Filmkritik zu „Tausend Zeilen“: Eine augenzwinkernde Abrechnung
Regisseur Michael „Bully“ Herbig hat den Medienskandal um Claas Relotius in einen unterhaltsamen, aber lediglich an der Oberfläche kratzenden Film adaptiert.
„Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ heißt das Buch, in dem Journalist Juan Moreno haargenau schildert, wie er Ende 2018 den Spiegel-Redakteur Claas Relotius der mehrfachen Fälschung seiner Reportagen überführte und so einen gewaltigen, bis heute nachwirkenden Medienskandal auslöste. Als das Buch im Herbst 2019 auf den Markt kam, waren die Filmrechte daran schon längst erworben. Unter Regie von Michael „Bully“ Herbig, der nach seiner Karriere als Sketch-Comedian vor allem Komödien drehte, ist nun der von Morenos Vorlage „inspirierte“ Film entstanden. Die Namen der Hauptfiguren sind verspielte Abwandlungen (Lars Bogenius, Juan Romero) von denen der realen Akteure. Zudem könnte der verkürzte Titel Tausend Zeilen einen sachteren Umgang mit dem Stoff vermuten lassen – aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.
Tempo und Kurzweiligkeit
Tausend Zeilen eröffnet rasant und willens, dieses hohe Erzähltempo durchgehend zu halten. Aus dem Off führt die Erzählstimme Juan Romeros (Elyas M’Barek) in das Szenario ein; er stellt sich als Familienvater und freier Journalist vor, der hauptsächlich für das Nachrichtenmagazin Die Chronik arbeitet – und kommt sogleich auf die Print-Krise zu sprechen. Als Folge nennt er die dramatischen Einbrüche bei den Auflagen der Chronik und vieler anderer Publikationen, was sogleich mit eingeblendeten Grafiken verbildlicht wird. Schließlich stellt Romero seinen Kollegen und unerwarteten Widersacher Lars Bogenius (Jonas Nay) vor, der seit Jahren als festangestellter Reporter im Gesellschaftsressort der Chronik arbeitet, diverse Journalistenpreise gewonnen hat und als Jahrhunderttalent gefeiert wird.
Dies alles ist mit spannungsgeladener Filmmusik unterlegt, wie man sie von einem Heist-Movie wie Ocean’s Eleven (2001) erwarten würde. Darüber hinaus finden sich in Tausend Zeilen diverse stilistische Parallelen zu US-Filmen über Gaunereien in der Finanzwirtschaft – man denke da insbesondere an Martin Scorseses The Wolf of Wall Street (2013) und Adam McKays The Big Short (2015), die mit auflockernden Mitteln die Komplexität und den Irrsinn der Wall Street erläuterten.
An diesen essayistischen Einstreuungen scheint sich Tausend Zeilen ein Beispiel zu nehmen: Sowohl Juan Romero als auch Lars Bogenius durchbrechen mehrfach die vierte Wand und sprechen mit Blick in die Kamera direkt zum Publikum. An einer Stelle wird die laufende Redaktionssitzung unter Leitung von Ressortleiter Matthias Habicht (Michael Maertens) gestoppt und Juan Romero wandelt im Morgenmantel durch die eingefrorene Szenerie, um über die hierarchischen Verhältnisse in der Chronik-Redaktion aufzuklären. Wiederholt bedient sich der Film surrealer Verbildlichungen, etwa als Romero von Bogenius am Telefon geschulmeistert wird und sich plötzlich wirklich in einem Grundschulzimmer wiederfindet, in dem ihm Bogenius eine Standpauke hält.
Dies alles ist durch den rasanten Schnitt von Alexander Dittner sorgsam komponiert, trägt aber auch zu einer gewissen Atemlosigkeit bei, mit der Tausend Zeilen durch das Geschehen um den Fälschungsskandal eilt.
Nah am Inhalt, fernab vom Tonfall der Vorlage
Dabei orientiert sich der Plot recht genau an der Schilderung der Geschehnisse in Morenos Vorlage: Zu Beginn des Films sollen Romero und Bogenius erstmals für eine umfangreiche Reportage über die US-amerikanische Grenzpolitik unter Präsident Donald Trump zusammenarbeiten. Während Romero einen Flüchtlingskonvoi zur mexikanisch-amerikanischen Grenze über mehrere Tage begleitet, soll Bogenius Kontakt zu selbst ernannten US-Grenzschützern aufnehmen, die die Flüchtenden an der illegalen Einwanderung hindern wollen. Beide sollen getrennt recherchieren und Bogenius, so der Wille von Ressortleiter Habicht, das Ganze dann zu einer Reportage „zusammenschreiben“. Romero, der schon anfangs Bedenken äußert und die Reportage lieber im Alleingang recherchieren und verfassen würde, fügt sich dem Willen Habichts, erledigt seinen strapaziösen Recherche-Part in Mexiko und erhält kurz nach seiner Ankunft in Berlin Bogeniusʼ Text, in dem er einige Unstimmigkeiten vorfindet. Er geht seinen Zweifeln nach und vermutet zunächst, dass Bogenius hier und da etwas unsauber recherchiert haben mag oder von den Grenzschützern möglicherweise getäuscht wurde. Nach tiefergehenden Recherchen entwickelt Romero aber die Überzeugung, dass der Starjournalist sich große Teile der Reportage einfach ausgedacht hat.
Tausend Zeilen schildert Romeros tagelange unermüdliche Nachrecherchen mit einem großen Maß an Spannung und Abwechslung, was bei der Detailfülle an Informationen zur realen Enthüllung um Relotiusʼ Fälschung in der damaligen Spiegel-Reportage „Jaegers Grenze“ kein einfacher Akt ist. Zudem gelingt es Elyas M’Barek mit seiner nuancierten Darstellung, sehr viel Empathie auf die Hauptfigur Romero zu ziehen. Dieser geht seinen Zweifeln unermüdlich nach, obwohl ihm Rainer Habicht und der stellvertretende Chronik-Chefredakteur Christian Eichner (Jörg Hartmann) lange Zeit keinen Glauben schenken. Romero sieht bald seinen Ruf, seine Karriere als freier Journalist und seine Existenz gefährdet, lässt aber von seinem Verdacht nicht ab und reist kurzerhand mit dem Fotografen Milo (Michael Ostrowski) in die USA, um auf eigene Faust Bogeniusʼ angeblich lupenreine Recherche zu prüfen.
Dies entspricht weitgehend der Vorlage, die auch eine sehr persönliche und selbsteinsichtige Schilderung der persönlichen Belastung von Juan Moreno als Whistleblower ist. Anders aber als in Morenos Buch, das sich eher zaghaft an eine Charakterisierung von Relotius, dem damaligen Ressortleiter Matthias Geyer und dem damals stellvertretenden Spiegel-Chefredakteur Ullrich Fichtner wagt, ist die Figurenmotivation in Tausend Zeilen sehr viel klarer umrissen: Lars Bogenius wird als aus kaltem Kalkül handelnder Karrierist dargestellt, der ohne Gewissensbisse seinen KollegInnen und Vorgesetzten Lügen auftischt. Mehrfach ist er dabei zu sehen, wie er nonchalant in luxuriösen Hotelanlagen Erdachtes in seinen Laptop tippt, ohne tatsächlich zuvor vor Ort recherchiert zu haben. Protegiert wird er von Rainer Habicht, den Michael Maertens mit sichtlichem Spaß als überheblich-autoritären Chef mit zurückgegelten Haaren und einer Passion für Rotweingelage und Golf spielt.
Eine verdiente Abrechnung?
In der Einleitung zu „Tausend Zeilen Lüge“ stellte Juan Moreno sehr genau klar, worum es ihm nicht gehe: „Dieses Buch ist keine Abrechnung. Nicht mit dem Spiegel. Nicht mit meinen damaligen Chefs. Nicht mal mit Claas Relotius.“ Trotz der Schonungslosigkeit, mit der Moreno seine damaligen Enthüllungsbemühungen „gegen massiven Widerstand im Spiegel“ darlegt, schlägt er einen insgesamt versöhnlichen und stets respektvollen Ton an, wenn es um seine damaligen Vorgesetzten und das Magazin als solches geht.
Diese Nuanciertheit geht Tausend Zeilen gänzlich ab. Die Überzeichnung von Figuren wie Bogenius und Habicht ist stattdessen darauf angelegt, aus diesem Film eine Mediensatire zu machen. Durch die recht explizite Bezugnahme auf den realen Fall stellt sich aber natürlich die Frage, ob dies eine treffende Darstellung ist. Der damals verantwortliche Ressortleiter Matthias Geyer ist inzwischen nicht mehr für den Spiegel tätig. Sein Abgang war wohl auch eine Folge des ausführlichen Berichts der Aufklärungskommission zum Relotius-Fall – ob diese aber tatsächlich fair über Geyer geurteilt habe, wird mitunter angezweifelt. Claas Relotius, der weder Juan Moreno noch der Kommission als Gesprächspartner im Zuge der Aufklärung des Skandals zur Verfügung stand, gab 2021 dem Schweizer Magazin Reportagen ein ausführliches, viel gelesenes Interview über die Fälschungen, die wohl einen Großteil seiner 120 für unterschiedliche Publikationsorgane verfassten Texte durchziehen. Darin erklärte er, wie ihm auch ein im Beitrag erwähnter Psychiater attestiert, unter dissoziativen, psychosenahen und psychotischen Zuständen während seiner Arbeit als Journalist gelitten zu haben. Die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen wurde anschließend in einigen Medien angezweifelt, letzten Endes bleibt sie wohl unüberprüfbar.
Breitenwirksamkeit statt Differenziertheit
Natürlich hat ein Film über den Fall Relotius keinerlei Verpflichtung, solche Abwägungen und Ambivalenzen in den Plot miteinfließen zu lassen – zumal Tausend Zeilen in erster Linie anscheinend als visuell ansprechender, rasant erzählter Unterhaltungsfilm verstanden werden will. Zuweilen gelingt dies durchaus und häufig genug gehen die Situationskomik und Pointen auf. In seiner Gesamtheit greift dieser Film aber – anders als Helmut Dietls Schtonk! (1992) – über die Kritik am Gebaren der Chronik-Verantwortlichen nicht weit genug hinaus, um wirklich als schonungslose Mediensatire zu gelten. Hier wäre stattdessen ein wenig mehr Vertrauen in die Differenziertheit und Nachdenklichkeit der weiterhin lesenswerten Buchvorlage wünschenswert gewesen.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)
Tausend Zeilen
Deutschland 2022. 93 Min:
Regie: Michael „Bully“ Herbig. Drehbuch: Hermann Florin
Kamera: Torsten Breuer
Besetzung: Elyas M’Barek, Jonas Nay, Michael Mertens, Jörg Hartmann, Marie Burchard, Michael Ostrowski
„Tausend Zeilen“ läuft ab 29. September in den deutschen Kinos.
Dobrila Kontić hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Journalismus am Deutschen Journalistenkolleg (DJK) studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin, Film- und Serienkritikerin in Berlin.