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Im Zeichen des Ukraine-Kriegs: Auslandsberichterstattung aus Warschau

Paul Flückiger lebt seit Juni 2000 als freier Korrespondent in Warschau. Er schreibt über Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der Ukraine, in Belarus und Moldawien. Seine Reportagen und andere Texte erscheinen unter anderem in der Financial Times Deutschland, in der Neuen Zürcher Zeitung, im Focus, im Profil und in der Zeit. Außerdem ist er Gründungsmitglied von Weltreporter.net, einem globalen Netzwerk deutscher Auslandskorrespondentinnen und -korrespondenten. Im Fachjournalist berichtet er, wie er als langjähriger Korrespondent in Osteuropa den Ukraine-Krieg erlebt und wie dieser die Auslandsberichterstattung verändert hat.

Herr Flückiger, wie wird man Auslandskorrespondent? Welche Eigenschaften sollte man besitzen?

Jeder kann im Prinzip Auslandskorrespondent werden. Grundsätzlich ist es aber immer von Vorteil, wenn man ein Volontariat oder zumindest ein Praktikum in einer Redaktion absolviert hat. Es ist einfach hilfreich, um zu verstehen, wie die Kollegen dort ticken und was sie bewegt. Das ist ja der Kunde, dem man sein Material später anbietet. Sehr wichtig ist natürlich, die entsprechende Landessprache zu kennen, denn das Arbeiten mit Übersetzern ist teuer und verhindert den direkten persönlichen Kontakt, der für eine wirkliche Einschätzung der Verhältnisse wichtig ist. Die wichtigste Eigenschaft ist Neugier.

Sie haben Ihr Büro in Warschau und reisen viel in ganz Osteuropa. In welcher Region bemerken Sie derzeit am meisten Umbrüche?

Der größte Umbruch ist im Augenblick einfach in der Ukraine, weil dort Krieg herrscht. Dort ist alles unsicher und nichts ist planbar, für niemanden. Auch wenn sich viele Einheimische eine Art Alltag schaffen, kann in jeder Region immer überraschend eine Rakete einschlagen. Oder irgendwo schlägt eine Rakete ein und der Zug fährt dann nicht; es gibt derzeit einfach zu viele unvorhersehbare Ereignisse dort.

Auch in Moldawien gibt es momentan starke Umwälzungen, weil es als das Land gilt, auf das sich der Krieg vielleicht ausbreiten könnte. Das angegriffen oder auch nur blockiert werden könnte.

Und immense Umbrüche gibt es in Ländern, die eine sehr große Anzahl von ukrainischen Flüchtlingen aufgenommen haben, also Polen, Tschechien und die drei baltischen Staaten: Länder, die im Verhältnis zu ihrer Größe eine hohe Zahl an Flüchtlingen beherbergen. Das sind auch politisch ambitionierte Länder, die die Gefahr, die vom russischen Imperialismus ausgeht, sehr ernst nehmen. Das betrifft eigentlich ganz Osteuropa mit Ausnahme von Belarus. Und hier wird auch Lukaschenko fallen, sollte Putin in Moskau gestürzt werden, wobei ich dafür derzeit wenig Anzeichen erkennen kann.

Hat der Ukraine-Krieg die Auslandsberichterstattung verändert?

Ganz sicher. Sehr stark sogar. Früher habe ich schwerpunktmäßig Belarus, Polen und Ukraine zu je 30 Prozent gemacht, plus gesammelter Kleinkram in ganz Osteuropa. Letztes Jahr waren 80 Prozent der Berichterstattung nur Ukraine; Polen etwa zehn Prozent, Belarus fünf Prozent und der Rest dann Osteuropa. Also alles bei mir sehr stark verschoben.

Verändert hat sich auch die Wahrnehmung der Ukraine als Randnotiz: Das Land genießt heute eine viel größere Aufmerksamkeit in den Redaktionen. Da gibt es jetzt sehr viele Ukraine-Versteher und Ukraine-Erklärer. Nicht wenige Redakteure mussten jetzt zwangsläufig zu Ukraine-Experten werden. Es gibt also heute auch viel mehr Wissen über die Ukraine in den Redaktionen. Und man rennt mit Ukraine-Themen sehr oft offene Türen ein. Seit Jahresanfang 2023 sehe ich eine gewisse Sättigung, aber es ist immer noch ein sehr bestimmendes Thema.

Ich muss also heute auch gar nicht mehr erklären, warum ich in Warschau sitze. Und sehr viele junge freie Journalisten und Fotografen reisen gerade in die Ukraine, um sich zu profilieren. Leider unter schwierigen Bedingungen, da sich viele keine Sicherheit leisten können. Von den bisher 15 erwiesenermaßen bei der Arbeit in der Ukraine getöteten Journalisten sind fünf Ausländer – und davon viele Freie.

Wie erleben Sie in Warschau und auf Ihren Recherchereisen den Ukraine-Krieg?

Ich war zu Beginn des Kriegs in der Ukraine und dann war ich noch einmal weit entfernt von der Front in der Süd-Ukraine, bin also während des Kriegs kaum im Land gewesen. Ich beschreibe die Verhältnisse basierend auf meinen vielen früheren Reisen – ca. 50 Reisen in den letzten 20 Jahren.

Die meisten Städte und Regionen, in denen schwere Kämpfe stattfanden, kenne ich noch von früher. Aufgrund dieser Erfahrungen schaue ich mir die Frontverläufe an, telefoniere mit meinen vielen Kontaktleuten, lasse mir die Situation schildern und versuche, das dann einzuschätzen.

Wie groß ist dabei Ihre mentale Belastung – und die Gefahr, bei Recherchen in der Ukraine auch körperlich Schaden zu nehmen?

Wenn man sich mehr als 20 Jahre mit dem Land beschäftigt, dann gibt es natürlich auch Kontakte, die einem näher an das Herz gewachsen sind. Die Sorge um gute Freunde war zu Beginn tatsächlich eine erhebliche mentale Belastung, zumal ich immer versuche, meine Netzwerke nicht nur um Informationen auszupressen, sondern auch ein gutes Verhältnis zu pflegen. Diese Kontakte auch als Menschen wahrzunehmen. Daher hat mich die Sorge um viele gute Freunde zu Beginn des Kriegs sehr belastet. Bei jedem Raketenbeschuss gab es dann zunächst Nachfragen über WhatsApp oder Telegram, ob jemand zu Schaden gekommen ist. Mit der Zeit habe ich das jetzt etwas beiseitelegen können, weil man sich ja nicht ständig um andere Menschen ängstigen kann. Aber ich empfand diese Situation als große emotionale Belastung.

Wenn ich jetzt ständig dort wäre, dann würde ich mich selbst in Gefahr begeben, was eine zusätzliche Herausforderung bedeuten würde.

Steckt der Auslandsjournalismus in der Krise? Wie bewerten Sie die aktuellen Entwicklungen bezüglich sinkender Honorare und hoher Reisekosten bei der Recherche?

Ich würde sagen, der Auslandsjournalismus steckt bestimmt in der Krise. Aber der Krieg in der Ukraine hat gerade gezeigt, dass die Region früher sträflich vernachlässigt und nur allzu oft aus der Ferne in Moskau erklärt wurde. Sehr viele Redaktionen haben das jetzt erkannt und es wurden von Zeitungen etliche Korrespondenten nach Kiew geschickt. Das könnte sich also etwas berichtigten. Es gibt auch jetzt Geld für Ukraine-Recherchen, weil das recht kostspielig ist.

Hinzu kommen die großen Entfernungen. Wenn ich von Warschau nach Kiew mit dem Zug fahren will, dann dauert das 20 Stunden, also fällt da ein kompletter Arbeitstag weg. Das sind einfach unglaubliche Entfernungen, die auch viel Zeit kosten. Das ist vielen Redakteuren und Auftraggebern noch nicht ganz klar, dass eine Recherche vor Ort einfach sehr zeitaufwendig ist. Dass man bei sechs Tagen Arbeit schon mal vier Tage Reisezeit hat und diese auch bezahlt werden müssen. Das ist oft schwer vermittelbar und wird gerne bei der Verhandlung ausgeblendet.

Aber insgesamt würde ich sagen, dass der Ukraine-Krieg sowohl den festen als auch den freien Journalisten hilft.

Warschau gilt als das neue Berlin, wie im Februar der Besuch von US-Präsident Joe Biden eindrucksvoll unterstrichen hat. Was macht die Stadt für Korrespondenten so reizvoll?

Biden möchte, dass Warschau das neue Berlin ist – und Warschau unterstreicht diese Bedeutung politisch, dass sich das Zentrum Europas weiter nach Osten verschiebt. Bei der polnischen Regierung wird die Achse Warschau – Washington gesehen, weniger Paris – Berlin. Ob sich das aber so entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Derzeit sitzen die europäischen Entscheider noch woanders.

Aber Warschau ist sehr attraktiv, auch für Korrespondenten, die vorübergehend aus Moskau abgezogen wurden und einen neuen Sitz benötigten; die polnische Hauptstadt ist tatsächlich geografisch günstig gelegen. Polen teilt rund 600 Kilometer Grenze mit zehn Übergängen mit der Ukraine. Es gibt sehr viele Flüchtlinge im Land, darunter auch belarussische Exilpolitiker sowie solche aus anderen Ostblockstaaten. Die polnische Fluggesellschaft LOT fliegt die meisten osteuropäischen Hauptstädte an, sodass man auf eine gute Infrastruktur zurückgreifen kann.

Dennoch ist Warschau im Vergleich zu Prag oder Budapest etwas weniger reizvoll. Daher bevorzugen viele Korrespondenten diese anderen Städte. Warschaus Bedeutung nimmt aber weiter zu und es gibt ganz klar deutlich mehr ausländische Berichterstatter dort.

Harte News oder persönliche Hintergrundgeschichten? Was wird am meisten gefragt?

Es ist beides gefragt. Ich schreibe zur Ukraine derzeit sehr viele News-Geschichten in Tageszeitungen, denn in der Regel sind diese selbsternannten Ukraine-Spezialisten mit einigen Themen doch stark überfordert. Dann gibt es Anfragen wie: „Wie sieht es denn heute in Bachmut aus? Schreib das doch mal auf.“ Bei Drohnenangriffen auf der Krim gab es auch viele Anfragen nach Einschätzungen der Lage.

Man sieht einfach, dass durch die dauernden Medienkrisen die Redaktionen personell ausgedünnt wurden. Experten mit besonderen Landes- und Sprachkenntnissen sind rar geworden. Ich arbeite mit Tageszeitungen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich – und da gibt es oft nur noch zwei Leute, die die ganze Welt unter sich aufgeteilt haben. Die kommen schnell ins Schwimmen und stricken oft genug die Zeitungsausgabe mit Mitteln aus dem News-Ticker. Und von den beiden war dann vielleicht einer früher für Russland zuständig und ist nun auch notgedrungen zum Ukraine-Experten geworden. Jetzt hat sich der Kollege da etwas eingearbeitet – und wenn der dann gerade krank wird, gibt es wieder ein Problem mit der tagesaktuellen Berichterstattung.

Die meisten dieser kleinen Redaktionsteams sind einfach überfordert mit dem Thema Osteuropa und Ukraine. Viele konzentrieren sich auch nur auf Schlaglichter wie Bachmut. Kaum einer fragt einmal den Korrespondenten, ob er Kriegsdienstverweigerer, Bachmut-Veteranen oder ehemalige Kriegsgefangene in der Ukraine kennt.

Deshalb mache ich sehr viele harte News vom Schreibtisch aus, mit meinen Kontakten und meiner Erfahrung. Aber ich glaube, dass diese persönlichen Hintergrundgeschichten einfach nötig wären, um einen Krieg glaubwürdig zu erzählen und auch zu erklären.

Faktenbasierte Nachrichten sind unser Geschäftsmodell. Wo finden Sie Ihre Zugänge? Auch bei lokalen Journalisten in Osteuropa?

Die einheimischen Lokaljournalisten sind extrem wichtig und ich bemühe mich ständig um diese Kontakte, weil es einfach tolle Nachrichtenquellen sind.

Ich bemühe mich bei den Recherchereisen auch immer, nicht nur in der Hauptstadt zu verweilen, sondern auch in ländliche Gebiete oder Provinzstädte zu kommen. Interessant ist doch: Über was spricht da eine Kleinstadt? Was bewegt die Menschen dort und wie ist die Stimmung? Wie steht es mit der Pressefreiheit und der journalistischen Arbeit vor Ort? Dabei sind Gespräche mit einheimischen Lokaljournalisten einfach sehr hilfreich, um sich ein eigenes Bild zu schaffen.

An der russischen Grenze in Estland, in Narva, habe ich mich zuletzt auch intensiv mit Radiojournalisten über das Embargo gegen Russland unterhalten und dabei einen spannenden Einblick in das Alltagsleben mit den wirtschaftlichen Sorgen und Nöten erhalten. Estnische Rentner mit russischem Pass werden dort zum Beispiel für Botengänge eingesetzt, um Warenlieferungen über die Grenze zu bringen. Das sind Geschichten, die findet man nur vor Ort mithilfe von Kontakten wie eben Lokaljournalisten.

Estland decke ich seit 2000 ab, bin aber nur etwa alle drei bis vier Jahre da, wenn eine Parlamentswahl stattfindet. Viele meiner Kontakte, die ich dort vor vier Jahren hatte, sind aber heute nicht mehr aktuell. Also muss man bei dem alten Netzwerk anfragen, ob jemand zwei Politologen oder einen Drogenfachmann kennt, je nachdem. Man buddelt sich also auch mal wieder neu durch. Es ist aber auch möglich, über die Botschaft vorzugehen oder politische Stiftungen vor Ort zu fragen, die oft sehr gut vernetzt sind. Auch NGOs können eine Anlaufstelle bei Recherchen sein. Und ein Treffen mit einer nicht weiter bekannten  Aktivistin in einem Café in Tallinn kann plötzlich ungeahnte Kontakte eröffnen, weil sich Vertrauen am besten im persönlichen Gespräch aufbauen lässt. Man muss teilweise einfach viel ausprobieren, auch wenn das manchmal Zeit kostet.

Ist Auslandsberichterstattung ein Traumjob?

Ich für mich würde ganz klar sagen: ja. Aber es kann auch ein sehr einsamer Job sein. In Warschau gibt es nicht einmal eine Art Presseclub, wo man sich mit anderen Kollegen austauschen könnte. Es gibt keinen großen Zusammenhalt und man kommuniziert untereinander auch schlecht. Man hat aber unglaublich viel Freiheit, man ist in keiner Redaktionssitzung eingespannt.

Unterschieden werden muss aber zwischen festangestellten Auslandskorrespondenten, die ein gesichertes Monatseinkommen haben und dazu Auslandzulagen und von der Redaktion bezahlte Sonderversicherungen – von denen es immer weniger gibt – sowie den Freien, von denen viele nicht auf den Mindestsatz der festangestellten Korrespondenten kommt. Nun ist das Leben in Warschau im Vergleich zu Hamburg oder Berlin noch verhältnismäßig preiswert, sodass man dort durchaus leben kann. Etwas anders ist die Situation für Auslandkorrespondenten an teuren Plätzen wie Brüssel, London, Tel Aviv oder Washington.

Ich würde die Auslandsberichterstattung wieder wählen, wobei die Wertschätzung des Journalismus in den letzten 20 Jahren deutlich abgenommen hat. Die Freiheit ist der größte positive Aspekt, gerade im Vergleich zu der Verdichtung im Redaktionsalltag viele Festangestellter. Deshalb bin ich auch Gründungsmitglied von Weltreporter.net, einem Netzwerk von etwa 50 Auslandskorrespondenten. Wir unterstützen uns gegenseitig und haben eine gemeinsame, in den Redaktionen inzwischen bekannte Marke. Das hilft bei Honorarverhandlungen – und uns auch gegen die Einsamkeit im Arbeitsalltag als Einzelkämpfer.

Das Gespräch führte Ralf Falbe

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Weltreporter Paul Flückiger, Jahrgang 1966, Schweizer Abstammung, in Großbritannien geboren und in der Schweiz aufgewachsen, studierte Anglistik, Geschichte und Politologie in Zürich und Basel sowie Germanistik in Hamburg; Abschluss in Basel. Zwischen 1985 und 1991 oft in Polen, bis 1995 häufig in Russland. Seit 1994 im Journalismus beheimatet: vom Praktikum in einer Schweizer Lokalredaktion über ein Volontariat bei der NZZ-Auslandsredaktion zur Anstellung als Lokalredakteur, danach freier Korrespondent in Polen – in Warschau.

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