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Storytelling: „Der Datenjournalismus ist im Alltag angekommen“

Interview mit Sascha Venohr, Head of Data Journalism bei "Zeit Online"

Er arbeitet bei „Zeit Online“ als Head of Data Journalism im Investigativ- und Datenteam: Sascha Venohr (45). Was den Datenjournalismus ausmacht, ob dieser seinen Zenit bereits überschritten hat und was er Nachwuchsjournalisten jedweden Ressorts empfiehlt, erzählt er im Interview mit dem Fachjournalist.

Herr Venohr, vermutlich werden Sie des Öfteren gefragt: Datenjournalismus, was ist das eigentlich? Wie beschreiben Sie Ihren Beruf?

Ich erzähle Geschichten auf Basis von Daten. Datenjournalismus ist eine relativ junge Form der journalistischen Erzählweise, bei der man im Prinzip mit einer einzigen Grafik die Geschichte erzählen kann. Diese mündet häufig in interaktive Visualisierungen, wo die Leser die Möglichkeit haben, selbst mit diesen Elementen zu spielen.

Für das interaktive Datenstück „Deutsche Bevölkerung: Stadt, Land, Vorurteil“ wurden Sie und Ihr Team 2017 mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet und waren 2018 damit für den Nannenpreis nominiert. Sie schreiben außerdem Artikel wie „Straßenbilder – Mozart, Marx und ein Diktator“, „Mietpreisbremse: Wer soll das noch bezahlen?“ oder „Zeitumstellung: Wie viele helle Stunden hat Ihr Tag?“. Wie gehen Sie dabei vor? 

Nehmen wir das Beispiel „Wie viele helle Stunden hat Ihr Tag?“: Da haben wir uns gefragt: Wie können wir berechnen, wann die Sonne an verschiedenen Orten der Erde auf- und untergeht? Das Ganze lässt sich übrigens mit einer einzigen Formel berechnen. Als ich mit den errechneten Daten gespielt habe, war ich selbst überrascht, dass die Menschen im Schwarzwald am längsten Tag des Jahres ganze 77 Minuten weniger Tageslicht als die Rügener an der Ostsee haben.

Es ist natürlich für den Leser faszinierend, in der interaktiven Visualisierung für jeden Tag des Jahres abzulesen, wann an seinem Wohnort die Sonne auf- und untergeht. Oder nach der Eingabe seiner Postleitzahl zu sehen, was sich verändern würde, wenn auf die Sommerzeit verzichtet oder sie zur Dauerlösung würde.

Arbeiten Datenjournalisten vorrangig im Team?

Ganz klar: Datenjournalismus ist Teamarbeit, denn meist sind es aufwendige Recherchen und technische Umsetzungen. Bei Zeit Online sind wir insofern verwöhnt, als wir  eine professionelle Arbeitsteilung haben: Ich bin der, der in Daten wühlt, Muster erkennt und darin idealerweise erzählungswürdige Geschichten findet. Dazu kommt das Interaktiv-Team mit Programmier- und Designhintergrund, das die Geschichten anspruchsvoll visualisiert. Diese Teamarbeit ist natürlich eine Frage von Ressourcen. Nicht jede Lokalredaktion kann sich das unbedingt leisten. Hier gibt es aber viele Visualisierungstools, die Datengeschichten auch ohne Programmierer präsentierbar machen.

Welche Fähigkeiten muss man für diese Art des Journalismus mitbringen?

Was man beherrschen muss: in Datensätzen zu arbeiten. Das fängt klassisch mit einem Tabellenkalkulationsprogramm wie Excel an. Mittlerweile sollte man auch in der Lage sein, Daten in größerem Maßstab zu sammeln und zu analysieren – mit Werkzeugen wie R (Anm. d. Red.: R ist eine freie Programmiersprache für statistische Berechnungen und Grafiken.). Und eventuell sollte man die Geschichte auch noch visuell erzählen können.

Man redet immer von Big Data, einer komplexen Datenfülle, die nutzbar gemacht werden muss. Wie gelangen Sie an die Daten, die Grundlage für Ihre Geschichten sind?

Wir fangen nicht selten mit einem leeren Datenblatt an, weil es den benötigte Datensatz da draußen noch gar nicht gibt. Dann arbeiten wir investigativ und sammeln die Daten selbst. Aber klassischerweise existiert bereits ein strukturierter Datensatz. Beispielsweise vom Statistischen Bundesamt. Oder ein Whistleblower spielt uns  eine umfangreiche Datenbank zu. Es können auch digitale Dateisammlungen sein wie eine digitale Ermittlungsakte, die uns über andere Kanäle erreicht.

Es ist nicht immer so, dass man eine Anfrage stellt und die Auswertung bekommt – häufig muss man die Daten erst einmal lesbar machen. Es kommt vor, dass die Dokumente Tabellen enthalten, die allerdings nur als Grafik gespeichert sind. Dann muss man sie erst mit einer Texterkennung maschinenlesbar machen.

Es gibt viele Informationen im Internet, die zusammengeführt einen Datensatz ergeben. Die muss ich mit meinen technischen Tools einsammeln und bündeln, um sie auszuwerten. Ein Beispiel: Ich möchte wissen, wie viele Tweets es zum Hashtag MeToo gab, wann der große Peak auf Twitter war, wann es eventuell noch mal ein neues Aufflackern gab.

Oder man nutzt Webscraping: Viele Informationen stecken hinter Suchformularen. Bei der Frage „Wie viele Orthopäden gibt es in Berlin?“ kann ich die Ärztekammern anfragen, klassisch über ein Portal online suchen und händisch wegspeichern oder ein Stück Programmiercode, ein Script, schreiben, das alle Orthopäden nach Postleitzahlen sortiert für mich einsammelt. Dann kann ich am Ende eine Karte zeichnen mit allen Orthopäden in der Hauptstadt und diesen Datensatz verheiraten mit anderen Datensätzen wie Einwohnerzahlen oder Einkommen: Wie viele Orthopäden kommen auf einen Einwohner in einem bestimmten Stadtteil? Und ich kann so die Frage beantworten, ob sich Fachärzte eher da ansiedeln, wo Leute mit einem höheren Einkommen wohnen.

Wie ist Ihre Vorgehensweise, wenn Sie diese Daten vorliegen haben?

Zunächst gilt das Gleiche wie bei allen journalistischen Arbeiten: Wir müssen die Quelle verifizieren – woher kommen die Daten? Dann prüfe ich, ob der Datensatz das beinhaltet, was er verspricht, ob er vollständig ist oder Lücken aufweist. Das Besondere: Wir suchen nach Mustern in den Daten, um das Erzählbare zu finden. Was sind die höchsten, was die niedrigsten Werte, was ist der Durchschnitt? Bei chronologischen Datensätzen beispielsweise kann man versuchen, mit einfachen Visualisierungstools Kurven darzustellen, um Trends zu erkennen.

Dann steigt man in die klassische Recherche ein: Warum ist das so? Oder ist dem Menschen, der den Datensatz angelegt hat, ein Fehler unterlaufen? So hangelt man sich von der Qualitätskontrolle vor hin zur Mustersuche. Im Idealfall lässt man sich überraschen von einer spannenden Geschichte, die in den Daten steckt. Häufig gibt es aber auch Fälle, wo man den Deckel wieder draufmacht, weil keine Geschichte drin ist.

Hätten Sie gedacht, dass Sie mal in diesem Bereich tätig sind? Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?

Anfang der 1990er-Jahre habe ich Jura studiert, aber nicht abgeschlossen. Denn parallel habe ich für eine Lokalzeitung gearbeitet und mich dann komplett auf den Journalismus eingelassen. Im Jahr 2000, zur New-Economy-Phase, bin ich zu einem Internet-Unternehmen gewechselt. Einem Jobportal, über das man Stellen finden oder als Unternehmen aufgeben konnte. Dort habe ich viel über das Arbeiten für das Onlinemedium gelernt – und erkannt: Dieses Medium möchte ich weiter bespielen. 2002 bin ich in die Online-Redaktion des Hessischen Rundfunks nach Frankfurt gewechselt,  in eine Schnittstellenfunktion zwischen Redaktion und Technik. Meine Aufgabe war es beispielsweise, das Content-Management-System der Redaktion konzeptionell weiterzuentwickeln. Dieses Konzept musste ich so formulieren, dass die Programmierer damit arbeiten konnten. Als Zeit Online 2009 einen Entwicklungsredakteur suchte, beschrieb die Stellenausschreibung exakt das, was ich beim HR gemacht hatte. Ich habe also den Schritt aus dem öffentlich-rechtlichen System wieder zurück in den freien, privaten Markt gewagt und bereue es bis heute nicht.

Wie wurde aus dem Entwicklungsredakteur dann ein Datenjournalist?

In der Entwicklunsgredaktion waren alle Projekte vom Zusammenspiel von Redaktion und Technik geprägt. Und da wir auch viel mit Designelementen gearbeitet haben, haben wir irgendwann gesagt: Lasst uns unser Know-how bündeln und erste datenjournalistische Projekte ausprobieren. Das war zum Glück vom ersten Versuch an erfolgreich und irgendwann hieß es: Sascha, Du darfst Dich nun ganz auf Datenjournalismus konzentrieren.

Seit wann gibt es überhaupt Datenjournalismus?

Das ist eine Frage der Definition. Computer-assisted reporting, CAR, gibt es schon sehr lange. Schon Ende der 1960er-Jahre wurden Datensätze ausgewertet, um auf dieser Basis Artikel zu schreiben. Das datengetriebene Erzählen hat mit dem Siegeszug des Internets an Beschleunigung zugenommen. Die große Zäsur kam mit den rasant steigenden Möglichkeiten, die moderne Internetbrowser darstellen können: zum Beispiel umfangreiche interaktive Karten.

Dieser zentrale Mehrwert hat den Datenjournalismus, wie wir ihn heute kennen, gepusht. Datenjournalismus hat zwar nicht zwingend mit Interaktivität zu tun – aber das sind natürlich die großen Leuchtturmprojekte, die Datenjournalismus sichtbar und auch erlebbar gemacht haben.

Ihr Kollege Lorenz Matzat behauptet: „Letztlich lautet meine Prognose, dass es selbstverständlich Datenjournalismus weiter geben wird. Es wird immer wieder den ein oder anderen beachtenswerten Leuchtturm geben. Doch sehe ich darüber hinaus wenig Anzeichen, dass eine Weiterentwicklung des Datenjournalismus stattfindet und annähernd sein Potential ausgeschöpft wird. Das Genre wird in seiner Nische bleiben, die hierzulande eher schrumpfen wird. Seinen Zenit, so scheint es mir, hat der Datenjournalismus schon überschritten.“ Was sagen Sie dazu?

Da widerspreche ich vehement: Der Datenjournalismus fristet kein Nischendasein, er ist im Alltag angekommen, auch wenn es vielleicht weniger Leuchtturmprojekte, große Spektakel mit viel Tamtam und hoher Sichtbarkeit, gibt. Der Datenjournalismus ist aus dem Journalismus nicht mehr wegzudenken; die Grundlage für zukünftige Recherchen werden auch immer Daten sein. Und es gibt jeden Tag mehr Daten.

Wenn ich sehe, wie bereichernd datenjournalistische Projekte für den journalistischen Alltag sind, mache ich mir überhaupt keine Sorgen, dass es – zumindest in großen Medienhäusern – immer Datenjournalismus-Teams geben wird.

Welchen Tipp geben Sie jungen Kollegen: Inwiefern sollten sie sich datenjournalistisches Know-how aneignen?

Über ein datenjournalistisches Grundrüstzeug sollte jeder Nachwuchsjournalist – unabhängig davon, ob er explizit Datenjournalist werden will oder nicht – verfügen, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Das muss aus meiner Sicht in jeder heutigen Journalistenausbildung vermittelt werden. Egal, in welches Ressort er später geht: Er sollte in einem klassischen Datensatz arbeiten und Muster erkennen können.

Dabei muss ja am Ende gar nicht immer eine Datengeschichte herauskommen. Es gibt viele mächtige Tools wie Excel oder Google Spreadsheets, eine onlinebasierte Form der Tabellenkalkulation, die einem in der täglichen Arbeit in der Redaktion sehr helfen – beispielsweise, um die Recherche zu strukturieren oder als Team in einem Dokument zu arbeiten. Man sollte in der Lage sein, eine Adressliste auf eine Karte zu übertragen, um etwa zu sehen, wie weit die Menschen voneinander entfernt leben. Diese Arbeit mit Geodaten kann Ableitungen für die Geschichte bringen. Und man sollte Werkzeuge beherrschen, um Daten in einer Grafik in einen maschinenlesbaren Text umzuwandeln, damit man beispielsweise nicht mühsam eine Tabelle abtippen muss.

Auch wenn die elektronischen Helferlein für jeden Journalisten nützlich sind: Ist es sinnvoll, sich zu spezialisieren, wenn man sich dem Datenjournalismus verschrieben hat?

Es gibt auch eine thematische Fokussierung bei Datenjournalisten, denn es wird immer bestimmte Bereiche geben, in denen man eine inhaltliche Expertise hat. Und natürlich kann der eine besser mit Geodaten arbeiten und der andere eher einen Webscraper schreiben, der Daten einsammelt. Aber unterm Strich kann man schwer arbeiten, wenn man nur das eine kann und das andere nicht. Jeder Datenjournalist sollte seinen digitalen Werkzeugkasten so im Griff haben, dass er den ressortübergreifenden Anforderungen gerecht werden kann.

Für mich besteht der Reiz im Datenjournalismus gerade darin, dass man in der Mitte der Redaktion sitzt. Das ist gerade das Faszinierende: In einer Woche arbeite ich an einer Sportgeschichte, weil gerade die Fußball-Weltmeisterschaft läuft, in der Woche danach arbeite ich an einer investigativen Story mit Impact. Meine Arbeit ist so vielfältig, wie der Journalismus es generell ist.

Herr Venohr, vielen Dank für das Gespräch.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Foto: BOERNER PHOTOGRAPHER

Sascha Venohr wurde am 16. Juli 1973 im hessischen Lich geboren. Als Head of Data Journalism und Redakteur Investigativ/Daten bei „Zeit Online“ hat er dort datenjournalistische Darstellungsformen zu einem festen Bestandteil des Storytellings gemacht. Für internationales Aufsehen sorgte dabei die Visualisierung von Handy‑Vorratsdaten, die 2011 u. a. mit dem Grimme Online Award und erstmals als deutsche Website mit einem Online Journalism Award ausgezeichnet wurde. Dazu kamen Reporterpreise (Kategorie Datenjournalismus) in den Jahren 2016 und 2017. Die aktuellen Projekte von Zeit Online werden auf https://www.zeit.de/datenjournalismus gebündelt. Darüber hinaus ist er Co-Organisator von Hacks/Hackers Berlin. www.twitter.com/venohr

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