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Dem Parlament auf den Mund geschaut: Tools und Sites für den politischen Journalismus

Wer über Politik berichtet braucht (tages)aktuelle, zitierfähige und gut navigierbare Originalquellen. Dazu gehören Plenarprotokolle und Videomitschnitte aus dem Bundestag, aber auch interne Protokolle, Mails und Dokumente aus den Behörden. Letztere stehen Journalisten dank Presserecht und Informationsfreiheitsgesetz zu. Wir stellen mit Open Parliament TV, abgeordnetenwatch.de und FragDenStaat drei Portale vor, die Journalisten für ihre Recherchen nutzen können.

Christian Lindner hasst Schulden. Das macht er gerne öffentlich – so auch im Juni 2021, bei der Verabschiedung der Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag. Im April 2022, inzwischen in der Regierungsverantwortung, kündigte Lindner dann allerdings selbst 100 Milliarden Euro Schulden an. Den wundersamen Gesinnungswandel hat ZEIT Online in einem Beitrag ausführlich analysiert.

Video und Text: das Portal Open Parliament TV

Besonders eindrücklich wird das Stück durch einen integrierten Textlink zum Portal Open Parliament TV (OPTV). Wer ihm folgt, kann Lindners letztjährige Kritik an der schwarz-roten Schuldenregierung noch einmal in voller Länge und Ausführlichkeit nachlesen und nachhören – im Text des Plenarprotokolls, inklusive Zwischenrufe und Applaus, und im Videomitschnitt der Rede. Wer durch das Textprotokoll scrollt, kann einzelne Textstellen anklicken und sich so prägnante Aussagen Lindners im Video immer wieder ansehen. Im Zusammenspiel mit der ZEIT-Analyse lässt sich das zwischenzeitliche Umfallen des FDP-Politikers so noch besser darstellen – ein Video sagt mehr als 1.000 Worte.

Genau solche journalistischen Einsatzszenarien machen OPTV zu einem wertvollen Tool für alle, die in der politischen Berichterstattung und Analyse unterwegs sind. Wer über die Entstehungsgeschichte politischer Entscheidungen, die Arbeit einzelner politischer Protagonisten oder einfach über das tägliche „Werden“ von Politik berichtet, findet hier reichhaltiges, gut aufbereitetes, schnell durchsuchbares und vor allem zitierbares Quellmaterial.

Joscha Jäger, Gründer, Projektleiter und Mastermind hinter OPTV, ist stolz auf sein im Oktober gestartetes Portal. Gleichzeitig will er sich aber nicht mit fremden Federn schmücken: „Die Quellen, aus denen wir OPTV speisen, waren bereits vor unserem Launch öffentlich zugänglich. Die Videos aus dem Bundestag gab es in der Bundestagsmediathek und die Wortprotokolle der Sitzungen, die Plenarprotokolle, bei bundestag.de.“ Das Verdienst von Jäger und seinem Team ist es unter anderem, auf OPTV diese Quellen auf einer gut navigierbaren Oberfläche zusammengeführt, synchronisiert und leicht erschließbar gemacht zu haben.

Über die OPTV-Volltextsuche mit einem Schlüsselwort gefundene Redebeiträge (abgerufen am 17.5.2022)

Bisher nutzen Journalisten – neben den Videos – vor allem die reinen Textversionen der Plenarprotokolle. Diese werden allerdings vom Bundestag erst am nächsten Werktag veröffentlicht. Debatten am Freitag sind also erst am Montag online nachzulesen und bei Landtagen dauert es teilweise mehrere Wochen bis zur Veröffentlichung. Für die tagesaktuelle Berichterstattung ist das äußerst hinderlich. Dabei sind diese Protokolle äußerst wertvolle Quellen, auch, weil sie so viele weitere Informationen über die Sitzungen enthalten, etwa Zwischenrufe oder Applaus.

Joscha Jäger, Gründer und Projektleiter von openparliament.tv. (© Joscha Jäger)

„Wir überlegen deshalb gerade, wie man den schneller zugänglichen Videostream für die journalistische Nutzung besser aufbereiten kann. Etwa mit maschinellen Verfahren, die mithilfe von Spracherkennung die Streams nach Stichworten durchsuchbar machen. Das alles als Überbrückung, bis die Plenarprotokolle da sind. Die haben halt den unschätzbaren Vorteil, dass sie kuratiert, mehrfach korrigiert und somit direkt zitierfähig sind“, sagt OPTV-Gründer Joscha Jäger.

Mit seinem Team baut er inzwischen bei OPTV noch weitere Features ein, die den journalistischen Einsatz unterstützen. So soll man zum Beispiel kleine Videoszenen, Zitate und einzelne Aussagen ausschneiden und teilen können, etwa auf dem eigenen Twitter- oder Facebook-Account. „Dadurch, dass wir den Text der Plenarprotokolle mit den Videos verknüpfen, kann man akkurat die Zeitpunkte im Video und die Textstellen finden und sie dann auch noch mit weiteren Quellen verknüpfen, etwa mit Erklärvideos der Bundeszentrale für politische Bildung, bpb, oder mit Wikipedia-Inhalten“, stellt Jäger in Aussicht.

All das ist – wie fast immer – auch eine Frage der finanziellen Mittel. Letztes Jahr konnte Jäger das OPTV mit einer Förderung des Medieninnovationszentrums Babelsberg (MIZ) in Höhe von etwa 37.000 Euro aufgleisen. Jetzt fahndet er nach Finanzierungsquellen für den weiteren Ausbau und die Verstetigung der Plattform. „Wir suchen Stiftungen, Parlamente und Förderer, die uns finanzieren. Und es sieht momentan ganz gut aus“, freut sich der Nürnberger, der sich selbst auch als Creative Technologist und Researcher bezeichnet.

Während OPTV Plenarmaterialien ab dem Jahr 2017 bereitstellt, können Journalisten übrigens auf der Plattform www.opendiscourse.de auch auf die Texte der Plenarprotokolle seit 1949 zugreifen. Dort gibt es zudem (grafische) Analysen von Redebeiträgen der Parlamentarier, filterbar nach Themen und Parteien.

Der Blick auf die Finger: abgeordnetenwatch.de

Auch abgeordnetenwatch.de ist als Portal eine wertvolle Informationsquelle für die politische Berichterstattung. Die Kollegen dort nutzen ebenfalls Inhalte von OPTV.

So sind auf abgeordnetenwatch.de zum Beispiel alle Abgeordneten, die Direktkandidaten der Wahlen zum Bundestag sowie zu den Landesparlamenten und auch die deutschen EU-Abgeordneten mit einem eigenen Profil vertreten. Dieses enthält wichtige Zusatzinformationen, etwa zu ihren Nebentätigkeiten (inklusive Vergütungskategorie), zu ihrem Abstimmungsverhalten oder zu ihren Ausschussmitgliedschaften.

Seit abgeordnetenwatch.de (2004) gelauncht wurde verfolgt das Portal das Ziel, zu mehr Transparenz und Beteiligung im politischen und demokratischen Leben beizutragen. So kann man dort „seinen“ Kandidaten öffentlich sichtbar eine Frage stellen. Man findet sie schnell über den Namen oder die Postleitzahlsuche. Die Frage und die Antwort (sofern sie erfolgt) sind dann langfristig öffentlich online und recherchierbar. Man kann sich die Fragen und Antworten auch thematisch nach Themen gefiltert anzeigen lassen. Am Profil von Christian Lindner hängen übrigens viele Fragen und kaum Antworten zu seiner Finanzpolitik.

Léa Briand, Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei abgeordnetenwatch.de. (© Kim Sperling)

Neben dem Frage-Antwort-Bereich gibt es die Rubriken Recherchen und Kampagnen. Weshalb, erklärt Léa Briand, die die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Plattform verantwortet. “Wir haben irgendwann festgestellt, dass es doch viele dunkle Ecken in den Parlamenten und Abgeordnetenbüros gibt, die durch Bürgerfragen nicht ausgeleuchtet werden können. Deshalb haben wir selbst damit begonnen, investigative Geschichten zu recherchieren, meistens zu den Themen Lobbyismus, Einflussnahme auf die Politik oder zu Parteispenden“, erklärt Briand.

Bei solchen Recherchen arbeitet abgeordnetenwatch.de selbstständig oder im Verbund mit anderen Medien, etwa dem SPIEGEL, dem STERN oder der ZEIT. „Mit der ZEIT hatten wir zuletzt recherchiert, dass Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder nicht nur für Gazprom, sondern auch für einen großen Versicherungsverband bei Abgeordneten lobbyiert hat“, berichtet Briand. Da die Plattform nicht wie die Partnermedien unter Veröffentlichungsdruck steht und von einem gemeinnützigen Verein getragen wird, kann sie sich mehr Zeit lassen bei ihren investigativen Recherchen. Inzwischen startet sie auch eigene politische Kampagnen und Petitionen, etwa zum Thema Lobbyismus.

Vielleicht eine best practice für Journalisten: Mit den Videos aus dem OPTV triggert das Team von abgeordnetenwatch.de seine Stories über die sozialen Medien. „Wir suchen dann auf OPTV über die Stichwortsuche nach Wortbeiträgen von Ministern und Abgeordneten zu Themen wie Lobbykontrolle oder Parteispendenregulierung. Durch die Einbindung der Videoausschnitte in unsere Posts bei Twitter, Facebook, Instagram und Co. kann unser Social-Media-Team dann publikumswirksam auf unsere Beiträge hinweisen. Das ist auch deshalb so wichtig, weil wir zu abstrakten Themen arbeiten und uns OPTV mit seinen Videos gut bei der Vermittlung unterstützen kann“, freut sich Briand.

FragDenStaat verschafft Durchblick im Behördendschungel

FragDenStaat ist ein kostenloses gemeinnütziges Projekt der Open Knowledge Foundation Deutschland. Bürger können sich über fragdenstaat.de an Behörden wenden, Anfragen stellen und Unterlagen anfordern, die danach öffentlich zugänglich auf dem Portal abrufbar sind. Ähnlich wie abgeordnetenwatch.de startet auch FragDenStaat eigene Recherchen und Kampagnen.

Wer als Bürger eine öffentliche Kampagne oder eine Initiative plant und sein Anliegen mit Fakten unterfüttern möchte oder wer als Journalist eine Geschichte oder Quelle recherchiert, kann die Plattform nutzen. Journalisten dürften besonders von einer Passage des Imagevideos angesprochen werden, die verspricht: „Informationen, die in der öffentlichen Verwaltung an verschiedenen Stellen verteilt sind, können zusammen eine interessante Geschichte ergeben.“ Dazu sieht man die Grafik einer Zeitungsseite mit der Headline „Skandal“.

Aktuell steht auf der Anfragenseite unter anderen auch die Anfrage #246239 an die Bundesnetzagentur. Auslöser der Anfrage ist ein Interview des Behördenchefs in der ZEIT „zur möglichen Einschränkung der Gasversorgung für private Haushalte“. Der anonyme Antragsteller bittet die Behörde „um alle Unterlagen (z. B. Sprechzettel, Vorlagen, Kommunikation), die sich in der Vor- und Nachbereitung des (ZEIT-)Interviews ergeben haben. Personenbezogene Daten (z. B. von Journalist:innen) können geschwärzt werden.“

Die Bundesnetzagentur meldet zumindest bereits den Eingang der Anfrage. Wenn die Antwort und das zugehörige Material auf fragdenstaat.de veröffentlicht oder verlinkt werden wird, könnte das Stoff für eine interessante Geschichte werden.

Der rechtliche Rahmen

Journalisten haben einen, jüngst noch einmal bestätigten, presserechtlichen Auskunftsanspruch. Von zentraler Bedeutung für die Arbeit von journalistischen Portalen ist dabei das Informationsfreiheitsgesetz. Es erlaubt nicht nur journalistisch tätigen Personen, sondern allen Bürgern (Jedermannsrecht), auch ohne eigene Betroffenheit, bei Behörden nach Dokumenten, internen Protokollen, Briefwechseln, Datensätzen oder Bauplänen zu fragen. Die Behörde muss dann reagieren.

„So bekamen wir zum Beispiel auch die Mail, mit der sich der CDU-Politiker Philipp Amthor direkt an Wirtschaftsminister Altmaier wendete, um für das New Yorker Unternehmen Augustus Intelligence zu lobbyieren. Wir arbeiten also immer mit Belegen und Dokumenten“, betont Pressechefin Briand von abgeordnetenwatch.de.

Fazit

Plattformen, die Einblick geben in das Wirken der Politik und der Behörden, werden immer interessanter – nicht nur für Journalisten, sondern für alle Bürger. Sie verschaffen die notwendige Transparenz über Entscheidungen und sind ein wichtiger Schritt zum „digitalen Staat“. Die Rechtslage ist dabei klar: Jeder hat ein Recht auf Auskunft!

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Léa Briand leitet bei abgeordnetenwatch.de den Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie war vorher in diversen politischen Organisationen in Berlin tätig, hat vier Jahre als PR-Beraterin für eine Kommunikationsagentur gearbeitet und auch sechs Monate lang die Politik von „drinnen“ beobachtet, nämlich im Bundestag.

Joscha Jäger arbeitet als Creative Technologist an interaktiven Videotechnologien und explorativer Videosuche. In den letzten 5 Jahren hat er sich darauf konzentriert, Parlamentsdebatten transparenter und besser zugänglich zu machen. Im Jahr 2020 hat er Open Parliament TV gegründet und verwendet all seine Zeit und Ressourcen darauf, auch im Jahr 2060 noch an dieser Mission zu arbeiten.

© Eberhard Kehrer

Der Autor Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino. Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.

 

 

 

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