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Fakten statt Vorurteile – Migration als fachjournalistisches Thema

Deutschland ist ein Einwanderungsland, auch wenn es das offiziell noch nicht lange anerkennt. Meist verhandeln Medien hierzulande Fragen von Migration und Zuwanderung noch einseitig und stereotyp, aus einer Problem- und Defizitperspektive. Um ausgewogen und differenziert über das Thema berichten zu können, braucht es Fachwissen, kritischen Sachverstand und interkulturelle Kompetenz. Nur so können Journalisten die vielschichtige und facettenreiche Wirklichkeit einer Einwanderungsgesellschaft angemessen abbilden, anstatt Vorurteile und verzerrte Darstellungen zu transportieren.

Migration verändert Länder in allen gesellschaftlichen Bereichen. Offiziell hat Deutschland sich lange dagegen gewehrt, ein Einwanderungsland zu sein. De facto aber haben die Anwerbeabkommen und der Familiennachzug die Bundesrepublik nachhaltig verändert. Inzwischen hat jeder Fünfte einen sogenannten Migrationshintergrund.

Medien und Migration

Das Verhältnis von Medien und Migration ist seit Mitte der 1990er-Jahre vermehrt Forschungsthema (Anmerkung 1). Die Berichterstattung über Zugewanderte ist oft einseitig und von Stereotypen gekennzeichnet. Männer erscheinen vorwiegend im Kontext Kriminalität und Gewalt (Ruhrmann, G. 2007), Frauen häufig als Opfer oder Unterdrückte (Lünenborg, M. et al. 2011) (Anmerkung 2).

Allerdings sind nicht alle Menschen mit Migrationsgeschichte gleichermaßen in diesem Schema vertreten: Es ist eine Hierarchie festzustellen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsregionen.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 werden insbesondere Muslime unter dem Vorzeichen angeblicher Bedrohung und Fremdheit dargestellt (Anmerkung 3). Patrick Bahners hat in seinem Buch „Die Panikmacher“ (Bahners, P. 2011) unterschiedlichste Beispiele dafür recherchiert, wie über mediale und politische Diskurse ein scheinbares Alltagswissen über „den Islam“ produziert wird. Sein Abgleich zwischen dem, was öffentlich transportiert wird, und dem, was faktisch durch Studien, Zahlen und in konkreten Fällen belegt ist, zeigt eine große Kluft.

Wenn es um Migration und Zuwanderung geht, scheinen handwerkliche Schritte, die eine sachgemäße und qualitativ gute journalistische Arbeit absichern sollen, öfter vernachlässigt zu werden. Selbst renommierte Medien haben in den letzten Jahren Aussagen von Politikern über angebliche „Ergebnisse“ von Studien einfach übernommen und als „Fakten“ publiziert – ohne Gegenrecherche.

Mehr als einmal haben die beteiligten Wissenschaftler im Nachhinein die unsachgemäße oder selektive Darstellung der Studienergebnisse durch die Politiker kritisiert.

Politische und internationale Dimension

Wie bei anderen Fachthemen auch sollten Journalisten aufmerksam dafür sein, wie bestimmte Themen politisch verhandelt und wann sie instrumentalisiert werden. Es gilt, Interessengruppen auszumachen, Hintergründe aufzudecken, Daten und Fakten zu recherchieren und einzuordnen, vielleicht auch in ihrer Widersprüchlichkeit.

Hier ist besondere Sensibilität gefragt und natürlich auch kritisches Denken. Gerade wenn Begriffe wie „Integrationsverweigerung“ oder „nötiger Tabubruch“ Konjunktur haben, ist ein kühler Blick auf die Fakten sinnvoll. Und Recherchen und Gegenrecherchen, die sich von der Frage leiten lassen: Was ist dran an einem Begriff oder einer Behauptung? Was sagen die Daten, die Forschung und fachkundige Stellen? Dann müsste man im Kontext der Sarrazin-Debatte „Falsches falsch nennen und Obszönes obszön“ (zitiert nach Bahners, P. 2011, S. 277), wie es der Historiker Raphael Gross ausdrückt.

Der Vergleich mit anderen Einwanderungsländern ist bei Fragen rund um Migration, Chancengleichheit und Umgang mit Diversität ebenfalls hilfreich.

Zum einen, da Migration eine universelle Praxis ist und durch die Folgen der Globalisierung zunimmt. Zum anderen, da Länder mit einer längeren Tradition der Zuwanderung Erfahrungen, Modelle und Vergleichsaspekte bieten können.

Alle Facetten der Einwanderungsgesellschaft

Migration und damit ethnische und kulturelle Diversität sind für Deutschland als Einwanderungsland konstitutiv. Der demografische Wandel wird diese Entwicklung weiter verstärken.

Migration berührt alle Bereiche einer Gesellschaft und ist ein interdisziplinäres Thema. Um differenziert und ausgewogen über Realitäten einer Einwanderungsgesellschaft berichten zu können, braucht es interkulturelle Kompetenz und Fachwissen: über die Gründe von Wanderungsbewegungen, über rechtliche Rahmenbedingungen und andere Faktoren, die das Leben von Zugewanderten beeinflussen. Denn hinter dem Begriff „Migrant“ verbergen sich (auch in sich) völlig heterogene Gruppen und Menschen, die ganz unterschiedlich geprägt sind.

Die Leugnung, ein Einwanderungsland zu sein, hat lange zu einer entsprechenden Politik geführt. Anstatt gebetsmühlenartig von „Integrationsproblemen“ bei Zuwanderern zu sprechen, sollte sich der Blick auch auf die Folgen dieser verfehlten Integrationspolitik richten.

Denn letztlich entscheiden rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen maßgeblich über Partizipation an Bildung, Arbeitsmarkt und anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Die Wortwahl – mehr als eine Frage des Stils

Wo es um Migration und Zuwanderung geht, werden Fragen von Zugehörigkeit verhandelt – auch in den Medien. „Durch (…) öffentliche Zuschreibungen wird sozialer Status hergestellt, werden Zughörigkeit und Ausgeschlossen sein bestimmt“ (Lünenborg, M. et al. 201, S. 17).

Die Wortwahl ist ein weiteres Kriterium für eine sachgemäße Darstellung. Vor kurzem hat der Journalist und Autor Nicol Ljubić die Anthologie „Schluss mit der Deutschenfeindlichkeit! Geschichten aus der Heimat“ (Ljubić, N. 2012) herausgegeben. Die Autoren sind Deutsche – aber sie werden aufgrund ihres Namens, ihres sogenannten Migrationshintergrundes oder ihrer Hautfarbe häufig nicht als solche akzeptiert.

Während es in den USA ganz normal ist, von Italian-Americans, Polish-Americans oder African-Americans zu sprechen und damit alle als US-Amerikaner anzuerkennen, sind Bindestrich-Identitäten in Deutschland noch kein selbstverständlicher Teil des Sprachgebrauchs.

Wo Journalisten noch oder wieder Begriffe wie „Ausländer“ benutzen, deckt dies häufig nicht mehr die Tatsachen ab. Schwarze Deutsche, People of Color und deutsche Muslime sind ebenso „Inländer“.

Diversität – die Normalität jenseits des Problemfalls

Was mit der Negativberichterstattung zu kurz kommt, ist zum einen die Normalität in einer Einwanderungsgesellschaft und die Alltagswirklichkeit von Menschen mit Migrationsgeschichte. „Die Einwanderung und die gesellschaftlichen Veränderungen, welche sie bewirkt hat, gehören zu dieser Realität“ (Yildiz, E. 2006, S. 51). Migration einzig als problembehaftet und konflikthaft zu zeigen, entspricht nicht der gesellschaftlichen Realität. Viel zu selten kommen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte als Schüler, Steuerzahler, Arbeitgeber, kurz: als ganz normale Bürger vor, die ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten.

Zum anderen fehlt eine weitere Realität in der Berichterstattung fast ganz: die Diskriminierung von Menschen mit Migrationsgeschichte. Auch hierzu gibt es Studien, zum Beispiel für den Bildungsbereich. Aber dieses Thema scheint kein „Skandal“ zu sein, selbst wenn dadurch wertvolle Potenziale für die Gesellschaft verloren gehen. Eine erweiterte Themenwahl wäre also ein wichtiger Faktor für eine ausgewogene Berichterstattung.

Andere Perspektiven

In den Medien wird häufig über Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gesprochen; sie selbst kommen aber nicht zu Wort. Das gilt auch für die journalistische Branche: Zwar hat jeder fünfte Bürger einen Migrationshintergrund, aber nur jeder fünfzigste Journalist. Die „Neuen deutschen Medienmacher“ (www.neuemedienmacher.de), ein Zusammenschluss von Journalisten mit Migrationshintergrund, setzt sich für mehr Vielfalt in den Medien ein, auch beim Personal. Andere Erfahrungen und spezielle Sprachkenntnisse könnten neue Perspektiven in die Berichterstattung bringen.

Gleichzeitig engagiert sich das Netzwerk für interkulturelle Kompetenz in der Berichterstattung, etwa durch Fortbildungen, und möchte auch die vorhandene Diversität der Gesellschaft in den Medien sichtbarer machen. Dafür plant das Netzwerk gemeinsam mit der Initiative „Deutsch plus“ (www.deutsch-plus.de) und dem „Forum der Brückenbauer“ (www.forum-der-brueckenbauer.de) eine Datenbank: Der „Vielfaltfinder“ soll ab Anfang 2013 Journalisten kostenlos die Möglichkeit bieten, Fachleute mit Zuwanderungsgeschichte aus allen Gebieten zu kontaktieren – aus Medizin und Wirtschaft, Politik und Forschung, Kunst und Kultur.

Wenn Experten gefragt sind

Wenn Fachleute zurate gezogen werden, sollten Journalisten in diesem Themenfeld prüfen, wer Experte auf einem Gebiet ist – und wer nur als solcher gehandelt wird. Wie ist der fachliche Hintergrund, worauf stützen sich Aussagen? Im Zusammenhang mit dem Thema „Islam“ ist zum Beispiel Necla Kelek eine vielzitierte „Expertin“: Eine Frau, die in ihrer Dissertation noch zu dem Ergebnis kam, dass der Islam als Religion nicht hinderlich für die Integration sei – und heute nicht müde wird, das Gegenteil zu behaupten.

Das Gleiche gilt für Repräsentanten einzelner Gruppen: Kann die Person stellvertretend für eine ganze Gruppe sprechen oder repräsentiert sie nur einen kleinen Teil? Und wie ist dies ins große Ganze einzuordnen?

Wissenschaftler und Praktiker unterschiedlicher Fachgebiete beschäftigen sich mit Fragen von Migration und Einwanderung. Ein Journalist, der hierzu spezielle interdisziplinäre Fachkenntnis hat, kann differenzierter als ein Generalist über dieses komplexe Themenfeld berichten.

In einer Einwanderungsgesellschaft haben Medien eine besondere Verantwortung, ausgewogen, sachgemäß und polyperspektivisch die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen, Chancen, Herausforderungen und Probleme zu reflektieren.

Anmerkung 1: Eine ausführliche Bibliografie bietet das Projekt „Migration, Integration und Medien“.

Anmerkung 2: Lünenborg et al. haben die Darstellung von Frauen mit Migrationshintergrund in fünf deutschen Tageszeitungen untersucht. In mehr als einem Viertel der Beiträge dominiert die Opferrolle. Nähere Informationen zum Forschungsprojekt „Migrantinnen in den Medien“, das sich in drei Teilstudien gliedert, finden Sie hier.

Anmerkung 3: Kai Hafez und Carola Richter haben vor einigen Jahren „Das Islambild von ARD und ZDF“ untersucht. Die neuere Studie „Muslims in the European Mediascape“ vergleicht die Situation in Deutschland und Großbritannien, es wurden auch Medienmacher befragt. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse für Deutschland finden Sie hier.

Literatur:

Bahners, Patrick (2011): Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift, München.

Ljubić, Nicol (Hg.) (2012): Schluss mit der Deutschenfeindlichkeit! Geschichten aus der Heimat, Hamburg.

Lünenborg, Margreth, Fritsche, Katharina, Bach, Annika (2011): Migrantinnen in den Medien. Darstellungen in der Presse und ihre Rezeption, Bielefeld.

Ruhrmann, Georg (2007): MigrantInnen als Thema der Medienberichterstattung, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Dossier Medien und Diversity, S. 6-8. www.migration-boell.de/web/diversity/48_1217.asp

Yildiz, Erol (2006): Stigmatisierende Mediendiskurse in der kosmopolitanen Einwanderungsgesellschaft, in: Butterwegge, Christoph, Hentges, Gudrun (Hg.): Massenmedien, Migration und Integration, 2. Aufl., Wiesbaden, S. 37-53.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

 

Die Autorin Elisabeth Gregull studierte Germanistik, neugriechische Literatur und Geschichte in Berlin und Thessaloniki.

Anschließend arbeitete sie zehn Jahre als Projektmanagerin für Stiftungen und Organisationen im Bereich demokratischer und interkultureller Bildung.

Nach ihrem Zweitstudium an der Deutschen Fachjournalisten-Schule ist sie seit 2011 als freie Journalistin tätig. Schwerpunktthemen sind Migration, Diversity und Folgen der NS-Zeit.

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