Die Lokalzeitung: „Das letzte Lagerfeuer in einer unüberschaubaren Welt“
Interview mit Marc Rath
Für Marc Rath hat der Lokaljournalismus viele Vorzüge. Im Interview erklärt der Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide, warum der Lokaljournalismus von allen journalistischen Formaten am längsten überleben wird und wie viel Fachjournalismus im Lokalen möglich ist.
Herr Rath, Sie sind Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide. Was ist Ihre Handlungsmaxime: Was macht eine gute Lokalzeitung aus?
Die Lokalzeitung ist eine Art Wundertüte, die das Lebensgefühl der Leser berücksichtigt. Ein Jahr hat gewisse Fixpunkte, die wichtig sind im Leben der Menschen und die sie in ihrer Zeitung wiederentdecken wollen: Das Schuljahr beginnt und endet, der Haushalt der Gemeinde wird verabschiedet, irgendwann steht die Jahreshauptversammlung der Feuerwehr an, das Schützenfest … Eine gute Lokalzeitung ist der Kitt der Gesellschaft: Die Vereine, die Feuerwehr, alle müssen sich in ihr wiederfinden.
Wenn man aber nur das machen würde, wäre das langweilig. Es muss eine Mischung sein, die auf Beständigkeit ausgerichtet ist, aber auch einen gewissen Überraschungseffekt hat.
Wie kann dieser Überraschungseffekt aussehen?
Man kann diese Ereignisse würdigen, aber nicht immer in derselben Form. Ich finde, es gibt nichts Spannenderes als Menschen. Bei einem Fußballspiel muss es nicht nur um die Spieler und das sportliche Ergebnis gehen. Man kann auch mal den Platzwart vorstellen, die gute Seele des Vereins, dessen Frau die Trikots wäscht. So ein Porträt interessiert nicht nur die Mannschaft und die Zuschauer, sondern darüber hinaus den ganzen Landkreis.
Andererseits versuchen wir, den Finger in die Wunde zu legen, aufzudecken, was sich im Rathaus, in der Politik abspielt.
Was macht einen professionellen Lokaljournalisten aus? Welche Fähigkeiten und Tugenden braucht er?
Er muss den spannenden Spagat zwischen Nähe und Distanz beherrschen. Dazu gehört, das Gefühl der Menschen der Kommune aufzunehmen, zu verstehen, wie sie ticken, eine Antenne dafür zu haben, wo sie der Schuh drückt. Aber er muss auch in der Lage sein, darüber zu schreiben, wenn etwas schief gelaufen ist, und souverän den Unmut beispielsweise der Kommunalpolitiker über die in der Zeitung geäußerte Kritik aushalten, wenn man sich im Supermarkt, in der Kneipe oder auf dem Marktplatz wiedertrifft.
Einen guten Lokaljournalisten erkennt man also auch daran, dass er sich bisweilen den Ärger zuzieht von jemandem, über den er berichtet hat?
Genau. Etwas „schönschreiben“ kann jeder – dann wird man aber auch nicht ernst genommen.
Manchmal ist der Redakteur allerdings so nahe an den Personen dran, dass er die Geschichte nicht selbst machen kann. Falsch wäre es, in dem Fall zu sagen: Ich kenne den so gut, können wir das nicht unter den Tisch fallen lassen? Man darf nicht bei Bekannten einen anderen Maßstab anlegen als bei Leuten, zu denen man keine enge Beziehung hat.
Mein Vorteil ist: Ich bin im Rheinland geboren, weit weg von Lüneburg. Das heißt, ich bin mit niemandem, über den ich schreibe, zur Schule gegangen, ich habe nicht den Ausbildungsplatz bekommen, den ein anderer haben wollte, bin nicht auf dem Fußballplatz von jemandem gefoult worden, mir hat keiner die Freundin ausgespannt. Das ist bei den Lokalredakteuren zum Teil anders und dann noch einmal eine besondere Herausforderung.
Was sind relevante Inhalte einer Lokalzeitung?
Alles, was die Lebenswirklichkeit der Menschen einer Region abbildet.
Dazu gehören Arbeit und Wirtschaft, Bildung, Freizeit und Politik. All das findet nicht nur im Kleinen statt, sondern wirkt auch vom Großen ins Kleine.
Ein Lokaljournalist muss die Politik aus Berlin und Brüssel herunterbrechen, sich beispielsweise fragen: Was bedeutet der Bildungspakt für die Bürger vor Ort? Die Themen müssen jedoch je nach Region immer wieder anders aufbereitet werden, da überall andere Verhältnisse herrschen.Um gelesen zu werden, muss ich meine Leser gut kennen und wissen, was sie bewegt: Gibt es eine hohe Arbeitslosenquote? Leben in der Region viele Ausländer? Wie ist die Altersstruktur? Ist das Gebiet landwirtschaftlich geprägt? Insofern ist jedes Blatt unterschiedlich, auch wenn die Themen vielleicht gleich sind.
Es heißt ja, Lokaljournalisten seien Generalisten. Wie viel Fachjournalismus ist im Lokaljournalismus möglich?
Das macht den Beruf des Lokaljournalisten so anspruchsvoll: Im Grunde genommen muss er alles können. Sie schreiben an einem Tag über das Thema Digitalisierung, am zweiten besuchen sie die Jahreshauptversammlung des Schützenvereins und am dritten geht´s um Schulpolitik.
Lokaljournalisten wissen von allem etwas, aber sie können nicht in die Tiefe gehen. Die Expertise eines Fachjournalisten kann man natürlich nicht erreichen, das wäre vermessen. Gute Kollegen haben sich aber ein Netzwerk mit externen Experten aufgebaut, aus dem sie schöpfen können, wenn sie Fachfragen haben. Ob diese Fachleute dann nicht interessengeleitet argumentieren, ist oft schwierig zu beurteilen. Das gelingt – muss man ehrlich sagen – nicht immer. Pessimisten sagen: gar nicht.
Um freie Fachjournalisten zu beschäftigen, fehlt vielen Redaktionen das Geld. Inwiefern können Lokaljournalisten sich spezialisieren?
Je nach Größe der Redaktion versucht man schon, die Ressorts aufzuteilen. Jeder Redakteur hat natürlich so seine Interessengebiete, sein Steckenpferd. Und damit auch seine Kontakte.
Die Landeszeitung für die Lüneburger Heide hat beispielsweise insgesamt 25 Redakteure. Es gibt spezielle Sport- und Kulturredakteure. Im Stadtressort sitzt ein Reporter, der sich sehr gut in Justiz, Kirche und Sozialem auskennt, ein anderer macht alle Polizei- und Feuerwehrgeschichten. Eine Jungredakteurin ist im Bereich Universität firm, eine Redakteurin macht Lokalpolitik und Gesundheitsthemen. Nicht jeder bei uns in der Redaktion kann fehlerfrei den Haushaltsbericht der Kommune lesen, aber es gibt Kollegen, die das können und die man fragen kann. Doch natürlich sollte jeder, der über Kommunalpolitik schreibt, die Grundzüge des Haushaltswesens kennen und nicht wie ein wissbegieriger Schüler den Kämmerer anrufen müssen, weil er nicht mal die Grundstrukturen versteht. Die meisten sind seit Jahren und Jahrzehnten dabei, können aus einem großen Erfahrungsschatz schöpfen.
Was raten Sie jungen Menschen, die sich für den Lokaljournalismus interessieren?
Sie sollten ein Fach studieren, das sie inhaltlich begeistert und in dem sie sich vorstellen können, später tätig zu sein.
Man muss aber nicht zwingend ein Studium absolviert haben, um ein guter Lokalredakteur zu sein. Quereinsteiger sind auch spannend für eine Redaktion, wenn jemand beispielsweise landwirtschaftliche Erfahrung hat, weil seine Eltern einen Bauernhof bewirtschaften. Auch so jemand ist ein Experte. Das tut der Berichterstattung ungeheuer gut.
Inwiefern ist der Lokaljournalismus ein Sprungbrett in den Fachjournalismus?
Die Arbeit in einer Lokalredaktion gilt als gute Schule, denn man muss sich im Lokalen auf viele Bereiche einlassen, auch Themen bearbeiten, die einem nicht so behagen. Ich kann nur jedem jungen Journalisten raten, mal in eine gute Lokalredaktion hineinzuschnuppern. Manche sagen: Das ist mein Ding für immer. Wer sich jedoch später spezialisieren möchte, sei es bei einer überregionalen Tageszeitung, einem Magazin oder einer Fachpublikation, bringt dafür dann ein gutes Rüstzeug mit.
Die große Kunst ist, sich immer wieder schnell in neue Gebiete einzuarbeiten, hineinzudenken, und sie dann auch korrekt und verständlich für die Menschen, die dieses Hintergrundwissen nicht haben, wiederzugeben. Während ein Fachjournalist in einer speziellen Fachsprache für seine Fachcommunity schreibt, muss der Lokaljournalist Sachverhalte für seine fachfremden Leser „übersetzen“. Die Leser sind wiederum Experten, wenn der Redakteur eine Straße falsch beschreibt oder die Kirche ans andere Ende des Ortes verlegt. Dann heißt es: Der kennt sich bei uns nicht aus, will uns aber hier die großen Zusammenhänge erklären. Das kratzt an der Glaubwürdigkeit.
Wie gelingt es ansonsten, glaubwürdig zu sein?
Glaubwürdigkeit erreicht man durch Unabhängigkeit. Die unabhängige Information ist das, was von Lesern am meisten goutiert wird, um Situationen einschätzen zu können. Dabei wird durch die Nähe zwischen Lesern und Redaktion am ehesten sichtbar, ob etwas gelenkt ist, ob Interessengruppen, Wirtschaftsunternehmen, Parteien oder der Bürgermeister massiv Einfluss zu nehmen versuchen. Da man sich kennt, kriegt man das natürlich im Lokalen viel eher raus als in der Bundespolitik.
Wenn Sie beispielsweise alle Verlautbarungen des Bauernverbandes 1:1 abdrucken, ist das ja kein Journalismus: Presseerklärungen können sich die Leser auch im Internet besorgen. Der Bauernverband muss merken, dass man landwirtschaftliche Themen begreift, eine Antenne dafür hat, wo es bei der Berufsgruppe gerade drückt oder gut läuft, das aber unabhängig darstellen kann. Dann gewinnt man Achtung. Ansonsten ist man ein Befehlsempfänger, der nach dem Mund schreibt.
Die Pressestellen haben aufgestockt, um nicht zu sagen: aufgerüstet, und versuchen, ihre Sicht der Dinge wohlformuliert an die breite Öffentlichkeit zu bringen. Wenn Redaktionen so ausgedünnt sind, dass man immer stärker zu Pressemitteilungen greift und diese dann in die Zeitung setzt, ist dies der schleichende Tod des Lokaljournalismus. Denn das merken die Leser, wenn es ihren Interessenbereich betrifft, in dem sie Experte sind. Sie wissen, ob der Redakteur sich damit auseinandergesetzt hat, versucht hat, fundiert zu recherchieren.
Der Lokaljournalismus gehört zum bedrohten Kulturgut, schrieb die Neue Zürcher Zeitung 2017. Inwiefern ist der Lokaljournalismus in der Krise?
Es wird diskutiert, ob der Lokaljournalismus aufgrund des Vertriebs für Verlage noch länger finanzierbar sei. Ob das ökonomisch und ökologisch der Weisheit letzter Schluss ist, morgens früh in entlegenste Winkel bedrucktes Papier zu liefern – da bin ich mir auch nicht so sicher.
Meine Generation – ich bin 52 – und die älteren schätzen es, morgens früh die gedruckte Zeitung zu lesen, mit Papier zu rascheln. Bei jungen Menschen zwischen 20 und 30 sieht das ganz anders aus. Aber auch Jüngere wollen wissen, was in ihrer Umgebung los ist. Allerdings interessieren die sich für andere Dinge als 60- und 70-Jährige: Wo gibt es neue Baugebiete, wie finde ich einen Kindergartenplatz? Und nicht: Welche Freizeitgestaltung gibt es für Senioren? Jetzt läuft das alles in einer Ausgabe – ich mache ja nicht eine Ausgabe für über 40-Jährige und eine für unter 40-Jährige.
Im Digitalen kann ich natürlich wesentlich gezielter die speziellen Informationsbedürfnisse befriedigen, ohne dass der Charme des Ganzen verloren geht. Die Wundertüte Zeitung muss man zeitgemäß weiterdenken, vielleicht verstärkt digital werden.
Was muss ein Lokaljournalist heute anders machen als früher?
Ich glaube, dass Menschen für eine Zusammenstellung von Nachrichten – ob gedruckt oder digital – nach wie vor Geld ausgeben werden. Und dass es ihnen ihr Geld auch wert ist, wenn sie das Gefühl haben, es nimmt ihnen eine Menge Arbeit ab, sich Informationen nicht selbst zusammensuchen zu müssen, wenn die Artikel sie bereichern und unterhalten. Denn die Leser stoßen im Internet auf viel Trash, wenn sie sich durch die Seiten klicken. Das kostet viel Zeit, die man eigentlich nicht hat.
Dabei hat man heute ganz andere Möglichkeiten, mit den Lesern in den Dialog zu treten. Den muss man auch pflegen. Eine Lokalzeitung wird damit immer mehr zur Plattform. Es wird verstärkt zu einem Markenzeichen werden, sich mit den Lesern auszutauschen, aber auch erkennbar Position zu beziehen. Die Informationen müssen fachlich solide dargestellt werden. Im Kommentar kann der Redakteur seine Meinung darstellen, dann aber auch zur Diskussion aufrufen und diese moderieren. Die Moderation ist wichtig, denn Informationen werden nicht mehr widerspruchslos hingenommen. Jeder kann einen Post absetzen, der weltweit zu lesen ist, wenn er einen Artikel oder die ganze Zeitung unglaubwürdig oder schlecht findet. Per Knopfdruck kann jeder seine Meinung deutlich artikulieren und damit eine Gegenöffentlichkeit erzeugen – was, und das ist die Kehrseite der Medaille, mit einer gewissen Penetranz von Interessengruppen genutzt wird.
Wir sind heute viel eher auf Augenhöhe mit unseren Lesern, das hatte früher eher belehrenden Charakter. Nach wie vor gilt: Niemand kennt die Leser einer Region so gut wie das Lokalblatt.
Warum geht es auch in Zukunft nicht ohne Lokalzeitung?
Die Lokalzeitung gehört zum bedrohten Kulturgut? Ich könnte jetzt mal die Gegenthese aufstellen: Ich glaube, dass der Lokaljournalismus am längsten überleben wird von allen journalistischen Formaten. Nur nicht in der Form, wie wir ihn jetzt gerade machen.
Bei allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, vor denen diese Branche zweifelsohne steht: Die Menschen sind sehr verbunden mit ihrer Region. Aber sie wollen die Welt verstehen, die immer komplexer wird. Die Lokalzeitung ist das letzte Lagerfeuer in einer unüberschaubaren Welt.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Marc Rath wurde 1966 in Solingen geboren. Nach einer Ausbildung zum Verlagskaufmann besuchte er die Kölner Journalistenschule. Er war Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung in Uelzen, Redaktionsleiter des Ruppiner Anzeigers in Brandenburg, Pressesprecher zweier Ministerien in Sachsen-Anhalt sowie des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller in Berlin und Mitglied der Chefredaktion für die 18 Lokalausgaben der Volksstimme in Magdeburg. Für seine investigative Recherche zur Kommunalwahl-Fälschung in Stendal, die zum Rücktritt des Landtagspräsidenten von Sachsen-Anhalt führte, erhielt er den Wächterpreis und den Ralf-Dahrendorf-Preis. 2017 wurde er vom Medium Magazin als „Journalist des Jahres“ in der Kategorie „Reporter regional“ ausgezeichnet. Außerdem war er Mitglied im „Projektteam Lokaljournalisten“ (PLJ) der Bundeszentrale für politische Bildung. Seit 2018 ist er Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide in Lüneburg (https://www.landeszeitung.de/).