RSS-Feed

Mittendrin statt nur dabei: Das Potenzial von Augmented Reality im Journalismus

Um „immersives Storytelling“ – das Einbinden der News-Konsumenten in die Geschichte – herrscht derzeit ein großer Hype. Wie sollen Medienhäuser darauf reagieren? Eine Einschätzung von Dirk Schart und Nathaly Tschanz, Verfasser des Praxishandbuchs „Augmented Reality für Marketing, Medien und Public Relations“.

Mobiler Journalismus ist nicht die Zukunft. Mobiler Journalismus ist die Gegenwart. Und wir sprechen hier nicht von einer responsiven Website und einer News-App. Der User von heute will mehr. Der derzeitige Erfolgszug von immersivem Storytelling wie beispielsweise 360 Grad-Reportagen und Documentary-Games spricht für sich: News-Konsumenten von heute wollen eingebunden werden – und zwar richtig. Sie wollen Teil der Story sein, sie miterleben. Ein kurzfristiger Hype? Wohl kaum. Jugendliche von heute wachsen damit auf und werden diese Art Journalismus einfordern. Medienhäuser, die sich diesem Bedürfnis verwehren, werden sich in Zukunft also schwertun.

Ein Medium, das für diese neue Form von Journalismus äußerst interessant sein kann, ist Augmented Reality (AR), was sich am aktuellen Beispiel des Augmented-Reality-Spiels Pokémon Go demonstrieren lässt. Was auf den ersten Blick wie ein einfaches Game wahrgenommen wird, zeigt das sich eröffnende Potenzial: eine Kombination aus Erzählung und interaktiven Elementen – angesiedelt in der realen Umgebung. Die Logik lässt sich leicht auf andere Bereiche übertragen. Geschichten lassen sich interaktiv erzählen und verknüpfen dabei den Ort des Geschehens mit kontextsensitiven Elementen.

Augmented Reality – Schnittstelle zwischen realer und digitaler Welt

Augmented Reality erweitert die reale Umgebung eines Benutzers mit digitalen (teilweise ortsbasierten) Informationen (Text, Bild, Video, interaktive Elemente, (3-D-)Animationen). Hält man die Kamera eines Mobilgerätes auf ein reales Objekt, ein Bild oder einen Marker (künstliches Symbol), erscheinen auf dem Display Zusatzinformationen. Wie in jeder Mobile-App können die Objekte bequem per Touchscreen, Gesten oder Sprache gesteuert und die gewünschten Inhalte aufgerufen werden.

Der Schlüssel: Kontext-Bezug

Journalismus sammelt Informationen, verarbeitet diese und ordnet sie ein. Nach dieser wertvollen Dienstleistung besteht nach wie vor ein großes Bedürfnis. Aber in den vergangenen Jahren haben sich unsere Gewohnheiten, wie wir Informationen aufnehmen und Medien nutzen, stark verändert. Auf uns prasselt täglich eine Unmenge an wichtigem und unwichtigem Content ein. Zu viel, als dass wir sämtliche Informationen verarbeiten könnten. Dieser Kampf um Aufmerksamkeit stellt für News-Produzenten eine große Herausforderung dar. Man kann nicht mehr darauf vertrauen, dass Inhalte automatisch den Weg zum Empfänger finden. Vielmehr sehen sich Journalisten mit der zusätzlichen Aufgabe konfrontiert, die Inhalte aktiv zum Konsumenten zu bringen.

Hier kann Augmented Reality helfen, da durch die Technologie Informationen kontextbezogen ausgespielt werden können. Dies ist ein großer Vorteil, denn: Haben Informationen einen Bezug zur momentanen Aktivität oder zum Aufenthaltsort der Rezipienten, werden Inhalte deutlich stärker wahrgenommen. AR hebt also bisherige Schranken auf und stellt die Informationen genau dort zur Verfügung, wo sie gebraucht werden. Der Rezipient sieht und erlebt die „Geschichte“ unmittelbar an Ort und Stelle.

Augmented Reality kommt dem Bedürfnis der Konsumenten nach Einbezug entgegen. Denn das Publikum wird eingeladen, Reportagen und Geschichten auf eine neue Art und Weise zu erleben. Es eröffnen sich neue Perspektiven. Bis jetzt waren Journalisten die Gatekeeper: Sie entschieden, wo sie den Fokus bei einer Geschichte legen und welchen Ausschnitt sie zeigen. Als Leser war man dieser Subjektivität ausgeliefert. AR bietet nun die Möglichkeit, diesen Blickwinkel zu öffnen. Journalisten können eine Geschichte durch beliebig viele Zusatzinformationen, Nebenstränge und andere Zugänge erweitern und bieten so dem Gegenüber die Chance, sich vertiefter mit einem Thema auseinanderzusetzen und je nach persönlichen Interessen einen eigenen Fokus zu wählen.

Augmented Reality vs. Virtual Reality

Augmented und Virtual Reality sind ein Geschwisterpaar, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Dennoch verbindet die beiden eines: Der Benutzer steht im Zentrum. Während VR geschlossen und komplett immersiv ist – hier wird der Benutzer in eine virtuelle Welt verfrachtet –, ist AR offen und nur partiell immersiv: die reale Umgebung wird mit digitalen Inhalten ergänzt.

Man kann davon ausgehen, dass auch Virtual Reality (VR) künftig eine wichtige Rolle bei der Berichterstattung spielen wird, insbesondere das Thema 360-Grad-Videos. Erstmals kann der Reporter seine Zuschauer mitnehmen und ihnen denselben Blick ermöglichen, den er als Berichterstatter hat. Zugegeben: Diese Form der Darstellung steht erst am Beginn. Gleichzeitig bietet diese frühe Phase Journalistinnen und Journalisten viel Spielraum für Experimente, um auszutesten, welche Inhalte sich besonders eignen und in welchem Kontext man sich eher für AR oder für VR entscheiden sollte.

Anwendungsmöglichkeiten im Journalismus

Print – zum Leben erwacht
In den letzten Jahren haben bereits diverse Zeitungen und Magazine AR-Sequenzen in ihren Ausgaben verwendet. Als eines der ersten Magazine erschien der Stern bereits im Jahr 2011 mit AR-Inhalten. Weitere folgten, bevor die Eßlinger Zeitung ein Jahr später als erste deutschsprachige Tageszeitung Augmented Reality einsetzte. Weitere Titel experimentierten mit unterschiedlichen Konzepten. So startete die Welt beispielsweise mit einer AR-Ausgabe, die vor allem die Möglichkeiten für Anzeigenkunden aufzeigen sollte.

Zugegeben: Über den Mehrwert für den User ließ sich bei einigen der ersten Gehversuche streiten. Vieles davon war Gimmick. Aber das ist bei neuen Technologien häufig der Fall. Spinnt man aber den Faden weiter, erkennt man, wo die Reise hingehen kann. Dossiers oder Reportagen in der Printausgabe lassen sich beispielsweise mit Statistiken und Grafiken anreichern, welche die Leser selber durchforschen können. Komplexe Sachverhalte können anhand von Infografiken erklärt und einsichtig aufbereitet werden. Ein wichtiger Pluspunkt: Print ist statisch. Was einmal gedruckt ist, kann nicht mehr verändert werden. Verknüpft mit AR lässt sich das umgehen, denn die weiterführenden Inhalte können stetig aktualisiert werden.

Eine Zeitung, die AR seit 2013 konsequent einsetzt, ist der regionale Weser-Kurier. Täglich erwarten die Abonnenten der Printausgabe zusätzliche Infos, Umfragen, Videos und Hintergrundtexte. Der Leser wird in den Fokus gerückt und multisensual mit journalistischen Inhalten beliefert – ein gutes Argument für die Paid-Content-Strategie des Verlags. Den Journalistinnen und Journalisten wiederum bietet sich so die Möglichkeit, bei Themen mehr in die Tiefe zu gehen und verschiedene Zugangsmöglichkeiten zu liefern.

Investigativ-Recherchen greifbar und erlebbar machen
Dass Augmented Reality dafür eingesetzt werden kann, investigative Recherchearbeit sichtbar zu machen, zeigt eine Anwendung von Sunlight Labs. Umgesetzt wurde diese mithilfe des AR-Browsers „Layar“, der auf die Kamera des Smartphones zugreift und das Bild mit digitalen Inhalten anreichert. In diesem Fall wurden von der US-Regierung veröffentlichte Daten verwendet, um die im Rahmen eines Konjunkturprogramms finanzierten Projekte mit Geo-Tags zu versehen (hier wurden also Breiten- und Längengrade zugeordnet). Auf einem Spaziergang durch die Straßen von Washington D.C. konnten interessierte User mithilfe des Smartphones Straßenzüge nach den verwendeten Geldern oder Subventionen scannen.

News und Berichte geo-referenzieren
Geo-Lokalisierung wird heute hauptsächlich bei Verkehrsmeldungen und bei Wetterprognosen eingesetzt. Dabei könnten die Archive von Newsproduzenten dafür genutzt werden, um Informationen über die Welt um den Leser herum aufzuzeigen. Ein Beispiel sind hier verschiedene Web- und Mobildienste in Großbritannien, die nach dem Muster von Layar (siehe oben) funktionieren und auf Datensätze zugreifen, welche die britische Regierung in maschinenlesbarem Format auf der Website data.gov.uk veröffentlicht hat.

Dass Medienhäuser von dem Smartphone-Spiel Pokémon Go lernen können, zeigt sich beispielsweise am Start-up „Bloom“. Dieses hat einen Geolocation-Plugin für Verlage entwickelt („Bloom for publishers“), den News-Produzenten auf ihrer Website installieren können. Dadurch lassen sich Artikel mit Ortskennungen versehen. Die Leser wiederum können dann in der Suche Postleitzahl und/oder Straße eingeben und erhalten ortsbezogene Neuigkeiten dazu geliefert.

In Deutschland spielt die Stadt Frankfurt den Vorreiter mit einer Plattform von und für Bürger. „Frankfurt Gestalten“ dokumentiert lokalpolitische Ereignisse und Entwicklungen der Stadtgestaltung. Die zugrunde liegende Datenbank (gespeist aus dem Parlamentsinformationssystem der Stadt Frankfurt) wird mit Schlagworten und Ortsdaten angereichert. Dabei geht das Projekt Fragen nach wie: Was entscheiden Politiker in meiner Nachbarschaft? Was passiert in meiner Straße? Bürger können Vorlagen online diskutieren oder selbst einreichen. Journalisten können dies wiederum für ihre lokale Berichterstattung aufgreifen – oder auch für andere Städte ein derartiges Angebot aufsetzen. Bis dato gibt es zwar noch keine Augmented-Reality-Variante, aber da die Ortsdaten eh schon hinterlegt sind, wäre das nur noch ein kleiner Schritt.

Die (zwar nicht journalistische) Anwendung „Züri wie neu“ zeigt Möglichkeiten im Bereich User-generated Content auf. Mit der App können Bewohner der Stadt Zürich Mängel und Schäden an der städischen Infrastruktur melden. Im gleichen Stil kann das auch für hyperlokalen Journalismus (Leserreporter) eingesetzt werden.

Ausblick

Zusammengefasst lässt sich erkennen, dass Augmented und Virtual Reality den Journalismus bereichern werden. Journalisten erhalten neue Möglichkeiten, um ihr Publikum auf interessante und unterhaltsame Art und Weise mit Informationen und Geschichten zu versorgen. Jüngere Generationen wachsen mit den neuen digitalen Technologien auf und erwarten einen interaktiven Journalismus. Im Vordergrund muss aber nach wie vor die Information bzw. die Geschichte stehen – und nicht die Technologie an sich. Lediglich eine App zu bauen, reicht nicht aus. Nur durch Qualität in der Berichterstattung wird eine AR- oder VR-Anwendung erfolgreich.

Augmented und Virtual Reality werden sich schnell weiterentwickeln. Insbesondere im Bereich „Datenbrillen“ tut sich im Moment einiges. Microsoft setzt mit seiner Brille auf Mixed Reality und will damit ausdrücken, dass es einen Weg zwischen beiden Realitäten gibt. Magic Leap, ein von Google finanziertes Start-up, scheint in dieselbe Richtung zu zielen. Obwohl es kaum Informationen zur Entwicklung der Brille gibt, lässt sich bereits der Ansatz erkennen: Der Anwender soll die Möglichkeit haben, damit sowohl AR als auch VR zu konsumieren.

Die Technologie ist verfügbar. Jetzt liegt es an den Content-Produzenten, etwas daraus zu machen. Wer sich früh damit beschäftigt, der kann Erfahrungen im Umgang mit den neuen Möglichkeiten sammeln. Wie müssen News aufbereitet sein? Welche Bedienkonzepte sind sinnvoll? Wie lässt sich eine interaktive und immersive „User Experience“ schaffen? Das sind die entscheidenden Fragen, die über den Erfolg von AR und VR im Journalismus entscheiden werden.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Portrait_Nathaly_Tschanz 10.31.48Dirk SchartDie Autoren Nathaly Tschanz und Dirk Schart haben 2015 das Praxishandbuch „Augmented Reality für Marketing, Medien und Public Relations“ herausgegeben. Nathaly Tschanz ist bei Ringier Axel Springer Schweiz als Leiterin digitale Inhalte für das Magazin „Beobachter“ tätig. Dirk Schart ist Head of Marketing und PR beim Münchner AR- und VR-Unternehmen Re’flekt.

 

Kommentare sind geschlossen.