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Erfolgsfaktor Natur – das Genre „Nature Writing“

Das angloamerikanische „Nature Writing“ erobert den deutschen Buchmarkt und die Feuilletons, wird aber im Journalismus selbst kaum diskutiert – obwohl das Literaturgenre viele Chancen für die Lokal- und Umweltberichterstattung bietet.

In Deutschland gibt es  eine neue Sehnsucht, die Sehnsucht nach Natur; genauso heißt auch der Sammelband, den Heidelberger Wissenschaftler schon 2012 vorlegten, um den gesellschaftlichen Drang nach Wildnis, Natur und Ursprünglichkeit zu erkunden. Der ist überall sichtbar, angefangen bei dem Überraschungserfolg von Landzeitschriften bis hin zu Bio-Ernährung sowie regionalen Lebensmitteln und Trends wie Wandern, Waldbaden, Waldkindergärten, städtisches Gärtnern, solidarische Landwirtschaft, Imkern, Kräuterwanderungen, Survival-Kurse oder neuerdings auch Jagen. Die Gesellschaft will wieder hinaus und etwas finden – auch sich selbst.

Ganz aktuell zeigt sich die gestiegene Naturbedeutung am Protest gegen den Braunkohleabbau im Hambacher Forst oder am politischen Erfolg der Grünen, den viele Analysten auch mit dem Masseninteresse an Themen wie Bienensterben, Insektenschwund, Mikroplastik oder Luftreinhaltung festmachen – also auch an Themen, die direkt auf den Zustand von Ökosystemen zurückgehen. Weil diese leiden, stehen immer mehr Menschen auf. Dieser naturbezogene Widerstand wird zunehmend sichtbar, sei es durch online auftretende Nicht-Regierungsorganisationen wie Campact oder vielen vor Ort arbeitenden Graswurzel-Initiativen, die den Ausstieg aus der Kohle als Energieträger wollen, tauschen und teilen oder Wirtschaftswachstum skeptisch sehen. Der Büchermarkt ist voll von Umwelt- und Naturtiteln, die diese Strömungen aufgreifen; das angloamerikanische Nature Writing und seine Autoren boomen genauso wie ähnliche deutsche Titel, zuvorderst vom schreibenden Förster Peter Wohlleben, der die Bestsellerlisten mit Bäumen bepflanzt hat.

Es sind Werke, die auf ökologische und gesellschaftliche Transformation setzen – aber auch Bücher, die eher den stillen Rückzug oder die Schönheit der Natur im Blick haben. Aber beide Stoßrichtungen – sowohl Widerstand und Veränderung als auch Ästhetik und Eskapismus – sind Formen des neuen Naturbezugs, in den Massenmedien teilweise schon eingestiegen sind: mit unzähligen Dokumentationen zur Wildnis deutscher Städte oder Landschaften, neuen Outdoor-Heften wie GEO Walden oder wissens- und umweltjournalistischen Scrollytellings, wie sie etwa die FAZ immer wieder bringt. Dazu kommt institutioneller Schwung mit neuen Verbänden wie dem Netzwerk Weitblick für Journalismus und Nachhaltigkeit oder Fachmedien wie Klimareporter.de, RiffReporter, Grüner-Journalismus.de sowie Klimafakten.de und Clean Energy Wire. Dazu kommen neue Studienmöglichkeiten, Weiterbildungsseminare oder Medienpreise rund um grüne und soziale Themen. Medienökonomisch besonders interessant war der Aufstieg der eher eskapistischen Landmagazine.

Vieles spricht dafür, dass das Potenzial der Natursehnsucht, die sich mit dem Drang nach Regionalität und Heimat, aber auch nach Sinnlichkeit und Haptik verbindet, massenmedial längst noch nicht ausgeschöpft ist. Und dass hier auch journalistisch bisher weniger beschrittene Wege liegen, in neuer Art über Natur zu berichten: sowohl sinnlich, subjektiv und ästhetisch als auch mit Botschaften ökologischer Veränderung – bei einem Rollenbild, das den journalistischen Auftrag im Kontext einer erdbezogenen Nachhaltigkeit versteht. So, wie es Umweltforscher um den Schweden Johan Rockström 2009 mit der bahnbrechenden Studie zu den – teils schon überschrittenen – planetaren Grenzen aufgezeigt haben. Und ganz so, wie Journalisten natürlicherweise ihren Auftrag an Demokratie binden – das „System Erde“ ist mindestens ebenso existenziell und grundlegend.

Diese Botschaft platziert etwa der Journalist, Biologe und Philosoph Andreas Weber in seinen Texten und Büchern. Er sieht im Erfolgsgenre Nature Writing eine journalistisch ungenutzte Spielwiese, um neue Publika zu erreichen und ein anderes Bewusstsein für ökologische Veränderungen zu schaffen. Das Genre ist für ihn „persönlich, anspruchsvoll, auch mal spirituell oder waghalsig – aber eben keine klassische Berichterstattung“. Man müsse sich als Autor öffnen, fügt der US-amerikanische Publizist Rick Lamplugh hinzu, der mit „In the Temple of Wolves“ einen Bestseller über den Yellowstone-Natioalpark geschrieben hat. „Im Journalismus weiß das Publikum meistens nichts über Gedanken und Gefühle des Autors; beim Nature Writing ist es aber wichtig, dass der Leser genau darüber alles weiß.“

Literarischer Journalismus als Krisenstrategie

Lebendige Wege der Umwelt- und Naturberichterstattung werden vielfach angemahnt, etwa auch von GEO-Autorin Anke Sparmann, die 2010 den Preis für Naturjournalismus der Deutschen Wildtierstiftung gewann. Sie vermisst im Interview mit Grüner-Journalismus.de ein „Naturmagazin, das auf Themen vor der Haustür setzt, frisch und modern daherkommt; letztlich ein Magazin wie Landlust, übersetzt in richtig guten ökologischen Journalismus.“

Neben solchen Stimmen aus der Praxis zeigen auch Journalismusforscher, wie wichtig die Suche nach neuen Formen ist – und von großen Medien bereits angegangen wird: Der Kommunikationswissenschaftler Tobias Eberwein hat sie untersucht und schon 2013 einen Trend hin zu einem literarischen Journalismus ausgemacht. Randständig sei dieser längst nicht mehr, schreibt er im Schlusswort seiner Dissertation: „Vielmehr gehören literarisch inspirierte Strategien der Themenfindung und -bearbeitung in vielen Redaktionen zum gängigen Arbeitsprinzip – und werden von den Rezipienten offenbar in besonderem Maße geschätzt.“ Das Experiment mit neuen Formen habe große Medien wie DIE ZEIT auch besser durch die Medienkrise geführt – und sie attraktiver für das Publikum gemacht, schließt der in Österreich forschende Wissenschaftler, der damit das starre Trennungsgebot zwischen Journalismus und Literatur aufbricht und zu neuen Denkweisen aufruft. Ganz im Sinn Andreas Webers, der es für „irre“ hält, dass Nature Writing publizistisch boomt, aber journalistisch kaum akzeptiert werde. Zu konservativ seien die meisten Redaktionen dafür, befindet er.

Mehr Literatur, mehr Natur, mehr Subjektivität und Sinnlichkeit – Nature Writing steht für diese Forderungen an den Journalismus. Es geht um die Chance, Natur präzise, empathisch und subjektiv zu beschreiben und auch direkt zu erfahren: Was erzählt ein Stein, wenn ich ihm länger begegne? Welches Schauspiel vollführen Bussarde, wenn ich mich mit ihnen aufschwinge? Wie geht es Flüssen, wenn ich in ihnen untertauche? Solche Fragen stellen sich die Autoren des Genres, unter denen auch einige Journalisten sind. In den Werken vermischen sich umwelt- und wissenschaftsjournalistische Beschreibungen mit essayistischer Reflexion und poetischen Gedanken zu einer eigenen, vor allem in den USA und in Großbritannien bekannten Stilform. Für sie stehen traditionell Namen wie John Muir, Henry David Thoreau, Ralph Waldo Emerson, Edward Abbey, John Krakauer, Gary Ferguson und Gary Snyder, aber auch die Wissenschaftsjournalistin Rachel Carson und schreibende Forscher wie Fawley Mowat.

Ein deutscher Preis für Nature Writing

Zuerst feierte das eigentlich alte Genre in Großbritannien wieder große Erfolge, nun auch hierzulande, wo es nun den ersten Preis für Nature Writing gibt. Diesen hat das Bundesamt für Naturschutz zusammen mit dem Verlag Matthes und Seitz, dem wichtigsten Wegbereiter des Nature Writing in Deutschland, ins Leben gerufen – wenngleich für literarische Werke bis hin zu Poesie und fiktionalen Gattungen. Denn in diesem Rahmen wird Nature Writing in den Kultur- und Literaturwissenschaften samt den Feuilletons bisher diskutiert. Nicht aber in der Kommunikationswissenschaft oder in der Journalistik. Und auch nicht in der journalistischen Praxis als Konzept oder Strategie.

Was aber macht nun dieses weite, in Deutschland wenig bekannte Genre aus, das zwischen Reiseschriftstellerei, Wissenschaftsberichten, Sachbuch, fiktiven Romanen und Gedichten liegt? Manch Kritiker sagt deshalb, dass es um kein neues Genre gehe, sondern nur um die Gemeinsamkeit des Stoffes: Natur. Aber genau hier liegt das Wesensmerkmal des Nature Writing, gemäß den Diskussionen auf der im Juni abgehaltenen, bislang größten Literatur-Konferenz zu diesem Thema in München. Die Landschaft selbst ist Akteur, steht im Zentrum der Beschreibungen, Erzählungen und Fiktionen. Sie ist nicht nur reine Kulisse für die Handlung und die Protagonisten. Hier wird auch der Unterschied zu reinen Reiseerzählungen deutlich, die stärker die eigenen Erfahrungen, die Handlung und die getroffenen Menschen in den Vordergrund stellen als seitenlang die Landschaft, deren Geschichte, die Wechselbeziehungen in Ökosystemen oder den Zustand einer Tierpopulation zu beschreiben.

Große reisende Reporter wie Michael Obert oder Wolfgang Büscher machen dies weniger – und schreiben dennoch wunderbar über Länder und Orte, obwohl diese immer Träger der Handlung sind, nicht selbst die Helden. Beim Nature Writing ist die Natur eine Heldin, die siegt, scheitert, kämpft, umkämpft ist, still oder laut, grau oder bunt; sie ist aber oben auf – was schon bei den Titeln der meisten Bücher zu sehen ist. Dennoch ist gerade das moderne britische „New Nature Writing“ erzählerischer und menschenorientierter als manch frühere, selbstvergessene Naturschilderung aus den Anfangszeiten des Genres. Es kombiniert Wissenschaft mit Subjektivität, Fakten mit Erlebnis und steht damit heute in der Tradition von Wissenschafts- und Naturreportagen. „Wenn ich mit Schneeschuhen im Winter unterwegs bin, will ich, dass meine Leser die Kälte und den Schweiß spüren; meine ganze Anstrengung wie auch die Gedanken im Kopf, wie ich nun das Schneefeld überquere“, erzählt Rick Lamplugh im Gespräch. „Wenn ich die Leser dann bei mir habe, bringe ich die Wissenschaft dazu, schildere, wie die Bisons hier über den Winter kommen“, sagt der Autor, für den sich das amerikanische Nature Writing und der US-amerikanische Umweltjournalismus gegenseitig „sehr gut befruchten“. Er nennt US-amerikanische Magazine wie High Country News, die beides, Journalismus und Literatur, zusammenbringen. Gleiches gilt für die Wildtierzeitschrift BBC Wildlife aus Großbritannien.

Überzeugungsarbeit nötig

Journalisten, die sich diesem Genre widmen wollen, müssen ihre Vorgesetzten davon überzeugen, dass Ressourcen dafür notwendig sind, um einen Naturreporter für längere Zeit in die Landschaft zu entlassen; gerade die poetischere Sprache und das subjektive, miterlebende Eintauchen in Wälder, Felder oder Gewässer benötigen Zeit. Spannend wird das Genre insbesondere für den Lokaljournalismus, wo sich Serien und Sonderseiten anbieten, bestenfalls verknüpft mit multimedialen Specials zur Landschaft und ihren Menschen, die im Printstück behandelt werden. Als Formen sind etwa Rundgänge, Wanderungen, stille Schreibmeditationen, konzentrierte Mikrobetrachtungen oder assoziative Sprachpanoramen auf Landschaften denkbar.

Ohne eine starke erzählerische Note dürften die Experimente im Journalismus allerdings kaum gelingen. Denn was das Publikum interessiert, sind andere Menschen und ihre Geschichten, die oft auch draußen liegen, aber eben nicht auf der Straße. Sondern im Wald, am Seeufer, an der Küste, hinter der Wiese. So werden dann alle Gruppen, die dort häufig sind, zu wichtigen Quellen, um die Landschaftsbeschreibungen und subjektiven Erlebnisse der Reporter mit Geschichten und Wissen anzureichern: Bauern, Förster, Fischer, Wissenschaftler und Gärtner ebenso wie Schwimmer, Taucher, Mountainbiker, Pilzsucher, Hundebesitzer, Wanderer, Naturschützer, Geocacher, Lokalhistoriker oder Survival-Fans.

Die Natur ist voll von solchen Landschaftsmenschen. Und damit ebenso voller Geschichten, historischer Geheimnisse und ästhetischer Überraschungen, wie die schlichte Detailreise durch den Mikrokosmos eines Stückes sogenannten Totholzes samt all seiner Lebewesen beweist. Viele dieser versteckten Geschichten und optischen Schätze haben Journalisten noch nicht miterlebt, gefühlt, im Detail beobachtet. Vielleicht klassisch distanziert beschrieben und auch kommentiert – was aber eine Botschaft der Verbundenheit und des Verwebens mit der Natur weniger gut zulässt.

Letztlich aber geht es vielen Autoren des Nature Writing genau darum: um eine Wiedervereinigung mit der Natur und ein Sichbegreifen als Natur selbst – Motivationen, die der Zeitgeist als Gegenreaktionen zu Entwicklungsmustern wie Ökonomisierung, Verdinglichung, Beschleunigung und Technisierung gerade hervorbringt. Für diesen Sinn- und Entschleunigungsbedarf stehen auch Lebensstil-Magazine wie Flow, Slow oder Hygge. Nature Writing setzt auf ähnliche Art bei Grundbedürfnissen an, also bei dem, was Menschen intuitiv anzieht: belebte Natur, Tiere, Pflanzen, Wasser, Landschaften. Diese existenziellen Bezüge erklären den Erfolg des Buchgenres – und weisen auf die Erfolgspotenziale im Journalismus hin.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Foto_SchaeferDer Autor Torsten Schäfer ist seit 2013 Professor für Journalismus und Textproduktion an der Hochschule Darmstadt. Dort koordiniert und leitet er zusammen mit Peter Seeger das Medien- und Rechercheforum “Grüner Journalismus”. Zuvor arbeitete Schäfer zehn Jahre als Wissenschafts- und Umweltjournalist, u. a. als fester und freier Redakteur für „GEO International“ und die „Deutsche Welle“.

 

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