Filmkritik zu „Red Privada“: Ein Journalistenmord als Zäsur
Aufwendig recherchiert und in origineller visueller Gestaltung befasst sich die Netflix-Doku „Red Privada“ mit der unerwartet aktuellen Frage, wer den mexikanischen Journalisten Manuel Buendía 1984 tatsächlich ermordet hat.
Der gewaltsame Tod des mexikanischen Kolumnisten Manuel Buendía, der am 30. Mai 1984 in Mexiko-Stadt erschossen wurde, war gewiss nicht der erste Journalistenmord in der bewegten Geschichte des lateinamerikanischen Landes. Und, wie es sich heute mit trauriger Gewissheit und mit Blick auf die gegenwärtige Lage der Pressevertreter*innen in Mexiko sagen lässt, es war auch noch lange nicht der letzte. Dennoch ging ein Raunen durch alle Zeitungen des Landes – und vielfach auch außerhalb Mexikos – am Tag nach dieser Tat, die in (damals noch) ungewöhnlicher Weise am helllichten Tag, auf offener Straße und an einem der profiliertesten Journalisten Mexikos begangen wurde.
Hierzulande dürfte der Name Manuel Buendía nicht allzu geläufig sein. Doch selbst der mexikanische Drehbuchautor und Regisseur Manuel Alcalá erfuhr über den Fall Buendía erst zufällig in den 2000er-Jahren, als er für den Spielfilm „Museo“ recherchierte, der ihm 2018 auf der Berlinale den Silbernen Bären für das beste Drehbuch einbringen sollte. Mit dem Dokumentarfilm „Red Privada – Wer hat Manuel Buendía umgebracht?“ legte Alcalá 2021 sein Regiedebüt vor, das vom Streaminganbieter Netflix mitproduziert wurde und den offiziell als abgeschlossen geltenden Mordfall neu aufrollt.
Scharfe Beobachtungsgabe und geladene Waffe
Zahlreiche Kolleginnen und Weggefährten von Buendía aus Politik und Presse kommen in diesem 100-minütigen Film zu Wort und legen gemeinsam dessen Bedeutung als Journalist dar. Dabei fällt das Augenmerk dieses Films schnell auf Buendías titelgebende Kolumne „Red Privada“ (deutsch: „Privates Netzwerk“), die ab 1957 dreimal wöchentlich in der Tageszeitung La Prensa erschien und ab 1978 in der traditionsreichen Publikation Excelsior fortgeführt wurde. Der Inhalt dieser Kolumne, so verdeutlichen die vom Schauspieler Daniel Giménez Cacho aus dem Off vorgetragenen Artikelausschnitte, war immer investigativer und kontroverser Natur: So prangerte Buendía etwa den Einfluss deutschstämmiger Faschisten in der Stadt Guadalajara an, schrieb offen über Rubén Figueroa, den egozentrischen, hochkorrupten Gouverneur des Bundesstaats Guerrero, und enthüllte die Identitäten zahlreicher, in Mexiko verdeckt ermittelnder CIA-Agenten.
Obwohl der 1926 geborene Buendía seine Kolumnen häufig unter Pseudonymen veröffentlichte, wurde er mit der Zeit immer bekannter – auch durch seine Beiträge im mexikanischen Radio und Auftritte im Fernsehen, die in diese sehr abwechslungsreich aufgebaute Doku integriert wurden. In einer Sparte namens „Gesagt ist gesagt“ innerhalb einer Nachrichtensendung Ende der 1970er-Jahre ist Buendía – elegant in Hemd und Weste gekleidet – hinter dem Schreibtisch sitzend und rauchend zu sehen. Mit festem Blick in die Kamera bezeichnet er die CIA als „Spionage- und Subversionsagentur“ und verweist auf seine am Folgetag erscheinende Kolumne, in der mehr über dieses „Instrument des nordamerikanischen Imperialismus“ zu lesen sein würde.
Seine brisanten Enthüllungen, die Kolleginnen und Kollegen zufolge auf Informationen hochrangiger Persönlichkeiten, aber auch auf dem aufmerksamen Studieren kleinster Zeitungsbeiträge und dem anschließenden Verknüpfen und Nachrecherchieren von Informationsschnipseln basierten, brachten ihm sehr bald eine enorme Reichweite ein: Zeitweise erschien die Kolumne „Red Privada“ in rund 200 mexikanischen Zeitungen. Mit der Popularität seiner Kolumne stieg seine Bekanntheit und damit wiederum auch seine Exponiertheit. Die sich daraus ergebende Lebensgefahr war Buendía, Ehemann und Vater dreier Kinder, durchaus bewusst: In seinen letzten Lebensjahren führte er immer eine geladene Pistole mit sich, die er mitunter in einem Buch versteckte. Diese hatte er auch am Tag seiner Ermordung bei sich, als der Täter sich ihm beim Verlassen seines Büros von hinten näherte und ihn mit vier Schüssen in den Rücken und in den Kopf traf.
Bedeutsamer Blick in die Vergangenheit
„Red Privada“ setzt sich mit der Bedeutung Buendías als prinzipientreuem Journalisten intensiv auseinander. Dabei tritt Manuel Alcalás Erfahrung im Grafikdesign auch in der aufwendigen Gestaltung dieser Dokumentation auf angenehme Weise zutage: Wiederholt sind in extremer Nahaufnahme Teile der komplexen Maschinerie einer Druckerpresse zu sehen. Buendías zahlreiche Artikel sowie Ausschnitte aus den von ihm verfassten Sachbüchern überlagern sich in rasanten visuellen Sequenzen. Zudem wird anhand einer detaillierten Miniatur-Rekonstruktion der Tathergang des Mordes aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Drei Jahre hat die Produktion dieses Dokumentarfilms gedauert, wobei Alcalá seine ersten Interviews, unter anderem mit dem als Drahtzieher des Mordes verurteilten José Antonio Zorrilla Pérez (ehemals Chef des mexikanischen Geheimdienstes DFS), bereits 2008 geführt hat.
Zeitgleich ist es Alcalá auch ein Anliegen, die gesellschaftlichen und politischen Kontexte Mexikos in den 1970er- und 1980er-Jahren zu untersuchen – mitsamt dem zugehörigen Gemenge aus politischer Korruption, stetig erstarkenden Drogenkartelle, strategischen Allianzen im Kalten Krieg und Einmischung durch die USA. Seine näheren Absichten verriet er der mexikanischen Publikation Expansión Política: „Mit diesem Projekt möchte ich vor allem eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen, aber nicht in Form von Nostalgie, sondern um zu sehen, was von dieser Vergangenheit noch präsent ist, und nicht davor wegzulaufen, sondern daraus zu lernen.“ Dieses Anliegen äußert sich auch in dem aus George Orwells Roman „1984“ stammenden Zitat, das bedeutungsvoll im Vorspann von „Red Privada“ platziert wurde: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“
298 Hypothesen und eine unbeachtete
Die Bedeutung dieses Zitats offenbart sich schließlich im dritten Akt von „Red Privada“, als es um die offizielle Aufklärung des Falls geht. 1989, fünf Jahre nach der Tat, die zwischenzeitlich angeblich „298 Hypothesen, basierend auf Buendías Kolumnen, und 24 auf Basis persönlicher und familiärer Beziehungen“ umfasste. Schließlich werden der erwähnte ehemalige Geheimdienstler (und langjährige Freund Buendías) José Antonio Zorrilla Pérez sowie DFS-Agent Juan Rafael Moro Ávila festgenommen und zu mehreren Jahrzehnten Gefängnis verurteilt. Beide sind inzwischen wieder auf freiem Fuß, Ávila kommt in dieser Dokumentation sogar ausführlich zu Wort. Unverändert scheint aber die Überzeugung in Buendías Freundes- und Kollegenkreises, dass mit dem gerichtlichen Urteil von 1989 noch längst nicht die ganze Wahrheit ans Licht gebracht wurde und die wahren Drahtzieher hinter diesem Journalistenmord nie verurteilt wurden.
Alcalá geht in seinem Dokumentarfilm auf weitere Spurensuche. Dabei berücksichtigt er auch einige Theorien, die auf Buendías investigative Recherchen und Veröffentlichungen zur erstarkenden Drogenkriminalität im Zusammenhang mit den Machenschaften mexikanischer und US-amerikanischer Geheimdienste verweisen. So wird ein weiter, durchaus plausibler Bogen gespannt zum Kalten Krieg und möglichen US-amerikanischen Abwägungen im gleichzeitigen Kampf gegen den Kommunismus und gegen den Drogenhandel. Obgleich Alcalá aufschlussreiche Aussagen namhafter Quellen in „Red Privada“ präsentiert, ist damit die finale Antwort auf die Frage nach den wahren Urhebern für Buendías Tod vermutlich noch nicht gefunden.
Fazit
Viel wichtiger als die Frage nach dem wahren Urheber scheint in diesem Film ohnehin, dass die Ermordung Buendías nun, mit dem Wissen um Mexikos weitere Entwicklung in den darauffolgenden Jahrzehnten, als bedeutsame Zäsur betrachtet wird, die auf die gefährliche Lage der mexikanischen Journalistinnen und Journalisten in der Gegenwart verweist. Wie der mexikanische Journalist und Menschenrechtler Sergio Aguayo zum Ende der Dokumentation formuliert, gilt es, diesen Journalistenmord in den besonderen geschichtlichen Kontext einzuordnen: „Die Geschichte Mexikos im 20. Jahrhundert ist die Geschichte des Zerfalls des mexikanischen Staates und der Entstehung und Konsolidierung organisierter Kriminalität.“ Mit dem Tod Buendías 1984, so lässt es „Red Privada“ empfinden, scheint dieser Zerfall noch unaufhaltsamer geworden zu sein.
Hinter den Schlagzeilen Red Privada – Wer hat Manuel Buendía umgebracht?
(Originaltitel: Red Privada)
Mexiko 2021. 100 Min.
Regie: Manuel Alcalá.
Buch: Manuel Alcalá, Andrea Paasch
Kamera: Rodrigo Sandoval Gil
Schnitt: Yibrán Asuad
Sprecher: Daniel Giménez Cacho
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=gm1MVnKMXcY&ab_channel=NetflixLatinoam%C3%A9rica
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)
Dobrila Kontić hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Journalismus am Deutschen Journalistenkolleg (DJK) studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin, Film- und Serienkritikerin in Berlin.