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Filmkritik zu „Nightcrawler“: Aufstieg eines Soziopathen

„Je blutiger, desto besser“ lautet das Kriterium, wenn es um Aufnahmen zur Verbrechensberichterstattung im amerikanischen Fernsehen geht. Die Problematik dieses Prinzips demonstriert Nightcrawler eindrucksvoll.

Echte Sympathieträger findet man unter den Protagonisten von Journalistenfilmen eher selten. Ständig unter Druck, launisch und kurz angebunden hetzen sie durch das Geschehen und der Story hinterher, die die Welt und ihre Karriere verändern könnte. In besonders düsteren Varianten dieses Subgenres wird der Journalist gar zum Antihelden, der lügt, manipuliert und Verbrechen begeht, um ans Ziel zu kommen – man denke beispielsweise an Billy Wilders Reporter des Satans (1951). Doch selbst dessen verachtenswerte Hauptfigur könnte es in Sachen Gefühlsarmut nicht mit Louis Bloom (gespielt von Jake Gyllenhaal) aus Dan Gilroys Nightcrawler (2014) aufnehmen.

Louis wird nicht erst als Journalist zum Kriminellen, sondern ist es schon zuvor. Nachts fährt er die Industriegebiete von Los Angeles ab, um Material zu stehlen, das er an Schrotthändler verhökern kann. Als er eines Abends nach einem solchen Deal auf dem Heimweg ist, macht er an einer von Rettungskräften und Kameramännern umringten Unfallstelle auf dem Highway halt. Er beobachtet, wie Joe Loder (Bill Paxton) die Kamera direkt auf das gerade aus dem Autowrack geborgene Unfallopfer richtet und dessen blutige Wunden filmt. Loder spricht von sich als „Nightcrawler“ – die branchenübliche Bezeichnung für seine Tätigkeit ist „Stringer“: ein freischaffender Videojournalist, der mit eigenem Equipment vorzugsweise Unfallopfer, Schießereien, Naturkatastrophen oder Verfolgungsjagden filmt, seine Beiträge selbst schneidet und sie dann Nachrichtensendern anbietet. „Je blutiger, desto besser“ (im Original: „If it bleeds, it leads.“) ist die gängige und in Nightcrawler an diesem Punkt zitierte Devise für solches Material. Obwohl Loder den arbeitsuchenden Louis nicht einstellen will, ist dieser sich sicher, soeben seine Berufung gefunden zu haben.

Ein Soziopath wird Journalist

In seinem düsteren Regiedebüt erzählt der bis dato als Drehbuchautor tätige Dan Gilroy die Geschichte vom Aufstieg eines ambitionierten Kleinkriminellen zum gefragten Stringer. Louis rüstet sich zunächst mit einem einfachen Camcorder und dem obligatorischen Funkscanner aus, mit dem sich der örtliche Polizeifunk abhören lässt – anders als in Deutschland ist dies in den USA legal. Als blutiger Anfänger übertritt er dabei Grenzen, wird von den Rettungskräften und Polizisten zurechtgewiesen und von den erfahrenen Stringern ausgelacht. Man könnte als Zuschauer fast Mitleid mit ihm empfinden, wenn die von ihm gewählte Profession moralisch nicht so fragwürdig wäre. Und wenn Louis nicht so einen speziellen Charakter hätte.

Denn Louis Bloom ist ein Antiheld auf jeder denkbaren Ebene: nicht bloß wegen seiner halbseidenen Tätigkeiten zu Beginn des Films, sondern auch aufgrund seines kalkulierten Auftretens, seiner sehr präzisen Artikulation und seiner völligen Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen und dem Leid anderer Menschen. Es ist ein kaltes Charisma, das von dieser Figur ausstrahlt, was zum einen an Jake Gyllenhaals intensiver Darbietung und zum anderen an Gilroys pointiertem Skript liegt.

Realitätsverzerrung für die Quote

Dieses Skript beschränkt sich nicht auf eine Charakterstudie, sondern bettet Louis‘ Werdegang in eine größere Erzählung über problematischen Fernsehjournalismus ein. Nach ersten erfolglosen Versuchen schafft es Louis, das Opfer einer Schießerei zu filmen, während dessen Wunden von Notärzten auf der Straße versorgt werden. Diesen Beitrag bringt er zu KWLA, einem (fiktiven) Lokalsender in Los Angeles, der Mühe hat, im Quotenkampf mit den anderen Sendern mitzuhalten. Nina (Rene Russo), die Chefredakteurin der Nachtschicht, nimmt Louis‘ blutigen Beitrag dankbar entgegen – er soll als Aufmacher für die Morgennachrichten dienen.

Nightcrawler greift hier die ab den 1980er-Jahren einsetzende Hinwendung amerikanischer Fernsehsender zu sensationalistischer Berichterstattung und drastischen Aufmachern auf. Vor allem lokale Nachrichtensender, die sich beim Erwerb ihrer Sendelizenz in den USA dazu verpflichten, dem öffentlichen Interesse zu dienen, sprangen damals auf diesen Zug auf. Zunehmend wurde über effektheischende Themen berichtet, allen voran Verbrechen. In Los Angeles, das in den 1980er-Jahren von Gang-Kriminalität und Unruhen stark gezeichnet war, waren solche Geschichten schnell gefunden. Doch obwohl die Kriminalitätsrate dieser Stadt in den darauffolgenden Jahrzehnten kontinuierlich sank, ist das Thema Verbrechen bis heute überpräsent in den Lokalnachrichten: In Nightcrawler zitiert Louis eine Studie der University of Southern California von 2010, der zufolge die dreißigminütige Sendezeit von Lokalnachrichten im Schnitt nur 22 Sekunden Informationen zur Lokalpolitik enthält. Berichterstattung über Verbrechen macht mit durchschnittlich zweieinhalb Minuten Länge pro Sendung das Siebenfache dessen aus.

In Nightcrawler wird nicht nur thematisiert, wie die Lokalsender die punktuelle Realität von Verbrechen zum vorherrschenden Phänomen hochspielen. Gilroys Film zeigt zugleich, welches Narrativ die Sender ihrem Publikum dabei vorzugsweise vermitteln. Dies erläutert Nina kurz nach der ersten Begegnung mit Louis: „Unsere Zuschauer interessiert besonders, wie die Kriminalität aus der Stadt in die Vororte greift.“ Die Sender setzen auf den Verkaufsfaktor Angst – und zwar die einer spezifischen Zielgruppe. So liegt das Interesse von KWLA zwar an Aufnahmen von Unfall- und Verbrechensopfern, bei Letzteren sei aber die Herkunft entscheidend, erklärt Nina Louis: „Am besten ist also ein Opfer oder mehrere, die vorzugsweise wohlhabend und weiß sind, und ein Täter aus der Unterschicht oder einer ethnischen Minderheit.“

Erfolgsgeschichte eines Antihelden

Welche Folgen die mediale Verzerrung und Verbreitung eines solchen Narrativs für die Gesellschaft hat, wird in Nightcrawler dann aber wieder zugunsten des Protagonisten und auch der Spannung hintangestellt. Stattdessen wird im weiteren Verlauf der Aufstieg von Louis erzählt, mit einem skrupellosen Schritt nach dem anderen. So schleift er etwa ein verletztes Unfallopfer ein paar Meter weiter, um eine bessere Bildkomposition für seine Aufnahme zu erreichen. In einer anderen Szene verschafft er sich nach einem Schusswechsel unerlaubt Zugang zum Haus der unverletzt gebliebenen Betroffenen und filmt deren an den Kühlschrank geheftete Familienfotos, um seinen Beitrag mit mehr Emotion aufzuladen. Bald verdient er genügend Geld, um in professionelles Equipment und einen schlecht bezahlten Praktikanten investieren zu können. Sein Ehrgeiz wächst – und in gleichem Maße auch seine Bereitschaft, für gefragte Aufnahmen über Leichen zu gehen.

In der Manier eines Film noir erzählt Gilroy diese „Erfolgsgeschichte eines Antihelden“, wie er sie selbst in einem Interview bezeichnete. Obwohl dem Zuschauer Louis‘ Vorgeschichte nicht bekannt ist, lässt er sich sehr schnell als unzurechnungsfähiger Soziopath einordnen, der nicht viel übrig hat für seine Mitmenschen, für seine Ziele aber umso mehr. Dass so eine Figur zum Schluss triumphiert, macht Nightcrawler zu einer treffenden Mischung aus Thriller und bitterer Mediensatire. Diese übt damit im Kern weniger Kritik an ihrem Protagonisten und der Stringer-Profession als vielmehr am Nachrichtensystem und -publikum, die solch einen Beruf erst ermöglichen.

Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis

(Originaltitel: Nightcrawler)

USA 2014, 117 Min.

Regie und Drehbuch: Dan Gilroy

Kamera: Robert Elswit

Besetzung: Jake Gyllenhaal, Rene Russo, Riz Ahmed, Bill Paxton

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Dobrila_KonticDobrila Kontić, M.A., studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Journalismus am Deutschen Journalistenkolleg (DJK). Sie betreibt das Onlinemagazin culturshock.de.

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