Der Journalismus der Dinge
Warum Sensoren, vernetzte Displays und das Internet der Dinge in die Digitalstrategie jeder Redaktion gehören.
Ein Morgen im Jahr 2029. Noch bevor Sie als freiberuflicher Fachjournalist Ihre Social Media Accounts checken, öffnen Sie das Sensor-Dashboard auf dem smarten Spiegel in Ihrer Küche. Das Rockkonzert im Stadtpark gestern scheint ein voller Erfolg gewesen zu sein: Die Sensoren melden, es war laut und voll. Selbst ihr Geofon auf dem Marktplatz hat noch Vibrationen der Tanzenden erfasst. Sie schalten den Smart Mirror aus und sehen jetzt sich selbst als Spiegelbild. Die Kaffeemaschine piept: Ihr Flat White ist fertig. Auf ins Büro. Nach wenigen Schritten ist die smarte Coffee-to-go-Tasse Newsmug in Ihrer Hand beim Kulturteil angekommen und liest die Konzertkritik vor. Der Konzertkritiker bestätigt, worauf die Sensordaten hindeuten, in einer euphorischen Nachtkritik. Auch den Temperatursturz vergangene Nacht hat Ihr Sensornetzwerk eindrucksvoll eingefangen. Der Niederschlagsalarm hat zuverlässig morgens um sechs Uhr ausgelöst und Ihre Leserinnen gewarnt. Viele haben an den Regenschirm gedacht, wie Sie an den Vorüberlaufenden sehen. Nur Sie selbst haben Ihren vergessen. Aber das ist unwichtig, denn gerade kommt eine Mail mit den dringend erwarteten Analysewerten aus dem Labor rein: Entwarnung – kein Asbest in der Grundschule, in der die Bauarbeiter etwas unbesorgt Dämmplatten herausgerissen hatten.
Erzählen mithilfe des Internets
Ich nenne das Erzählen mithilfe des Internets der Dinge „Journalismus der Dinge“. Dieser Journalismus der Dinge ist keine bloße Spielart des Datenjournalismus: Es geht nicht allein um eine neue Form alter Ausspielgeräte oder ein neues Steuerungskonzept mit Sprache statt Knöpfen. Es geht um viel mehr. Denken Sie kurz daran, wie das Internet den Journalismus verändert hat. Wie es war, als wir ohne den Anschluss in der Tasche durch die Welt gelaufen sind. Wie unwirklich es erschien, dass das Internet einmal der Kern des journalistischen Alltags sein würde. So ergeht es uns heute wieder mit dem Internet der Dinge. Es ist da, es breitet sich aus – und setzt an, auch den Journalismus zu verändern.
Denn das Internet der Dinge wird ebenso wenig verschwinden wie das Netz. Die Zahl vernetzter Gegenstände um uns herum nimmt ständig zu. Fachleute rechnen damit, dass es im Jahr 2022 schon 25 Milliarden Gegenstände sein werden. Bereits heute sind Autos im Internet der Fahrzeuge verbunden und tauschen Stau- und Blitzeis-Informationen aus, Heizungsthermostate bekommen im Internet of Home aktuelle Wetterinformationen von Temperatursensoren, Küchenmixer bestellen im Internet of Food die Zutaten für das Trendrezept aus dem Netz.
Die Vernetzung der Dinge trägt ihre Aufzeichnungen ins globale Netz, zu denen, die ihre Daten analysieren und darauf Geschäftsmodelle gründen. So entsteht das „Internet der Dinge“ (englisch: Internet of Things, meist IoT abgekürzt). Rasant und unaufhaltsam erobert es unseren Alltag. „Der Punkt ist nicht mehr weit, an dem wir die vernetzten Dinge einfach nur noch Dinge nennen“, schreibt der Journalist Alex Handy. Er hat recht, denke ich. Und wir Journalisten? Wir stehen bislang am Rande der Szenerie, beschreiben, was sich da entwickelt. Das ist gut so.
Die Technik ist vorhanden
Das geschilderte Zukunfts-Szenario wäre bereits heute technisch realisierbar. Ich bin mir sicher, denn mit Temperatursensor und Geofon habe ich selbst experimentiert und die von mir gebauten Prototypen von smartem Spiegel und Newsmug stehen in Griffweite. Warum ich begann zu experimentieren? Weil ich die nächste technische Entwicklung nicht Großkonzernen überlassen möchte. Ich möchte verstehen, welche Auswirkungen das Internet der Dinge hat. Und ich glaube, dass der Journalismus der Dinge einen Platz in der Digitalstrategie aller Medien verdient hat.
Für den WDR haben wir drei Milchkühe mit Sensoren ausgestattet. Im Projekt „Superkühe“ haben sie 30 Tage lang berichtet, was das Leben einer Milchkuh ausmacht. Unter anderem trugen die Kühe einen pH-Sensor im Pansen und einige vor dem Kalben einen Kalbungssensor am Schwanz. Aktuell begleiten wir mit dem WDR drei Bienenstöcke durchs Jahr, die mit Sensoren ausgestattet sind: Die Bienenköniginnen Ruby, Cleo und Linda berichten auf #äbienenlive so aus dem Innersten des Bienenstocks. Live, per Newsletter und auf Whatsapp. So wird aus der Blackbox Bienenstock ein transparenter Kasten für die Zuschauer.
Beispiele machen Schule
Auch andere Kollegen haben erkannt, welches Potenzial in vernetzten Sensoren steckt. John Keefe begeisterte Radiohörer, einen Sensor zu bauen, der Zikaden trackt. Der Schweizer Investigativjournalist François Pilet nutzt die Sensordaten von landenden Flugzeugen am Flughafen Genf, um auf Twitter zu vermelden, wenn Flugzeuge von Diktatoren landen. Sie mögen sich jetzt fragen, wen das denn interessieren könnte – offenbar einige, denn der GVA Dictator Alert hat derzeit mehr als 19.000 Follower auf Twitter, also weit mehr als so manches andere journalistische Angebot im Internet. Er schafft Transparenz, zeigt, was ansonsten verborgen bliebe.
„Wie groß ist Stuttgarts unsichtbare Verschmutzung wirklich – und welche Gesundheitsgefahren liegen in der Luft?“ So lautet der Teaser der Stuttgarter Zeitung für ihren Feinstaubradar. Das Problem lag vor der Haustür: Das Neckartor in Stuttgart ist wegen der hohen Feinstaubbelastung als die „dreckigste Kreuzung Deutschlands“ bekannt geworden. Die Lunge der Großstadt ächzt. Die Luft ist tief gesättigt mit feinen Rußpartikeln. Die Grenzwerte werden hier seit Jahren überschritten. Nur hier? Zusammen mit dem Open Knowledge Lab Stuttgart gelang es Redakteur Jan Georg Plavec und seinem Team, die Leser zum Bau von über 500 Feinstaubsensoren zu motivieren und die Daten an die Redaktion zu liefern. In der Stadt, Heimat der Autobauer Mercedes-Benz und Porsche, wird die Diskussion um Fahrverbote für bestimmte Fahrzeuge besonders hitzig geführt.
Die Großstadt aus anderer Perspektive hat ein Team um Hendrik Lehmann vom Tagesspiegel mit dem Projekt „Radmesser“ gezeigt: Dieses Projekt kümmert sich um ein vergleichsweise kleines Alltagsproblem und kombiniert es mit einer eher unbekannten Vorschrift: dem Mindestabstand beim Überholen von Radfahrern. Das nahe Überholen ist in der Großstadt ständige Gefahrenquelle für Radler. Daten gab es zu diesem Problem nicht. Bis das Radmesser-Team einen Sensor entwickelte, baute und 100 Personen überzeugte, diesen an ihrem Fahrrad zu befestigen. Das Team konnte zeigen, dass der Mindestseitenabstand oft nicht eingehalten wird.
Leser einbeziehen
Der Journalismus der Dinge findet auch mit Dingen in den Händen der Leser statt. Wenn die vernetzte Barbie mit Kindern Weltpolitik diskutiert oder ein Radfahrer seine Daten mit der Redaktion teilt, werden Leser Teil der Recherche. „Der Journalismus der Dinge braucht eigene Formate, die Geschichten live denken und Bürger einbeziehen, um Vertrauen zwischen dem Journalist und seiner Leserschaft herzustellen“, so haben wir es gerade in unserem Manifest für diesen neuen Journalismus formuliert. Gemeinsam mit Astrid Csuraji habe ich mich aufgemacht, die Seite der neuen Empfänger zu erkunden. tactile.news heißt unser Start-up, das sich der Frage widmet, wie handfeste Empfänger nach dem Smartphone aussehen könnten – wenn sie etwa die Form einer Spielzeugfigur haben.
Fazit
Noch sind wir früh dran. Nicht umsonst nennt die Journalistikprofessorin Wiebke Loosen das, was wir tun, „Pionierjournalismus“. Wir sind die ersten Abenteurer auf unbekanntem Terrain. Noch viele Fragen sind unbeantwortet: Wie könnte eine Aneignung von Technologien für die kritische Berichterstattung eingesetzt werden? Wie können Journalistinnen und Journalisten gemeinsam mit Sensoren und vernetzten Geräten über Orte und Themen berichten, die Einzelpersonen niemals zugänglich wären?
Der Journalismus der Dinge ist machbar. Er ist nicht besonders teuer. Jeder kann die Grundlagen in wenigen Stunden lernen. Was wir dafür vor allem brauchen, ist Mut und Neugierde auf eine Technologie, die das Erzählen grundlegend verändern wird.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Jakob Vicari ist Freelance Creative Technologist in Lüneburg. Er ist Mitveranstalter der errsten Journalism-of-Things Konferenz JoT-Con am 5. November 2019 im Literaturhaus Stuttgart. Mit Astrid Csuraji gründete er tactile.news, ein Start-up für Journalismus auf vernetzten Spielzeugen. Vicari schreibt den Blog „Journalismus der Dinge“. Im Herbst 2019 erscheint sein Buch „Journalismus der Dinge. Strategien für den Journalismus 4.0“ im Herbert von Halem Verlag.