Fotobuch: „While We Bleed“ – Leben und Sterben in der Ukraine sichtbar gemacht
Buchbesprechung und Interview mit dem Fotografen Jan Grarup.
Der Kriegsfotograf Jan Grarup zeigt in einem bildgewaltigen Buch seine Sicht auf das Leid der Menschen in der Ukraine aufgrund der russischen Invasion. Im Interview spricht er über seine Arbeit und über seine Projekte um die Fotografien herum: Buch, Ausstellung bei freiem Eintritt (Eröffnung: 18. November in Kopenhagen), Website und Bildfolgen auf Instagram.
Es ist der größte und blutigste Krieg mitten in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Leben und Tod gleich hinter der polnischen Ostgrenze in der Ukraine, nur etwa 1.350 Kilometer von der deutschen Hauptstadt Berlin entfernt. Dokumentiert auch anhand von Reportagen in einem fünf Kilogramm schweren Fotobuch, das im November 2023 im Verlag Book Lab ApS in englischer und dänischer Sprache erschienen ist, in Bosnien gedruckt wurde und ausschließlich online bestellt werden kann.
Beim Blättern immer wieder großformatige Aufnahmen der Zivilbevölkerung, die einen als Leser in ihren Bann ziehen. Leere lange Blicke ins Nirgendwo gerichtet. Sieht man in diese Augen, scheint es wie ein Blick auf den Grund des Ozeans. Diese Sprachlosigkeit der Menschen angesichts der erfahrenen Gewalt spiegelt sich in den beeindruckenden Aufnahmen in Schwarzweiß.
Brüche überall. Man sieht Fotos, auf denen sich inmitten von Bombentrümmern alte Hochzeitsbilder aus glücklicheren Tagen finden. Dazwischen zutiefst menschliche Momentaufnahmen, in denen eine Mutter ihrer Tochter liebevoll aus einem Buch vorliest, beide während eines Bombenalarms in der U-Bahn-Station aneinander gekuschelt. Alltägliche Szenenbilder, in denen ein Jugendlicher mit dem Smartphone vor aufgestapelten Sandsäcken spielt. Auf anderen Fotos bricht der Schmerz sich freie Bahn und man sieht fremden Menschen dabei zu, wie sie ihr Leid allein kaum bewältigen können.
Zerstörte Infrastruktur, zerstörte Leben, zerstörte Seelen. Nichts ist mehr, wie es war. Man wird Zeuge, was die russische Invasion in der Ukraine angerichtet hat. Auf einem anderen Foto steht ein Klavier in einer ausgebombten Wohnung, der Blick wandert weiter durch die fehlende Außenwand auf Ruinen zerstörter Häuser. Eine Foto-Doppelseite dokumentiert die schieren Mengen an Granaten, Schrapnellen und Raketen, die in der Ukraine seit Kriegsbeginn niedergegangen sind. An der Front Bilder von Soldaten, die mit angstweiten Augen aus dem Schützengraben starren: Drohnen sind dort allgegenwärtig, sowohl russische als auch ukrainische. Schlamm, grauer Himmel, Baumgerippe.
Vieles erinnert an diese bedrückenden Schwarz-Weiß-Bilder in den Geschichtsbüchern, die in der Schule vom Zweiten Weltkrieg Zeugnis gaben. Bilder wie aus einer anderen Zeit. Don McCullins berühmtes Foto aus der Schlacht um Hue in Vietnam, der shell-shocked US Marine, kommt einem in den Sinn. Die Kriegszitterer aus dem Ersten Weltkrieg. Es wiederholt sich alles.
Es sind Luftaufnahmen mit Bombenkratern zu sehen und erschöpfte Menschen, die neben Kuscheltieren von Walt Disney im Bunker ruhen. Auf einem anderen Bild liegt ein toter Mann auf der blühenden Wiese vor einer einsamen Landstraße im Nirgendwo. Das Gesicht bereits halb verwest, der Mantel bedeckt den nackten Bauch kaum, vergessen und verloren. Man sieht schockierende Fotos mit Leichengruppen, die einen ratlos zurücklassen. Katzen und Singvögel, die in zerstörten Heimen ausgehungert auf Herrchen und Frauchen warten. Die nicht mehr nach Hause kommen.
Man begreift, dass mitten in Europa ein gnadenloser Krieg auch gegen Zivilisten stattfindet. Es sind nicht nur die Bilder der Toten, die berühren. Es sind vor allem die Bilder der Lebenden, die versuchen, in diesem Wahnsinn aus Gewalt und Zerstörung zu überleben, zu kämpfen, zu funktionieren.
„Every other catastrophe could be overcome, they said, but living through war was worse than death.“ – Victoria Belim, „The Rooster House“ (aus: While we Bleed, Zitat auf Seite 99)
Der Bildband „While We Bleed“ (2023) in Englisch/Dänisch ist eine Dokumentation über das Grauen in der Ukraine. Festgehalten von einem der bekanntesten Fotojournalisten unserer Zeit: Jan Grarup hat bereits unzählige Kriege und Konflikte auf der ganzen Welt fotografiert und wurde dafür auch mehrmals mit Preisen ausgezeichnet. Mit einem Text von dem Journalisten Adam Holm, der die Ukraine zweimal bereiste und darüber auch für Weekendavisen geschrieben hat. Mit einem Vorwort von Lech Walesa.
Interview mit Jan Grarup: „Wir haben bei der Bevölkerung unglaubliches Leid gesehen“
Herr Grarup, Sie sind ein erfahrener Kriegsfotograf und Ihre Arbeit wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Was haben Sie bei der Recherche für Ihr Fotobuch „WHILE WE BLEED“ in der Ukraine erlebt?
Ich bin in 140 Tagen rund 18.000 Kilometer mit dem eigenen Kleinbus in dem Land umhergereist und musste alles an erforderlicher Technik vorher selbst zusammenstellen, von Satellitentelefon bis Bordheizung. Dort ist das alles Luxus und kaum zu bekommen.
Wie andere Kollegen auch habe ich überwiegend in Privathäusern übernachtet, denn viele ukrainische Hotels gelten als Treffpunkt von Journalisten und können jederzeit von der russischen Armee bombardiert werden. Spätestens wenn man sich der Frontline nähert, sollte deshalb auch das Presseschild am Wagen entfernt werden: Alle Hinweise auf Journalisten werden von der russischen Seite als Aufforderung zur Eliminierung unerwünschter Beobachter wahrgenommen. Die Arbeit vor Ort ist also unglaublich riskant und gefährlich, selbst im Hinterland in den Städten kann sich die Situation ständig ändern. So wurden wir an einem Tag von einem russischen Kampfhubschrauber angegriffen. Ein Sicherheitsmitarbeiter von Reuters wurde bei Bombenangriffen getötet, während wir dort waren.
Natürlich haben wir mit lokalen Fixern und Field Producers gearbeitet, aber auch diese werden manchmal von der Dynamik des Krieges überrascht. Überhaupt unterscheidet sich der Ukrainekrieg von vorherigen Kriegen dadurch, dass dort ständig Drohnen über einem kreisen und die Bedrohung permanent ist. Auf der einen Seite also Panzerschlachten wie im Zweiten Weltkrieg und auf der anderen Seite hochmoderne Technologie wie Drohnen und Internet, die von beiden Seiten eingesetzt wird.
Und wir haben bei der Bevölkerung natürlich unglaubliches Leid gesehen. Diese Menschen müssen mit den täglichen Gefahren vor Ort zurechtkommen, die können nicht einfach nach Beendigung einer Reportage heimfahren.
Sie haben auf Instagram Bilder zu „Cellar Ghosts“ veröffentlicht. Alte Menschen, die in ihren Häusern im Keller vegetieren, wie Gespenster. Was haben Sie noch vor Ort bei der Bevölkerung gesehen?
Es scheint eine Generationenfrage zu sein, wie die ukrainische Bevölkerung mit den Schrecken des Krieges umgeht. Während jüngere Menschen oft eher Flucht und Exil wählen, bleiben viele Ältere lieber in ihren Häusern und wählen den eigenen Keller als Bunker. Dort leben sie dann tatsächlich wie Gespenster und verbringen viel Zeit damit, apathisch im Bett zu liegen. Diese Menschen sind oft alleinstehend, haben keine Familie mehr und fürchten sich vor der Ungewissheit der Flucht oder Obdachlosigkeit.
Ohnehin sind die seelischen Wunden kaum zu begreifen, die hier durch diese entfesselte Gewalt entstanden sind. Wie sind sehr, sehr oft auf schwer traumatisierte Menschen getroffen, die engste Familienangehörige oder auch Ehepartner verloren haben. Das zu heilen wird Generationen dauern. Aber es hat diesen Menschen etwas geholfen, dass sie uns ihre Geschichten erzählen konnten, dass jemand die Wahrheit dokumentiert. Und es gibt im Krieg auch immer sehr menschliche Momente, die festgehalten werden sollten.
Gehört der Terror gegen die Zivilbevölkerung zur Strategie der russischen Kriegsführung in der Ukraine?
Absolut. Ich habe das bereits in Syrien schon so erlebt, wo die russische Armee ebenfalls gezielt Krankenhäuser oder Trinkwasseranlagen bombardiert hatte. Das macht diesen Krieg in der Ukraine so brutal. Das ist Teil der Militärstrategie Russlands: Terror. Und das betrifft uns alle.
Somit ist das Fotobuch auch keine leichte Kost geworden. Wir haben dafür bewusst auch Fotos ausgewählt, die von vielen Tageszeitungen oder Magazinen niemals veröffentlicht worden wären. Und wenn die Ukraine den Krieg verlieren sollte, dann wird der Westen ein ernsthaftes Problem mit dieser russischen Militärstrategie haben. Ein neues Europa wird gerade in der Ukraine definiert, mit neuen Blöcken. Die alte Ordnung löst sich dort gerade auf.
Welche Schwierigkeiten gab es bei der Arbeit und später bei der Produktion des Buches?
Die ukrainische Seite verfolgt natürlich auch eigene Interessen. Insofern muss man vor Ort an der Frontline durchaus sensibel arbeiten, ansonsten droht der Verlust der Presse-Akkreditierung. Man wird an der Front also ständig von Drohnen überwacht. Selbst das Posten zum Beispiel auf Instagram wird beobachtet, denn es könnten ja sensible Informationen für den Feind dabei sein.
Beide Seiten betrachten westliche Journalisten daher mit Misstrauen. Wir haben erlebt, wie ein italienischer Journalist seine Akkreditierung verloren hat. Wie heißt es so schön: In jedem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. So sind die Verluste an ukrainischen Soldaten immens, aber entsprechende Bilder oder Informationen darüber sind natürlich unerwünscht. Und ukrainischen Soldaten ist nunmehr die Nutzung von dem Messenger-Dienst Telegram untersagt worden, weil der Betreiber russisch ist.
Bei der Herstellung hatten wir mit enormen Kosten zu kämpfen, da die Druckqualität von sehr hoher Güte ist. Somit kamen bei der Finanzierung verschiedene Marketingmaßnahmen zum Einsatz, darunter Crowdfunding, Spendenaufrufe oder die klassischen Vorbestellungen im Buchhandel. Damit konnten wir die Kosten stemmen und haben auch auf einen bezahlbaren Preis geachtet. Eigentlich müsste der Band bei dem Umfang und in dieser Top-Qualität mindestens 150 Euro kosten, aber der aktuelle Buchpreis liegt bei knapp 70 Euro. Dadurch sollen möglichst viele Leser erreicht werden.
Ich habe den Bildband in Dänemark in vielen Buchläden gesehen und dort auch mit vielen Menschen gesprochen, die das Werk zu Hause haben. Noch etwas zum Fotobuch?
Es geht darum, den Menschen zu erklären, dass die russische Kriegsmaschinerie sich ausdrücklich gegen Zivilisten richtet. Die Leserschaft soll durch ein unabhängiges Dokument einen realen Eindruck bekommen, wie unglaublich brutal dieser Krieg geführt wird. Es ist der gleiche Terror gegen Zivilisten wie in Syrien. Es geht darum zu zeigen, was es heißt, wenn das eigene Land von einer fremden Macht wie Russland angegriffen wird. Und das betrifft uns Europäer alle.
Das Buch reflektiert mit seiner sperrigen Form, einem Umfang von rund 500 Seiten und dem Gewicht von fünf Kilogramm aber auch die besondere Tiefe des Inhalts. In Ergänzung dazu bereite ich gerade in Kopenhagen in alten Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg eine Ausstellung mit den Bildern aus dem Band vor.
Rezension und Interview: Ralf Falbe
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Buchdaten:
Titel: While We Bleed (2023) erschienen bei Book Lab.
Fotograf: Jan Grarup / Autor: Adam Holm
Mit einem Vorwort von Lech Walesa.
Grafikdesign: Nethe Ellinge und Spine Studio
Umfang: 496 Seiten / Format: 280 x 380 mm
Preis: 495 DKK.
Sprache: Englisch
ISBN: 9788794091206