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Die Reportage: Kino im Kopf

Die Reportage nimmt mit. Wie ein guter Film hinterlässt sie das Gefühl, etwas durchgemacht zu haben – und auf tiefere Art zu verstehen. Warum sollte das nicht auch in Fachmedien funktionieren? Eine Fallstudie.

Berlin, Charité, der Professor läuft voran. Intensivstation. Zutrittsschleuse, offene Türen, Stille, nur dieses Zischen und Piepsen – derart mitreißend kann eine Reportage beginnen. Ein solcher Einstieg wirft die Leserinnen und Leser an einen ungewöhnlichen Ort, sie eilen einer sicherlich bedeutsamen Person hinterher, durch die sie bestimmt gleich Ungeheuerliches erfahren werden. Immerhin geht es im Text, den dieser erste Satz eröffnet, laut Vorspann um die wissen­schaftlich erwiesene Nutzlosigkeit von Tierversuchen.

Reportage statt Feature – tiefes Verstehen versus Veranschaulichung

In einer guten Reportage überschreitet die Leserin oder der Leser die Schwelle vom Alltäglichen zum Nicht-Alltäglichen. Dieser Schritt ins Ungewisse ist verbunden mit lustvoller Spannung. Und anders als in anderen Textgattungen haben die Rezipierenden bei der Reportage dank der Identifikation mit einem Protagonisten das Gefühl, alles selbst zu erleben und zu erleiden – wie bei einem bewegenden Film. Die Jury des renommierten „Nannen Preises“ zeichnet gemäß ihrer Satzung als Reportage selbsterlebte, nicht-fiktionale jour­na­listische Arbeiten aus, die es schaffen, „beim Leser für Kino im Kopf zu sorgen“.

Der erste Satz des Beispieltextes unter dem doppeldeutigen Titel „Leben lassen“ von Nannen-Preisträger Lorenz Wagner eröffnet eine Wissenschaftsreportage im Breitwandkinoformat. Zu finden war sie Anfang Januar 2019 im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“, einem Publikumsmedium – sie taugt jedoch als Muster auch für die Reportage in Fachmedien, wo sie so gut wie nicht stattfindet. Fachmedienpreise werden in der Regel ausgelobt für Texte, die ein relevantes Sachthema sauber recherchiert, verständlich und originell darstellen. Diese Kriterien sind notwendig für Reportagen, aber nicht hinreichend.

Beim internen Medienpreis des Würzburger Vogel-Verlags etwa ist in den vergangenen Jahren eine einzige Reportage gekürt worden: Ein Mitarbeiter des Magazins „autokaufmann“ schildert seine ebenso abenteuerliche wie lehrreiche Langstreckenfahrt mit einem Elektro-Auto. Siegertexte aus dem narrativen Genre sind zumeist Features, wie jener aus der Thieme-Zeitschrift „CNE.magazin“ über den Umgang mit Wachkomapatienten.

Das Feature wird oftmals mit der Reportage verwechselt, weil es wie diese auf Personen aufbaut und ebenfalls szenisches oder anekdotisches Material mit Hintergrundinformationen gegenschneidet.

Dabei unterscheiden sich die beiden Formen fundamental, wenn man sie von der Zielsetzung her betrachtet: Das Feature soll Abstraktes veranschaulichen, es lebt von der Übertragung eines Fallbeispiels auf das Allgemeine.

Die Reportage erzählt eine konsistente, handlungsbetonte und besondere Geschichte, aufgehängt an einer Person (oder mehreren), wo ein Bericht nur Achselzucken auslösen würde. Anders als im Porträt steht die Person aber nicht von vornherein fest, sie wird in eine feststehende Rolle gecastet. In der Tierversuch-Reportage ist eine der Hauptrollen die des forschenden Gegners von Tierexperimenten. Sie hätte nicht durch den Professor von der Berliner Charité besetzt werden müssen. Er war aber erste Wahl, weil Tierversuche einst in seinem Hause entwickelt wurden – und weil man sich dort rund 100 Jahre danach davon abwendet.

Das Schreiben – Spannung als Motor für den Long Read

Im Magazintext schnurrt der Filmprojektor unablässig: Der Professor, dem wir hinterhergeeilt sind, hält vor dem Bett eines künstlich beatmeten Koma-Patienten und erklärt den Grund dieser Visite auf dem Gang durch die Klinik: Niemand hier experimentiere leichtfertig mit Mäusen, sondern aus einem tiefen Gefühl der Verantwortung für diese Menschen, das ist seine Botschaft. Er würde auch weiter experimentieren, wenn er dadurch das Leben eines Patienten retten könnte. Sein letztes Wort in dieser Szene aber: Den Eindruck habe ich nicht mehr.

Long Reads brauchen einen starken inneren Motor. Es muss etwas geschehen, was Fragen aufwirft, die auf Beantwortung drängen. Sie möglichst rasch zu beantworten, wie etwa in einem Fachbericht, ist aber nicht das Ziel. Stattdessen wird Spannung aufgebaut, die bis zum Ende trägt. Das „nicht mehr“ am Ende der Szene erfüllt diese Funktion: Was war davor, was kommt danach? Gerade in Texten, die sich einem relevanten Fachthema widmen, braucht es aber auch frühzeitig Klarheit darüber, warum man sich auf eine Reise ins Ungewisse begeben sollte, statt vielmehr konzentrierte Informationen und Fakten aufzunehmen. Daher drängt der Reportage-Einstieg hin zum sogenannten Portal.

Das Portal ist jene Textpassage, die den szenischen Auftakt (die Exposition) mit der zentralen Frage des Textes, dem Aufhänger, verbindet, und das Tor zum Hauptteil öffnet. Schon davor muss genügend Spannung aufgebaut worden sein, die durchträgt. Leselust wird am besten erzeugt und aufrechterhalten, indem man die Perspektive eines Helden (oder Antihelden) etabliert, mit dem sich die Leserin oder der Leser schnellstmöglich identifizieren kann. Dieser Held ist herausgefordert durch die Welt – oder fordert sie heraus.

Die Erzählstruktur – Erlebtes und Recherchiertes miteinander verflechten

Eine Reportage spielt sich strukturell auf drei Ebenen ab. Die erste ist die der selbst erlebten oder auch rekonstruierten Beobachtungen. Sie werden einem dramaturgisch geschickt gelegten „roten Faden“ folgend angeordnet – nicht notwendig chronologisch. Die Metapher „roter Faden“ bezeichnet den Fortgang einer Geschichte nach ihrer inneren Logik oder auch die alles verbindende Leitidee, die Aussage. Die zweite Ebene ist die der recherchierten Informationen und Hintergründe; sie verleihen den unmittelbaren Beobachtungen höhere Bedeutung oder machen sie überhaupt erst verstehbar. Das für Reportagen typische Zopfmuster ergibt sich, wenn die erlebnisstarken Elemente und die faktenbasierten Hintergründe und Informationen durch Moderationen und Reflexionen miteinander verbunden werden.

Folgende Passage aus der Magazinreportage veranschaulicht diese Flechtkunst. Zunächst der Erzählstrang: Ein Postdoktorand (…) hebt eine (Maus; cb) aus dem Käfig und fixiert sie, damit sie nicht beißt. Nicht gewaltsam, aber fest. Er sticht dem Tier eine Nadel in den Bauch, ein weiterer Entzündungstest. Später wird die Maus zuerst betäubt, dann mit Kohlendioxid getötet. Gehirn und Organe werden untersucht. (…) Folgt der Erklärstrang: Es gibt ein Nahrungsergänzungsmittel (…), das Entzündungen hemmt und Alzheimerpatienten helfen könnte. Versuche mit Zellen hätten das vor zwei Jahren bestätigt. Das Forscherteam bewarb sich um eine Förderung bei einer Alzheimerstiftung. Antwort: Ein Versuch im Glas ist ja schön, aber Geld gibt es erst, wenn Sie das auch an der Maus nachweisen können.

Zuletzt der dritte Strang – die Einordnung. Hier ist das Ziel, das Gesehene oder Geschehene in einen für die Lesenden verständlichen Zusammenhang zu stellen und zu bewerten: So läuft das oft. Private Stiftungen und politische Gremien sind konservativ. Sie gehen lieber den altbekannten Weg.

Für Reportagen in Publikumsmedien gilt die Faustregel: Nur so viel Hintergrund wie nötig, um die Handlung einzuordnen und verstehbar zu machen – wie im Asterix-Comic: Die bunten Bilder transportieren die Geschichte des Helden und seines Sidekicks, vereinzelte Textkästen am Rand der Handlungsbilder klären die Situation. Analog dazu lassen sich Informationen in Reportagen auch auf die zweite Erzählebene auslagern, also in Kästen, Bildlegenden und dergleichen. Die Kunst der Reportage im Fachmedium ist es, das emotionalisierende Erzählen nicht zum Selbstzweck geraten zu lassen, sondern hinreichend viele informierende, erklärende sowie einordnende Elemente einzubauen – ohne dass der Erzählfaden reißt.

Die Recherche – nicht nur das selbst Wahrgenommene zählt

Recherchiert wird eine Reportage auf zwei Hauptebenen. Ebene eins: Informationen oder Hintergründe zum Thema selbst (Archivtexte, Expertengespräche) sowie zu den Handlungsträgern, die zu casten sind. Zweite Ebene: die eigene Wahrnehmung. Diese Ebene ist das Spezifische an der Recherche für eine Reportage. Vorab ist, wie üblich, eine Vorrecherche zu leisten. Die soll klären, ob das ausgewählte Thema wirklich ein Thema ist und ob es sich in der beabsichtigten Form darstellen lässt. Im Fall der Reportage dient die Vorrecherche insbesondere zur Klärung der Fragen, welche Handlungsträger, welche Schauplätze, welcher Zeitpunkt für einen Ortstermin zielführend wären.

Für die Hauptrecherche, also das eigentliche Treffen am Schauplatz, gilt die Faustregel: Eine einmalige Stippvisite ergibt meist zu wenig verlässliches Material. In der Regel sind ein zweiter Besuch sowie ein Nachgespräch nötig, um das Beobachtete in seiner ganzen Tragweite einordnen zu können. Die unwiederbringliche Zeit für das Beobachten am Ort des Geschehens sollte man nicht für Interviews verschwenden, die man auch am Telefon oder bei einem dafür zu vereinbarenden Termin führen könnte. Besser, man sammelt so viele sinnliche Eindrücke wie möglich.

Die Satzung des Nannen Preises fordert ausdrücklich, dass die geschilderten Eindrücke „selbst erlebt“ sein müssen. Die aktuelle Fassung der Satzung von Oktober 2018 ist vor dem Bekanntwerden der Fälschungen von Claas Relotius aufgesetzt worden, die das narrative Schreiben an sich in Verruf gebracht haben. Der einstige Starreporter des „Spiegel“ ist bei Weitem nicht der Erste, der Szenen, Zitate oder gar Protagonisten erfunden hat, um dem Motor der Geschichte einen Turbo zu verpassen. Und doch: Geschehnisse, die man nicht selbst erlebt hat, kann man durchaus verwenden. Die Nannen-Preis-Satzung fordert für die Disziplin Reportage: „Bestandteile der Arbeit, die aus Informationen Dritter übernommen wurden, müssen als solche deutlich werden.“

Das Transparenzgebot sollte man unbedingt befolgen – ohne den Erzählfluss und den eigenen Ton zu opfern. Wie diese Balance gelingen kann, verdeutlicht die folgende Passage des Beispieltextes: Seinen kleinen Kindern, deren Bilder in seinem Büro stehen, hat er erklärt, dass er versucht, Krankheiten zu verstehen, um Menschen gesund zu machen. Einmal hat er sie mitgenommen in den Mäusestall der Charité, sie fanden sofort alle süß und verteilten Namen, Fritzi und Anna. Was sollte er da noch sagen? Erwachsene aber, erklärt Heppner, müssten die Sache doch nüchtern betrachten (…). Auch Rekonstruktionen gibt man am besten im Indikativ (der Wirklichkeitsform) wieder. Wie würde es auch klingen, wenn da stände: „Einmal habe er sie mitgenommen“, oder: „Sie hätten sofort alle süß gefunden“?

Für das sogenannte Reenactment, das Inszenesetzen des nicht-selbsterlebten Vergangenen, wendet der Autor hier ein literarisches Mittel an: die „Erlebte Rede“. Was sollte er da noch sagen – das stammt eindeutig aus einer Erzählung des Protagonisten. Ob der Satz dem in der beschriebenen Situation geäußerten Wortlaut entspricht? Wichtig ist, dass er dem Inhalt und dem Wesen nach stimmt.

Das ist gemeint, wenn die Nannen-Preis-Jury vage formuliert: „Bestandteile“, die aus „Informationen Dritter übernommen werden“, müssen als solche „deutlich werden“. Da wird eben nicht gefordert, solche Bestandteile als Informationen Dritter zu „kennzeichnen“ – etwa durch Verben des Sagens im Anschluss an eine direkte oder indirekte Rede. Das würde bedeuten, jeglichen erzählerischen Anspruch aufzugeben.

Der Schluss – Plädoyer für die Reportage im Fachmedium

Das Ende des Beispieltextes öffnet mustergültig einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft. Ein Berliner Biotechnologe und sein Team, so erfahren wir, arbeiten gerade an Apparaten zur Entwicklung von Pharmaka, die bereits von Konzernen wie Bayer eingesetzt werden. Der Forscher will dem weltweit anerkannten Massachusetts Institute of Technology zuvorkommen und schon im kommenden Jahr einen Chip auf den Markt bringen, der 70 Prozent der Tierversuche obsolet machen würde. Der Autor ergänzt: Und den an Menschen – an all den Freiwilligen und Kranken, an denen die Mittel vor der Zulassung noch getestet werden.

Auch das ist eine Vorlage für die Reportage in Fachmedien. In denen ist allemal Praxis, Einordnung und Lösungsorientierung gefragt, kurz: konstruktiver Journalismus. Der muss ja nicht seicht rüberkommen, wie schwache PR.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Der Autor Christian Bleher, Jahrgang 1963, ist freier Journalist, Dozent unter anderem an der Deutschen Journalistenschule und Lehrbuchautor. Zuletzt von ihm (und Co-Autor Peter Linden) erschienen: Reportage und Feature, UVK 2015 (jetzt Herbert von Halem Verlag). Eine seiner eigenen Reportagen für Fachmedien hat er im Thieme-Verlag zum Thema Organtransplantation geschrieben. Die vollständige Version dieses Textes ist zu finden unter www.christianbleher.de.

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