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Filmkritik zu „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“: Ein Mädchen in der Medienmaschinerie

Mit der Verfilmung von Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ setzten Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta 1975 ein Zeichen gegen einen verleumderischen Presseapparat. Eine Kritik von Dobrila Kontić.

An Zahlen orientierte Normen spielen eine große Rolle in Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975), vor allem, wenn es darum geht, Verdachtsfälle zu erhärten. In den vielen Verhörszenen legen die Ermittelnden konkrete Vorstellungen dazu dar, wie oft man mit einem Unbekannten auf einem Tanzabend tanzen, wie viel Sprit man im Jahr verbrauchen und wie viel Wohlstand eine Hausangestellte vorweisen sollte, um als unverdächtig zu gelten. Nebenbei erfährt man aber auch, wie viel Zeit die Boulevardpresse braucht, um einer verdächtigen Person jede Grundlage für eine würdevolle Existenz zu entziehen: fünf Tage. Wie sich in diesem Zeitraum eine unaufhaltsame Maschinerie in Gang setzt, schildert das damalige Regie-Ehepaar Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta in Manier eines Psychothrillers.

Zu dessen Beginn ist die Presse zunächst außen vor, ebenso das spätere Medienopfer. Das Visier einer Schmalfilmkamera wird von der Polizei stattdessen auf einen jungen Mann gerichtet: Ludwig Götten (Jürgen Prochnow), der per Autofähre eine rheinische Großstadt zur närrischen Karnevalszeit erreicht. Es gelingt ihm, einen Porsche zu stehlen, seine Verfolger abzuhängen und einen Tanzabend zu erreichen, auf dem er einer jungen Frau begegnet. Und inmitten dieser dröge-frivolen Karnevalsfeier mit albern kostümierten Gästen (Ölscheichs und Showgirls, so weit das Auge reicht), passiert wohl das, was Polizei und Presse kategorisch ausschließen: Ludwig und Katharina Blum (Angela Winkler) verlieben sich ineinander.

Aus dem Kameravisier der Polizei beobachten wir, wie das Paar sich zu Katharinas Wohnung in einem Hochhaus begibt, sich küsst und in den Aufzug steigt. Am nächsten Morgen stürmt ein Polizeitrupp unter Führung von Kommissar Beizmenne (Mario Adorf) Katharinas Wohnung. Dies ist der Auftakt für die doppelte Demontage, die Katharina in den darauffolgenden Tagen erfährt – zum einen durch die Polizei, zum anderen und weitaus verheerender durch die Presse. Letztere wird im Film fast ausschließlich repräsentiert von der fiktiven ZEITUNG, der bundesweit meistgelesenen, boulevardesken Tageszeitung.

Verfilmung eines Pamphlets

Das reale Pendant zu der ZEITUNG wird in dieser Literaturverfilmung nie genannt. Dies hatte Heinrich Böll schon mit der Bemerkung erledigt, die er seiner gleichnamigen Erzählung von 1974 vorangestellt hatte: „Personen und Handlungen dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der ›Bild‹-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“

Bölls Erzählung mit dem Untertitel „Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ war eine Streitschrift, ein „erzählerisch verkleidetes Pamphlet“, wie er selbst es im Nachwort nannte. Anlass hierfür waren seine eigenen Erfahrungen mit den Medien des Springer-Verlags, nachdem er im Januar 1972 den Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ im Wochenmagazin Der Spiegel veröffentlicht hatte. Dieser Artikel nahm direkt Bezug auf die Praktiken der BILD-Zeitung, die einen Banküberfall mit einem Todesopfer in Kaiserslautern im Dezember 1971 kurzerhand und ohne entsprechende Beweise per Schlagzeile zum mörderischen Werk der „Baader-Meinhof-Gruppe“ erklärt hatte. Eine Art von Vorverurteilung, die Böll empörte und zugleich in seiner allgemeinen Wahrnehmung von BILD als „Verhetzung, Lüge, Dreck“ und „nackten Faschismus“ betreibendem Blatt bestätigte.

Was daraufhin folgte, veranlasste Böll schließlich zu seiner Erzählung über einen in Terror-Hysterie verfallenden Behördenapparat und ein diesem Wahn beipflichtenden Presseorgan: Böll wurde als „Sympathisant“ der RAF-Terroristen öffentlich geschmäht und von der Polizei entsprechend ins Visier genommen. Dies gipfelte in einer Hausdurchsuchung bei seinem Sohn Raimund im Februar 1974, über die das zum Springer-Verlag gehörende Berliner Blatt BZ berichtete, noch bevor diese stattfand.

Zum Abschuss freigegeben

Während in Bölls Erzählung die Geschehnisse um Katharina Blum von einem allwissenden Erzähler mit ironisch-distanziertem Blick und unter Vorwegnahme des fatalen Finales geschildert werden, entschieden sich Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta für eine lineare, mit gängigen Suspense-Mitteln angereicherte Verfilmung. Diese stellt den Zuschauer in unmittelbare Nähe zur Protagonistin und macht so erfahrbarer, was es heißt, zum Medienopfer zu werden.

Nach der Stürmung der Wohnung stellt Kommissar Beizmenne fest, dass Ludwig die Flucht gelungen ist. Katharinas Wohnung wird daraufhin durchsucht und verwüstet, sie selbst der demütigenden Befragung durch den aufgebrachten Beizmenne ausgesetzt. Als auch diese zu keinem Anhaltspunkt hinsichtlich Ludwigs Verbleib führt, wird Katharina unter den neugierigen Blicken ihrer Nachbarn und im Blitzlichtgewitter der Kameras eingetroffener Journalisten zum Revier abgeführt. Katharina versucht, ihr Gesicht zu verdecken, woraufhin eine Polizeibeamtin ihren Schopf packt und nach oben reißt. „Wir müssen den Kollegen von der Presse Gelegenheit geben, ihrer Informationspflicht nachzukommen“, kommentiert Beizmenne.

In dieser vom schrillen, dissonanten Soundtrack von Hans Werner Henze untermalten Szene wird Katharina Blum durch die Ermittelnden zum Abschuss durch die Presse freigegeben – im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Dabei liegen zu diesem Zeitpunkt keinerlei Beweise vor, dass sie eine Komplizin Ludwig Göttens sei, dem Fahnenflucht und Diebstahl vorgeworfen werden. Während Katharina sich im Polizeirevier einem entwürdigenden Verhör unterziehen lässt, in dem nicht nur ihre Einkünfte und ihre privaten Kontakte, sondern auch ihr Sexualleben in den Mittelpunkt gerückt werden, hat sich im Hintergrund eine Medienmaschinerie in Gang gesetzt, deren Ausmaß sie nicht erahnt.

Die Gewalt der Sprache

Ein wichtiges Rad in dieser Maschinerie ist der von Dieter Laser herrlich schmierig dargestellte ZEITUNGs-Reporter Werner Tötges. Nachdem er den ersten Blick auf Katharina erheischen und O-Töne des Staatsanwalts sammeln konnte, sucht er Katharinas Heimatstadt auf, um Stoff für ein Charakterporträt zu sammeln. Die dortigen Einwohner – darunter die ehemaligen Nachbarn, Kneipengäste, die Katharina einst als Kellnerin bediente, und ihr Ex-Ehemann – geben äußerst bereitwillig Auskunft zu Katharinas Herkunft und Charakter. Schließlich ist Tötges ein Pressevertreter und die Aussicht, in der ZEITUNG genannt zu werden, eine äußerst reizvolle.

Doch es sind nicht nur negative Stimmen, die Tötges und seine Kollegen einsammeln. So wird das Ehepaar Blorna, Katharinas wohlsituierte Arbeitgeber, im Ski-Urlaub von einem ebenso forschen Reporter aufgesucht. Dr. Blorna (Heinz Bennent) bezeichnet ihm gegenüber Katharina als „sehr kluge und vernünftige Person“, was die ZEITUNG in den vernichtenden Schlagzeilen am Folgetag in „eiskalt und berechnend“ umdichtet. Verfälschende Umformungen in agitatorischer Sprache sind nicht das Einzige, wozu Tötges und seine Kollegen fähig sind. So werden Katharinas Ex-Mann und ihrer todkranken Mutter, die Tötges noch mit dem „Handwerkertrick“ im Krankenhaus überfallen hat, einfach Worte in den Mund gelegt, die gut ins Gesamtkonzept der verleumderischen Artikel passen. Tötges selbst sieht das als wohlwollende Paraphrasierungen des tatsächlich Gesagten: „Man muss einfachen Leuten etwas Artikulationshilfe geben.“

Mit der auf diese Schlagzeilen folgenden Hetzjagd auf Katharina zeigt der Film das Gefahrenpotenzial von gedruckten Worten auf, das Heinrich Böll nicht nur in seiner Erzählung, sondern auch in seinem 1972 veröffentlichten Essay Die Würde des Menschen ist unantastbar fokussiert hat: „Es ist doch nachgerade unfaßbar, wenn man hierzulande unter Gewalt nur noch die Gewalt von Bomben und Maschinenpistolen versteht. Übt eine BILD-Schlagzeile keine Gewalt aus? Welche? Was wird da angerichtet in den Köpfen, im Bewußtsein, am Aggressionspotential dieser elf Millionen Süchtigen, die der politisch Gefährlichsten aller Süchte, der BILD-Sucht unterworfen sind.“

So erlebt die aus dem ersten Verhör entlassene Katharina nicht nur den Schock der gedruckten Lügen über sie mit, sondern auch die Belästigung durch ZEITUNG-Leser, die diesen Worten Glauben schenken und sie fortan als Freiwild betrachten – zum erheblichen Maße auch, weil sie eine Frau ist. Die Folgen für Katharina sind obszöne Anrufe, Drohbriefe und persönliche Unflätigkeiten durch eine Öffentlichkeit, die als ausführende Gewalt eines von der Presse getroffenen Urteils agiert.

„Nachschießen, Mädchen, immer nachschießen!“

Wie diese Hetzjagd schließlich ausgehen soll, damit hat Heinrich Böll – nach eigener Aussage – etwas gehadert. Ein Suizid Katharinas war eine der angedachten Optionen, aber Böll entschied sich für die provokantere: Katharina schlägt zurück, sie rächt sich in Form von Schüssen auf Werner Tötges, den sie zum Exklusivinterview in ihre Wohnung bestellt hat. Auf Tötges Tod, den Böll bereits zu Beginn seiner Erzählung preisgibt, steuern Schlöndorff und von Trotta hingegen als unvermeidlichen Höhepunkt ihres Thrillers zu. Zuvor sehen wir, wie sich Katharina, die zu Beginn des Films aufrecht und würdevoll jeden Angriff im Verhör pariert, mit jeder Schlagzeile, jedem obszönen Anruf und jeder widerlichen Unterstellung einem Zusammenbruch nähert.

Angela Winkler als Katharina Blum (Copyright: © Studiocanal GmbH)

Dieser erfolgt schließlich, als Katharinas Mutter kurz nach Tötges „Besuch“ an ihrer langwährenden Erkrankung stirbt. Katharina lässt sich im Hospiz ihren Leichnam zeigen und bleibt gefasst, bis sie nach draußen tritt und den Tränen freien Lauf lässt. Jost Vacanos Kamera fängt dies mit bewusster Distanz aus der Rückansicht durch den offenen Türspalt ein, als gewähre wenigstens dieses Medium der Figur eine Privatheit, die ihr die Presse nicht lässt.

In Die verlorene Ehre der Katharina Blum erscheint diese Art von menschen- und inbesondere frauenverachtender Hetz-Presse schließlich nicht nur als übermächtig, sondern auch als unaufhaltsam. Dies bringt Tötges gepresste Aufforderung an Katharina beim Interview zum Ausdruck: „Nachschießen, Mädchen, immer nachschießen!“ Die Medienmaschinerie will gefüttert werden und er braucht Verwertbares von ihr. Mit ihren Schüssen auf Tötges setzt Katharina sich zur Wehr und eines der Rädchen dieser Maschinerie außer Gefecht, opfert damit aber auch ihre Freiheit. Im zeithistorischen Kontext von Bölls Erzählung und der Verfilmung durch Schlöndorff und von Trotta ist diese Freiheit aber ohnehin weitaus begrenzter als die Pressefreiheit, auf die sich die ZEITUNG zynischerweise berufen darf.

Die verlorene Ehre der Katharina Blum

(Nach der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll)

BRD 1975, 106 Min.

Regie: Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta

Drehbuch: Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta, Heinrich Böll

Kamera: Jost Vacano

Besetzung: Angela Winkler, Mario Adorf, Dieter Laser, Jürgen Prochnow, Heinz Bennent

 

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Dobrila_KonticDobrila Kontić, M.A., studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Journalismus am Deutschen Journalistenkolleg (DJK). Sie betreibt das Onlinemagazin culturshock.de.

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