Sendung um Moderator Jan Böhmermann funktioniert zwar auch alleinstehend im linearen Fernsehen: Sie wird im ZDF und bei ZDFneo übertragen. Für viele ist sie aber ohne Social-Media-Anbindung kaum noch denkbar. Schaut ein Zuschauer die Sendung, ohne parallel die Facebook- oder Twitteraccounts zu verfolgen, dann kann er manche Witze des Stand-up-Teils kaum verstehen, da sie manchmal direkt aus Tweets oder der Netzwelt entnommen sind. Die redaktionelle Vorbereitung der Sendung wird regelmäßig über Live-Streaming-Apps wie Meerkat und Periscope übertragen. Im Internet finden die Nutzer Exklusivmaterial, das allein über YouTube und die Social-Media-Kanäle der Beteiligten verteilt wird.

Jan Böhmermann: Der Moderator vom "Neo Magazin Royale" lässt Fernsehen und Social Media miteinander verschmelzen (Foto: ZDF/Ben Knabe).

Jan Böhmermann: Der Moderator vom „Neo Magazin Royale“ lässt Fernsehen und Social Media miteinander verschmelzen (Foto: ZDF/Ben Knabe).

Natürlich können nicht alle Formate den sozialen Austausch so konsequent umsetzen wie dieses Nischenformat, das sich im Kern an die junge Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen wendet, die von der Forschung als besonders affin für Social TV eingeschätzt wird. Das „Neo Magazin Royale“ als crossmediales Gesamtkonstrukt steht dennoch beispielhaft für eine konsequente Umsetzung der Möglichkeiten von Social TV in Deutschland. Die Beförderung ins ZDF-Hauptprogramm und virale Erfolge wie der #varoufake mit fast drei Millionen Klicks bei YouTube geben den Machern Recht.

Fernsehanbieter sollten das Soziale an Social TV erschließen

Journalisten, die sich auf eine direkte Kommunikation mit ihren Zuschauern oder Lesern einlassen, haben weniger Freizeit – aber sie sind, so meinen wir, besser für die Zukunft gerüstet. Denn Feedback hält fit. Die vormals passiven Zuschauer – „the people formerly known as the audience“, wie Jay Rosen sie genannt hat – werden in sozialen Netzwerken zum erweiterten Seismograf für die Aufmerksamkeit, die Interessen und die Meinung einer hochinvolvierten, jungen Öffentlichkeit. Die Nutzer reden über Sendungen und geben den Sendungsmachern in den sozialen Netzwerken teils wertvolles Feedback. Es entsteht eine Art digitale Quote, die neben die einfache Reichweitenmessung tritt. Zumindest im Onlinejournalismus gehört die direkte Auseinandersetzung mit dem Publikum schon längst zum redaktionellen Alltag.

Das Feedback wird von den Sendungsmachern zwar manchmal gelesen und sogar kommentiert, aber bislang nur selten systematisch und produktiv aufgegriffen und ausgewertet. So entsteht häufig der Eindruck, Social TV werde vor allem als Instrument der Zuschauerbindung und Reichweitensteigerung eingesetzt. Das können Facebook und Twitter auch sein – aber sie sind es nicht ausschließlich. Wie das Fallbeispiel „Neo Magazin Royale“ gezeigt hat, lassen sich neue Potenziale gerade dort erschließen, wo Fernsehsender das Soziale an Social TV verstehen und nutzen: Das bedeutet mehr, als bloß das eigene Programm über Facebook oder Twitter zu bewerben und auf Nutzerfeedback im Nachgang einer Sendung zu reagieren – also dann, wenn bereits alles vorüber ist.

Wesentlich aussichtsreicher wäre es dagegen, das Publikum schon in den Schaffensprozess von Bewegtbildinhalten zu integrieren. Im besten Fall kann das zu produktiven Impulsen führen, die das Endprodukt beeinflussen und gegebenenfalls zum Besseren verändern. Einen solchen, prozessualen Social-TV-Ansatz verfolgte beispielsweise Radio Bremen mit der Dokumentationsreihe „Unter deutschen Dächern„. In vier Episoden stand dort jeweils ein anderes Gebäude im Fokus der Dokumentation. Die Zuschauer konnten online schon während der Dreharbeiten Hintergrundmaterial abrufen und hatten die Möglichkeit, mit den Regisseuren zu diskutieren.

Fernsehproduktionen werden damit ein wenig mehr wie das Start-up Crowdspondent. Unter den Slogans „Deine persönlichen Reporter“ und „Schickt uns weg!“ ist das Publikum bei Crowdspondent maßgeblicher Treiber der redaktionellen Arbeit. Die Nutzer bestimmen mit, welche Themen als gesellschaftsrelevant gelten und wo die Recherchen ansetzen sollen – ohne dabei aber Einfluss auf die späteren Rechercheergebnisse oder die journalistische Autonomie zu nehmen.

Fachjournalisten haben das Potenzial, die besseren Marken zu sein

Livesendungen mit einer hohen Emotionalität sind die erfolgreichsten Social-TV-Formate. Zumindest wird über sie am meisten getwittert. Was auf anderen Plattformen und geschlossenen Chats zu Bewegtbildinhalten geschrieben wird, lässt sich kaum erfassen, weshalb Twitter im Mittelpunkt der Social-TV-Messungen steht. Die großen Aktivitäten können sich Journalisten zunutze machen. In sozialen Netzwerken tritt der Journalist als Person in den Vordergrund und kann sich eine digitale Reputation schaffen – unabhängig von Medienhäusern und Verlagen. Auch hier ist Jan Böhmermann ein passendes Beispiel. In seinem Twitter-Profil heißt es augenzwinkernd: „Alles hier ist definitiv NICHT meine Privatmeinung!“ Dann aber nimmt Böhmermann in seinen Beiträgen gerade doch regelmäßig Stellung zu aktuellen Nachrichtenthemen. Das wirkt: Mittlerweile folgen ihm über 262.000 Menschen bei Twitter, bei Facebook haben über 210.000 Leute seine Seite „geliked“.

Jeder Journalist kann heute auf Debatten aufspringen, selbst Teil von ihnen werden und sich schließlich als Experte für ein Thema etablieren, beispielsweise über ein eigenes Blog. Dafür ist nicht selten Fachwissen erforderlich. Und genau das haben Fachjournalisten mehr als journalistische Allrounder. Oft heißt es, Journalisten könnten und müssten in sozialen Netzwerken selbst zur Marke werden. Diese wichtige Feststellung, die gleichzeitig Aufgabe und Chance ist, gilt ganz besonders für Fachjournalisten. Sie haben das Potenzial, die besseren Marken zu sein – denn Marken benötigen einen Markenkern.

Ausblick: Erschließung von Messengern als nächster Schritt

Inwiefern Social TV in Zukunft ein angemessenes Instrument zur Kommunikation der eigenen Marke sein wird, hängt von der zukünftigen Entwicklung des Phänomens ab. Und diese wird, wie schon bislang, vor allem nutzerseitig geprägt werden: Die Nutzer sind mit ihrer Kommunikation die Treiber von Social TV.

In unserer Studie „Social TV in Deutschland: Eine Markteinschätzung“ haben wir Social-TV-Experten aus unterschiedlichen Branchen – darunter Agenturen, Start-ups, TV-Sender, Journalisten, Hardware-Hersteller, Wissenschaftler und ein Social Network – gefragt, wie sie die Entwicklung der Nutzerschaft einschätzen. Die Mehrzahl der Befragten war sich darüber einig, dass die Zahl der Nutzer schon allein deshalb wachse, weil die Verbreitung von Smartphones und anderen Second Screens in allen Altersklassen rasant ansteigt. Eine visuelle Verortung des Phänomens haben die Experten auf dem Gartner Hype Cycle (siehe Abbildung unten) vorgenommen. Dieser bildet die Phasen ab, die eine Technologie auf dem Weg zur Marktreife durchläuft und stellt die Entwicklung in einer Kurve da: Nach der Markteinführung kommt typischerweise ein Hype mit überhöhten Erwartungen an die Technologie, die meist erst einmal enttäuscht werden – dieses Tief wird auch „Tal der Tränen“ genannt. Danach stabilisiert sich die Technologie und findet langsam zu Produktivität und Marktreife.

Bezüglich der Verortung von Social TV auf dem Hype Cycle kamen die Experten zu zwei gegensätzlichen Einschätzungen: Eine Expertengruppe geht davon aus, dass Social TV den Höhepunkt des Hypes noch nicht erreicht hat. Eine zweite vermutet, dass das Phänomen derzeit das „Tal der Tränen“ erreicht. Dies wird mit der zunehmenden Ernüchterung um manche Geschäftsmodelle, die den Erwartungen nicht gerecht werden, begründet.

Vor dem Hype oder schon im "Tal der Tränen"? Über die Verortung von Social TV auf dem Gartner Hype Cycle sind sich die Experten uneinig.

Vor dem Hype oder schon im „Tal der Tränen“? Über die Verortung von Social TV auf dem Gartner Hype Cycle sind sich die Experten uneinig.

Heute wird das Phänomen Social TV häufig noch auf öffentliche Plattformen wie Twitter und Facebook reduziert. Dass Social TV auch in privaten Umgebungen und in geschlossenen Messengern stattfindet, war bislang kaum Thema in Praxis und Forschung. Gleichzeitig ist jedoch davon auszugehen, dass Gespräche bei WhatsApp und anderen Messengern wesentlich tiefgehender sind als solche, die sich – zumindest prinzipiell – unter den Augen der gesamten Internetöffentlichkeit abspielen. Diese Räume zu erschließen, das könnte ein herausfordernder, aber ertragreicher nächster Schritt für Journalisten und Bewegtbildanbieter im Social-TV-Umfeld sein.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Martin WiensChristopher BuschowBeate SchneiderMartin Wiens studiert Medienmanagement am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Nebenbei schreibt er für die Hannoversche Allgemeine Zeitung und ist Chefredakteur beim Campusradio Ernst.FM. Christopher Buschow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am IJK und forscht und lehrt dort unter anderem zu Social TV. Prof. Dr. Beate Schneider ist Universitätsprofessorin am IJK und leitet dort neben anderen den Lehr- und Forschungsschwerpunkt Social TV.

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