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„Als Korrespondent ist man oft ein Übersetzer“

Dominique Eigenmann ist seit 2015 Deutschland-Korrespondent des Schweizer Tages-Anzeiger. Im Interview mit dem Fachjournalist erzählt er über seinen Arbeitsalltag in Berlin und die Unterschiede im deutschen und schweizerischen Journalismus.

Wie sind Sie Korrespondent geworden?

Ich war beim Tages-Anzeiger in Zürich bei der Hintergrundredaktion jahrelang für die außenpolitischen Themen zuständig. Als Korrespondent zu arbeiten war für mich schon immer sehr reizvoll. Leider war dies aus familiären Gründen lange Zeit nicht möglich. Meine damalige Frau und ich hatten zwei kleine Kinder und sie einen verantwortungsvollen Job, den sie nicht aufgeben wollte. Ich war dann erst einmal acht Jahre lang Nachrichtenchef.

Wie ging es dann weiter?

Ich verliebte mich in der Schweiz in eine Berlinerin, die eine Professur an der Freien Universität Berlin bekam. Da habe ich meine Chefs gefragt, ob ich als Deutschland-Korrespondent nach Berlin gehen könne. Sie sagten ja.

Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?

Das Korrespondentenleben ist ein sehr ungeregeltes Leben, im Guten wie im Schlechten. Man hat relativ viele Freiheiten; ich habe zum Beispiel keine Redaktionssitzungen. Mein Rhythmus richtet sich aber natürlich nach dem der Redaktion in Zürich; das bedeutet, dass ich schon morgens eine Idee davon haben muss, über was ich an diesem Tag berichte. Oder meine Redaktion will Montagfrüh wissen, was die Woche über ansteht. Es kommt häufig vor, dass am späten Nachmittag noch etwas passiert – und dann ist auch der Abend mit Arbeit gefüllt. Es gibt aber auch Tage, an denen man ganz frei ist, weil nichts passiert.

Kurz gesagt: Einen typischen Tag gibt es nicht.

Haben Sie ein festes Büro oder arbeiten Sie von zu Hause aus?

Ich habe ein Büro in der Bundespressekonferenz, so, wie viele deutsche Regionalzeitungen und ausländische Zeitungen auch. Aber ich arbeite mittlerweile relativ oft zu Hause. Das hat einfach den Vorteil, dass ich nicht zuerst ins Regierungsviertel fahren muss und am Abend wieder zurück.

Welche Rolle spielt Deutschland in der Auslandsberichterstattung des Tages-Anzeiger?

In der deutschsprachigen Schweiz ist das Interesse an Deutschland grundsätzlich sehr groß. Wir teilen ja auch einen Teil unserer Medienöffentlichkeit: Alle Schweizer schauen ARD und ZDF, oft Nachrichten, aber auch Talk-Sendungen, lesen deutsche Zeitschriften wie den Spiegel und Zeitungen wie die Zeit, aber auch FAZ und Süddeutsche. Das Wissen über deutsche Politik ist ziemlich groß. Das hat den Vorteil, dass man nicht alles in seinen Artikeln neu erklären muss.

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) hat ein Deutschland-Büro in Berlin, das erst kürzlich erweitert wurde. Was ist der Unterschied zwischen der NZZ und dem Tages-Anzeiger?

Die beiden Medien verfolgen ganz unterschiedliche Strategien. Die Neue Zürcher Zeitung konzentriert sich vorrangig auf ihre eigene Stärke und Unabhängigkeit. Sie kooperiert nicht mit anderen Zeitungen, um Kosten zu sparen, und hat deswegen eine relativ große, teure Redaktion. Der Leser- und Anzeigenmarkt in der deutschsprachigen Schweiz ist aber auf Dauer wohl zu klein, um ein solches Angebot zu refinanzieren. Also liegt für die NZZ die Strategie nahe, den viel größeren deutschen Markt stärker anzuvisieren. Das macht sie unter anderem mit dem ausgebauten Berliner Büro und einem deutschen Portal.

Der Tages-Anzeiger hingegen liefert für fast ein Dutzend Regionalzeitungen in der Schweiz den Mantelteil. Die Redaktionskosten werden geteilt, entsprechend kann günstiger produziert werden. Gleichzeitig steigt die Reichweite: Meine Artikel über Deutschland erreichen so rund eine Million Leser am Tag. Um weitere Kosten zu sparen, teilt der Tages-Anzeiger zudem seit einigen Jahren sein Auslandkorrespondentennetz mit der Süddeutschen Zeitung.

Hat der Tages-Anzeiger also keine Ambitionen, wie die NZZ mehr auf deutsche Leser zu setzen?

Bei uns kommen die allermeisten unserer Online-Leser aus der deutschsprachigen Schweiz. Darauf konzentrieren wir uns.

Welche deutschen Medien schätzen Sie? Haben Sie ein Lieblingsmedium?

Die Süddeutsche ist meine Lieblingszeitung. Als linksliberal gesinnter Mensch fühle ich mich bei ihr zum einen politisch gut aufgehoben. Zum anderen schätze ich, dass sie sich immer Gedanken macht, wie sich Geschichten erzählen lassen. Sie hat dabei ein besonderes Flair entwickelt. Ich mag auch ihren Themenzugriff und ihr Temperament.

Daneben schätze ich die Zeit sehr, weil sie als Wochenzeitung einen Blick auf das Ganze wirft, also einen weiten Horizont hat. Dort lese ich oft Gedanken, die ich in der Tagespresse noch nicht gelesen habe. Das regt mich an. Spiegel und FAZ schätze ich auch, den einen für seine Recherchen, die andere für ihren analytischen Zugang. Zudem lese ich den Berliner Tagesspiegel. Ich finde, man sollte unbedingt eine Tageszeitung lesen aus der Stadt, in der man lebt, um zu begreifen, was um einen herum passiert.

Gibt es einen Unterschied zwischen Schweizer und deutschen Medien?

Ich glaube schon, dass es einen Unterschied gibt. In Deutschland werden Debatten härter, aus meiner Sicht aber oft auch hysterischer geführt.

Woran liegt das?

Das Meinungsklima ist in Deutschland seit der Flüchtlingskrise 2015 grundsätzlich härter geworden. Das ist eine Entwicklung, die in der Schweiz nicht im gleichen Maße stattgefunden hat. Ich denke, dass das „mit härteren Bandagen Kämpfen“ eine stärkere Kultur in Deutschland hat. Die Auseinandersetzungen zielen weniger auf Konsens und Harmonie als in der Schweiz.

Ein anderer Unterschied: Deutsche Zeitungen interessieren sich vorrangig für ihr eigenes Land. Im Kleinstaat Schweiz und seinen Medien scheint mir das Interesse an der Welt größer. An der Welt wiederum interessieren deutsche Medien vor allem die anderen großen Mächte. In der Schweiz gibt es auch Interesse an Ländern wie Österreich oder Luxemburg, die als Kleinstaaten in einer ähnlichen Situation sind wie die Schweiz. Das wiederum interessiert in Deutschland wenig, scheint mir.

Zudem schaut die Schweiz von außen auf Europa, da es kein Mitglied der EU ist. Aus Deutschland nimmt man Europa entsprechend anders wahr.

Wie unterscheidet sich Schweizer vom deutschen Journalismus?

Ich habe nie bei einer deutschen Redaktion gearbeitet, aber aus meinen Gesprächen mit Kollegen scheint mir, dass deutsche Redaktionen erheblich hierarchischer geordnet sind als schweizerische. In der Schweiz ist der Teamgedanke sehr stark, bis hinein in Ressortleitungen und Chefredaktionen. Ich kann das beurteilen, weil ich früher eine Redaktion mit geleitet habe. In der Schweiz siegt in der Regel das stärkere Argument. Die Autorität hängt an der Stärke des Arguments. Das ist, glaube ich, in Deutschland in vielen Großredaktionen anders. Da sagen die Chefs an, was sie haben möchten, die Korrespondenten und Redakteure schwärmen aus, um es herbeizuschaffen. Das hat Vor- und Nachteile.

Welche Unterschiede gibt es noch?

Der Zeitdruck ist in Deutschland größer als in der Schweiz. Viele überregionale Zeitungen haben einen sehr frühen Redaktionsschluss. Wenn die Zeitung um 16 Uhr schon fertig sein soll, fehlt eine Menge Zeit, die man für weitere Recherchen oder Gespräche oft wünschen würde. Wir beim Tages-Anzeiger haben um 23 Uhr Redaktionsschluss, das heißt, dass am Abend noch relativ viel möglich ist.

Ich muss aber auch sagen: Angesichts dessen, dass in Deutschland der erste Redaktionsschluss so früh ist, sind die Leistungen enorm. Mich beeindruckt, was große Medien innerhalb einer Stunde noch aus dem Boden stampfen. Das ist nur möglich, weil viele Leute extrem schnell und leistungsfähig sind und Berichterstattungen oft in Teams gepoolt werden.

Worüber wollen Sie in Deutschland noch berichten?

Ich habe große Lust, das Ende der Ära Merkel und den Übergang in die Nach-Merkel-Zeit mitzuerleben und zu analysieren. Keiner weiß heute so richtig, wie es ausgehen wird. Insofern wird es spannend. Trotz des Überdrusses mit der aktuellen Großen Koalition halte ich es für wahrscheinlich, dass Deutschland eine neue Große Koalition bekommen wird – einfach eine schwarz-grüne anstelle der schwarz-roten. Ob die Änderungen dann so groß sind, wie sich viele Deutsche heute wünschen oder wie manche wohl auch befürchten, wird man sehen.

Außerdem möchte ich das Land noch besser kennenlernen. Dazu hatte ich relativ wenig Zeit, weil politisch so viel los war in den letzten fünf Jahren: Alle Parteien haben neue Chefs bekommen, die AfD und die Grünen sind in der Wählergunst dramatisch aufgestiegen, die Volksparteien schrumpfen, Einwanderung und Klima werden extrem kontrovers diskutiert. Ich war zum Beispiel noch nie in Rheinland-Pfalz, ich kenne Schleswig-Holstein fast gar nicht, war wenig in Baden-Württemberg – was im Grunde absurd ist: Baden-Württemberg grenzt nicht nur direkt an die deutschsprachige Schweiz, sondern bildet mit ihr einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Was in diesem Bundesland passiert, ist also von direkter Bedeutung für die Schweiz. Gleichzeitig ist Baden-Württemberg der Teil Deutschlands, den die Schweizer am besten kennen und wo die Unterschiede zur Schweiz vermutlich am kleinsten sind.

Am größten sind die Unterschiede bestimmt im Osten der Republik. Deswegen war ich in den letzten fünf Jahren sehr häufig dort unterwegs. Ich kenne Dresden, Leipzig, Görlitz, Erfurt, Jena viel besser als Tübingen, Heidelberg, Kassel, Trier oder die alte rheinische Bundesrepublik. Ich war zum Beispiel noch nie in Münster und habe schon Lust, da mal hinzufahren.

Welche deutschen Themen sind in der Schweiz gefragt?

Berlin-Geschichten kann man nicht genug schreiben. Sehr viele junge Schweizerinnen und Schweizer reisen gerne nach Berlin, haben vielleicht schon dort gelebt und wollen viel über diese Stadt lesen. Für München interessieren sich die Leute erstaunlicherweise viel weniger, auch für Hamburg, obwohl beide Städte bedeutend und auch anderweitig sehr interessant sind. Berlin hat in der Schweiz eine Sexyness, die Leserinnen und Leser einfach anspricht.

Wie kommen Sie zu Ihren Themen?

Oft wird mein Interesse beim Lesen anderer Medien geweckt. Dabei schätze ich ab, ob das für mich und meine Leserinnen und Leser ein relevantes Thema ist. Manchmal komme ich auch auf Themen, wenn ich mir überlege, worüber ich bisher noch nicht berichtet habe.

Selbstverständlich führen einen Begegnungen und Personen zu Themen: die Partnerin, Freunde, Kinder, Kollegen. Was im jungen Berlin passiert, bekomme ich etwa überwiegend über unseren 18-jährigen Sohn mit. Meine Freundin ist Professorin, ich weiß also ziemlich genau, was in der Bildungslandschaft läuft. Über die Nachbarn erfährt man viel und man weiß natürlich auch, was in der Straße so läuft. Wenn zum Beispiel die Litfaßsäule wegkommt und alle fragen sich, wohin verschwinden jetzt die Litfaßsäulen? Was ist da los? Was haben die eigentlich für eine Geschichte? Dann hat man eine Story, die interessant sein kann.

Andererseits werden in deutschen Medien oft Themen und Fragen behandelt, die ein deutsches Publikum wohl mehr interessieren als ein schweizerisches.

Zum Beispiel?

Beispielsweise die Frage nach den Grenzen des politisch Sagbaren. Das ist ein sehr deutsches Thema. Den Schweizer Lesern muss man erst erklären, warum das ein Thema ist.

In der Schweiz gibt es nicht so offensichtliche Grenzen. In Deutschland sind sie Folge einer katastrophalen geschichtlichen Erfahrung, es gibt Auseinandersetzungen darüber, und zwar permanent. Vieles davon interessiert mich als Leser – mein Schweizer Publikum aber wahrscheinlich weniger.

Als Korrespondent ist man oft ein Übersetzer. Ich versuche bei vielen Themen jene Aspekte aufzugreifen, die für ein Schweizer Publikum von Interesse oder von Belang sind. Die deutsche Debatte um eine neue Regelung der Organspende beispielsweise war für mein Schweizer Publikum auch deswegen interessant, weil in der Schweiz dieselbe Entscheidung bald ansteht – und die Abstimmung vermutlich anders ausgeht.

In Berlin gibt es viele Hintergrundkreise, sogenannte informelle Treffen zwischen Politikern und Journalisten. Ausländische Journalisten in Deutschland beklagen oft, dass in Deutschland viele Informationen darüber laufen und die Politik in Deutschland zu wenig nahbar ist. Teilen Sie die Kritik?

Jedenfalls stimmt es, dass wir zu den Treffen der Hintergrundkreise in den Ministerien oder im Kanzleramt nicht eingeladen werden. Meines Wissens gilt das aber auch für kleinere deutsche Zeitungen und Medien. Wir ausländischen Medien haben immerhin mit dem Verein für Auslandspresse, VAP, ein gutes Gegenmittel dafür.

Der Verein für Auslandspresse lädt regelmäßig, zwei-, dreimal die Woche, zu Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern ein, auch mit Ministern, die zu Hintergrundgesprächen mit der Auslandspresse bereit sind. So kommen wir immerhin einmal im Jahr zum Außenminister, zur Justizministerin, zum Wirtschaftsminister. Dort kann man im kleineren Rahmen als in der Bundespressekonferenz selber Fragen stellen und erhält einen direkten Eindruck von wichtigen Persönlichkeiten. Das macht den genannten Nachteil zum Teil wett.

Also sind Sie über den Verein der Auslandskorrespondenten organisiert?

Genau. Neben mir stellen dann die japanische und der ägyptische Journalist ihre Fragen, die natürlich oft auch die Beziehung Deutschlands zu deren Heimatland betreffen. So erhält man nebenbei auch einen Eindruck von anderen ausländischen Wahrnehmungen.

So gewinnt man mehr Informationen, als wenn man nur auf die Bundespressekonferenz und die Medienkonferenzen der Ministerien, Parteien oder des Kanzleramts angewiesen wäre.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Dominique Eigenmann, geboren 1967, hat in Zürich und Paris Germanistik und Philosophie studiert. Er arbeitet seit 1994 als Journalist beim Schweizer Tages-Anzeiger und ist seit 2015 dessen Deutschland-Korrespondent. Davor war er acht Jahre lang Nachrichtenchef der Zeitung.

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