Hitler im Interview: Der „völkische Faselant“
Eine Rezension zu Lutz Hachmeisters „Hitlers Interviews. Der Diktator und die Journalisten“ (2024).
Adolf Hitler gab mehr als 100 Interviews und war eine begehrte „Trophäe“, mit der man sich in Medienkreisen gern schmückte. Lutz Hachmeister analysiert in seinem Buch „Hitlers Interviews“ diese nicht nur im zeithistorischen Kontext, sondern beleuchtet auch die Medienstrategien dahinter. Zudem liefert er Informationen zur Anbahnung der Interviews sowie zu den ReporterInnen und legt so manch gelungene Instrumentalisierung offen.
745 Reden von Adolf Hitler sind nach derzeitigem Forschungsstand bekannt. Stimme und Redeweise des Diktators machen es vielen einfach, diese zuzuordnen. Weniger bekannt ist die einzig erhaltene „private“ Tonbandaufnahme: das sogenannte Hitler-Mannerheim-Gespräch. Im Buch „Hitlers Interviews. Der Diktator und die Journalisten“ verweist der Autor Lutz Hachmeister auf das Timbre des Diktators, der in seinen Reden bewusst leise zu sprechen begann, ehe er sich in rhetorische Ekstase hocharbeitete. Gleich zu Beginn erklärt der Autor, „dass sich Hitlers Bierhallenreden, Volksansprachen, diplomatische Verhandlungen, ,Tischgesprächeʻ oder die intimeren Interviewsituationen im Grundsatz nicht unterscheiden. Es sind letztlich nur situative Varianten, mehr oder weniger kalkuliert, der immer gleichen sterilen Überredungskommunikation.“
Der „völkische Faselant“, wie er Hitler bezeichnet, sah in der Pressefreiheit zwar die tödlichste Gefahr für den Staat, doch verstand er es geschickt, die Presse für sich einzusetzen. „Denn wenn zum Beispiel in einer Stadt von zwölf Zeitungen jede über denselben Vorgang etwas anderes schreibe, so müsse der Leser zu der Überzeugung kommen, dass alles Quatsch sei. Die öffentliche Meinung laufe dann der Presse aus dem Ruder und sei zum Schluss in keiner Weise mehr mit ihr identisch, so Hitler am 15. April 1942 abends in der Wolfsschanze“, wie Hachmeister eingangs zusammenfasst. Ein gefundenes Fressen für den in historischen Fragen versierten Autor.
„Putzi“ und Co: die Strategen
Schon im Buch „Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel und die SS“ (2014) beschäftigte sich der Journalist, Publizist und Medienwissenschaftler Hachmeister mit der Vorgeschichte und den Hintergründen eines (einzigen) Interviews: jenem unrühmlichen Gespräch zwischen SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein, SPIEGEL-Ressortleiter Georg Wolff und Martin Heidegger, der darin versuchte, seine NS-Vergangenheit zu verschleiern. Im erst posthum vom Philosophen freigegebenen Interview unterwanderte das renommierte Magazin seine eigenen journalistischen Qualitätsstandards, um eine Veröffentlichung zu garantieren.
Im Hinblick auf die letzte Publikation des jüngst verstorbenen Autors ist dies ein interessanter Querverweis. Denn in dieser analysiert Hachmeister mehr als 100 Interviews inklusive ihrer Vorgeschichten anhand von Originalquellen und Archivmaterial im zeithistorischen Kontext. Er verweist auf die Verflechtungen der ReporterInnen und Propaganda-Strategen Hitlers und zeigt, unter anderem anhand der wegbereitenden Tätigkeiten von NSDAP-Auslandspressechef Ernst „Putzi“ Hanfstaengl und George Sylvester Viereck, einem deutsch-amerikanischen Schriftsteller und Propagandisten, wie der NS-Apparat funktionierte.
Interviews und Hintergründe
Die von Hachmeister analysierten Hitler-Interviews erstrecken sich über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Das 384 Seiten umfassende Buch ist mehr oder weniger chronologisch aufgebaut, wobei die acht Kapitel durch Epi- und Prolog ergänzt werden. Zu Beginn widmet sich der Autor der wohl wichtigsten Devise der damaligen Zeit: Hitler reden lassen. Er beschäftigt sich mit Chefstrategen wie Hanfstaengl, den US-Interviews zwischen 1922 und 1941 sowie den Interviews britischer Korrespondenten. Im Kapitel „Faking Hitler“ geht Hachmeister auf Undercover-JournalistInnen und Scharlatene ein, während er sich in „Nazi Megaphone“ auf den amerikanischen Diplomaten John Cudahy fokussiert, der das letzte Interview mit Hitler führte. Besonders spannend ist auch der Epilog „Wie interviewt man einen Diktator – und warum überhaupt?“, in dem der Autor die Dynamik zwischen Medien und Diktatoren oder Autokraten hinterfragt. Der Anhang bietet mit einer Auflistung aller Interview-Quellen, dem Personenregister und weiteren Angaben noch Vertiefungsmöglichkeiten.
Hachmeister setzt in Verbindung, klärt über Zusammenhänge auf und macht deutlich, wie damals gearbeitet wurde. Die gut recherchierten biografischen Skizzen der JournalistInnen liefern Hintergrundwissen, das die Anbahnung der Hitler-Interviews, die Schwierigkeiten und Besonderheiten des jeweiligen Gesprächs – ebenso wie dessen Auswirkungen – ideal einbetten. Zum einen streicht der Autor positive Beispiele hervor, er deckt jedoch ebenso gnadenlos auch schlechte Vorbereitung auf.
Hachmeisters kritische Haltung sorgt immer wieder für Highlights. So bemerkt er lapidar: „Bei der Hitler-Biografik fällt auf, dass in den letzten Jahrzehnten Seitenumfang und Erkenntnisgehalt zunehmend in umgekehrtem Verhältnis zu stehen scheinen.“
Wechselwirkungen
„Jedem ausländischen Korrespondenten, der in jenen Jahren in Deutschland war, wurde als berufliches Hauptziel ein Treffen mit Adolf Hitler aufgetragen. Hitler galt als der interessanteste Mensch in ganz Deutschland. (…) Sein Buch ,Mein Kampf‘ war überall Diskussionsthema. Hitler war eine Berühmtheit, lange ehe er die Mehrheit hinter sich hatte“, so der faschistische Journalist Filippo Bojano.
Hachmeister thematisiert auch die Frage nach bestellten Interviews und bespricht die sich wechselseitig verstärkenden Prominenzeffekte zwischen StarjournalistInnen und politischen Führungsfiguren. Querverweise zu Donald Trump und der AfD sorgen zusätzlich für Aktualität.
Dem Hitler-Interview von George Sylvester Viereck widmet der Autor ein eigenes Kapitel. 2007 wurde es vom britischen Guardian als „wertvolle zeithistorische Quelle“ nachgedruckt. Viereck, eine Art Lobbyist der Nationalsozialisten, wirkte als Berater und Redenschreiber. Das deutsche Auswärtige Amt hielt ihn für seinen „wertvollsten Verbindungsmann“ in den USA. Der Podcast „Ultra“ von Rachel Maddow zeigt auf beeindruckende Weise, wie Viereck agierte: Er bezahlte Mitglieder des US-Kongresses dafür, Propaganda der Hitler-Regierung zu verbreiten, und nutzte die Frankierprivilegien ihrer Büros, um Nachdrucke derselben in den Vereinigten Staaten zu verschicken. Kurzum: der amerikanische Steuerzahler kam für die Kosten auf. Doch zurück zum Interview: Obwohl Viereck ein Propagandist war, fragte er den ausgewiesenen Antisemiten Hitler explizit zur Behandlung „des Juden“. Hitlers Antwort: „Wir würden ihm die bürgerlichen Rechte nehmen. (…) Die Juden sind nicht deutsch. Sie sind ein fremdes Volk in unserer Mitte und offenbaren sich als solches.“ Das Interview fand 1923 statt.
Hitler: unpünktlich und desinteressiert
Hitler war, wie Hachmeister schreibt, nicht nur unpünktlich, sondern auch desinteressiert – sowohl an den Interviews als auch an den InterviewerInnen. Zudem verlangte er von den Befragenden, dass sie, wenn sie schon nicht „hundertprozentige Nazis, so doch zumindest faszinierte Bewunderer seines Genies seien“. Hanfstaengl, der auch dolmetschte, habe dabei jedoch wohl oft als „entgiftender Filter“ gewirkt. Sigrid Lilian Schultz, nach „übereinstimmendem Urteil ihrer Kollegen die bestinformierte US-Journalistin im NS-Reich“, hat ein Exklusivinterview mit Hitler abgelehnt, da man zehn Cent pro Hitler-Wort verlangte. Damit sollte wohl die Parteikasse aufgebessert werden.
Im Kapitel „Champagner in Al Capones Presseclub“ erklärt der Autor die Wichtigkeit von Benito Mussolini für Hitler und die Zusammenhänge der (nicht) realisierten Interviews. Spannend sind nicht nur Hachmeisters messerscharfe Analysen, sondern auch manch eingestreute Zusatzinformation wie jene, dass der virile Italiener Hitler als Mann nicht ernst nahm. Hitler-Fotos mit nacktem Oberkörper, wie sie der Duce von sich verbreiten ließ – und die heute an entsprechende Inszenierungen des russischen Präsidenten erinnern – wären undenkbar gewesen, so Hachmeister.
Wer von Hachmeisters Buch längere Interviewauszüge erwartet, wird enttäuscht. Diese Auslassung mag anfangs irritieren, doch war der Abdruck längerer Zitate wohl aufgrund der inhaltlichen Wiederholungen nicht sinnvoll. Die eingeflochtenen Zusätze, Vergleiche und Zitate tragen den Autor manchmal etwas weit vom Thema fort, doch gerade das Drumherum beherrscht er meisterhaft. Dies führt dazu, dass man den Text nur ungern aus der Hand legt.
Darf man das?
Im Epilog betrachtet Hachmeister einige ausgewählte Interviews von Diktatoren aus aller Welt. Er berichtet vom Interview der italienischen Journalistin und Autorin Oriana Fallaci mit Ruhollah Musavi Khomeini, während dessen sie sich vor dem Moslemführer des Tschadors entledigte. Hachmeister lobt dies als „ein bemerkenswertes Dokument journalistischer Integrität und eines kompetenten und kompromisslosen Journalismus, ein bis heute gültiger großer Moment in der Geschichte des Journalismus“.
Der Autor zeigt aber auch, welche Chancen mangelhafte Vorbereitung und Hintergrundwissen für ein starkes Gegenüber bedeuten können. Jörg Schönenborn, damaliger WDR-Chefredakteur, wurde 2013 von Wladimir Putin vorgeführt. Doch noch schlimmer als gescheiterte Interviews mit Diktatoren sind jene, „die gar keine sind“; Hachmeister prangert dabei die fehlende Distanz der „unkritischen Erfüllungsgehilfen“ an. Abschließend führt er aus, dass sich JournalistInnen in demokratischen Mediensystemen fragen sollten, „ob letztlich die Propagandaeffekte für den Tyrannen, der häufig mit Großmachtansprüchen auch demokratische Systeme des Auslands aushebeln möchte, nicht gewichtiger sind als alle kurzfristigen Nachrichtenwerte und Scoops“. Die Geschichte der Hitler-Interviews liefert dazu entscheidende Hinweise.
Fazit
Mit „Hitlers Interviews“ ist Hachmeister ein hochinteressanter Text gelungen, der weit über das Versprechen des Titels hinausgeht. Im zeithistorischen Kontext verankert, macht der Autor die Verflechtungen und Hintergründe deutlich, die es bei diesem Thema zu berücksichtigen gilt. Das Buch liest sich anregend und niemals wissenschaftlich trocken – in Anbetracht der Thematik keine leichte Übung. Aber wie schon die FAZ in einem Nachruf über Hachmeister schreibt: „Andere zu langweilen gehörte nicht zu seinen Eigenschaften …“
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Lutz Hachmeister: „Hitlers Interviews. Der Diktator und die Journalisten. Mit zahlreichen Abbildungen“
Preis: 28 € (D) und 28,80 € (A) (Hardcover)
Umfang: 384 Seiten
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00240-9
Der Autor Lutz Hachmeister, 1959 – 2024, war Medienredakteur des Tagesspiegel und Direktor des Grimme-Instituts sowie Präsident des Internationalen Film- und Fernsehfests in Köln und Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik. Er zählte zu den bekanntesten deutschen Dokumentarfilmern. Seit 2014 war er Mitglied im Beirat von Transparency Deutschland. Er schrieb zahlreiche Sachbücher und drehte Dokumentarfilme zu medien- und zeithistorischen Themen, u. a. „Schleyer – Eine deutsche Geschichte“, „Das Goebbels-Experiment“ und „Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel und die SS“.
Die Rezensentin Carola Leitner, Dr. phil., promovierte 2016 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet(e) als Buchhändlerin, Buchproduzentin, Lektorin und Reise- und Kulturjournalistin. Tätigkeit für den Residenz Verlag, Ueberreuter, Metro Verlag, die Tageszeitung Der Standard oder ORF.at. Sie unterrichtet Journalismus an der FH Wien der WKW sowie Verlagswesen an der Universität in Wien, wo sie derzeit lebt und arbeitet.