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Investigativer Journalismus, Teil 1: Klischee und Wirklichkeit

Das Genre im Portät

Investigativer Journalismus hat mit dem Klischee vom Journalisten als mutigem Einzelkämpfer für Recht und Gesetz genauso wenig zu tun wie mit dem des sensationslüsternen Spürhunds. Doch was ist er dann, welche Wurzeln hat er und welche Rolle spielt er heutzutage? Diese Fragen werden in einer dreiteiligen Reihe beantwortet. Sie ergänzt die Beitragsserie „Investigative Recherchen“ um theoretische Erkenntnisse über das Genre. Dieser erste Teil befasst sich mit den Klischees, die dem investigativen Journalismus immer noch anhängen. Haben diese Vorurteile einen sachlichen Hintergrund? Hier erfahren Sie, wie er sich selbst sieht und wie er in der Wissenschaft definiert wird.

Wenn in der Belletristik oder im Fernsehen Journalisten auftreten, wird man häufig mit demselben Klischee konfrontiert: der Journalist als einsamer Wolf, der einer „heißen Sache“ über Korruption, kriminelle Machenschaften oder ähnlichen Skandalen auf der Spur ist und häufig genug deswegen selbst in Bedrängnis gerät. In diesen Formaten arbeitet der Journalist unabhängig von seiner Redaktion, trifft sich heimlich mit Informanten und dringt mit einer falschen Identität bis in das Zentrum des Geschehens vor.

Diese Schilderung ist zwar weit vom Alltag eines deutschen Journalisten entfernt,1 weist aber doch einige Aspekte auf, die typisch für investigativen Jour­nalismus sind: verdeckte Recherche, Zusammenarbeit mit Informanten oder das Aufdecken von Missständen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Definitionen

Die wissenschaftliche Literatur zu investigativem, also nachforschendem oder enthül­lendem Journalismus ist sehr stark praxis­orien­tiert,2 was sich auch in dessen Definitionen zeigt. So geben Bloch und Miller an, inves­ti­gativer Journalis­mus unterscheide sich von regulärem Journalismus vor allen durch die Gründlichkeit der Ar­beit: „While all reporting utilizes the same basic tools (questions, inter­views, research), these weapons are more skill­fully for an investigative piece.“3

Auch aufgrund solcher Definitionen wird investigativer Journalismus oft als die Vollendung journalistischen Könnens angesehen, in der die Praktiken der Recherche und des Erzählens perfektioniert werden.4 Nach dieser Logik müsste ein durchschnittlicher Journalist also lediglich „besser“ werden, um sich zu einem investigativen Journalisten zu entwickeln.

Wie sehr diese Auffassung an der Realität vorbei geht, verdeutlicht eine Betrachtung der systematischeren Definitionen von investigativem Journalis­mus. Besonders folgende drei Kriterien werden dabei immer wieder genannt:

  1. die aktive Reporterrolle,
  2. die Widerstände bei der Recherche sowie
  3. die gesellschaftliche Relevanz der Themen.5

Die aktive Reporterrolle

Der Begriff der „aktiven Reporterrolle“ sieht den investigativen Journalisten als treibende Kraft der Recherche und Veröffentlichung. Das heißt jedoch nicht, dass nur die Themen investigativ bearbeitet werden können, die ein Journalist selbst entwickelt. Eine investigative Recherche kann auch durch einen Themenvorschlag einer redaktionsexternen Person oder Organisation ausgelöst werden, zum Beispiel, wenn eine Tierschutzorganisation einen Journalisten auf Misshandlungen bei Tiertransporten hinweist. Entscheidend für die aktive Reporterrolle ist, dass der Journalist eigene Recherchen zu dem Thema anstellt, neue Quellen und Informationen nutzt und selbstständig ent­scheidet, wann etwas veröffentlicht oder auch nicht veröffentlicht wird. Bei der Recherche können dann zwar auch Informanten (oder „Whistleblower“) eine Rolle spielen, diese dürfen jedoch keinen Einfluss auf deren inhaltliche Orientierung haben oder die einzige Informationsquelle darstellen. Der Jour­nalist muss in seiner investigativen Arbeit unabhängig bleiben und darf sich nicht zum öffentlichen Sprachrohr einer Interessengruppe machen (lassen). Um eine Instrumentalisierung durch Informanten zu verhindern, sollte er Informationen immer mit anderen Quellen abgleichen und verifizieren.6

Die Widerstände bei der Recherche

Die Widerstände bei der Recherche7 können vielfältig sein: von der Weigerung, bestimmte Informationen herauszugeben, bis hin zu der Weitergabe von falschen Informationen. Grundsätzlich sucht ein investigativ arbeitender Journalist nach Informationen, die jemand verbergen will. Die Bandbreite reicht dabei von konkreten Handlungen, wie unerlaubten Finanztrans­aktio­nen oder Ausbeutung von Arbeitern, bis hin zu diffuseren Vorwürfen oder auch explizitem Nicht-Handeln, wie bewusstem Missachten von Sicherheitsvor­schriften. Informationen, die dem Ansehen einer Person oder Organisation schaden können, werden in der Regel gut geschützt. Ein investigativ arbei­tender Journalist muss „quasi zum Detek­tiv“8 werden, um an alle benötigten Informationen für seinen Artikel zu kommen. Die aktive Behinderung der Recherche durch Dritte ist laut Redelfs zudem ein wichtiges Kriterium, um investigativen Journalismus von Recherche­jour­nalismus zu unterscheiden. Beide journalistischen Genres zeichnen sich durch einen hohen Recherche­aufwand aus, allerdings fokussiert Letzterer das neue Zusammenstellen oder Zusammenfassen von bereits zugänglichen Informa­tionen, während investi­gativer Journalismus sich mit einem Gegenspieler konfrontiert sieht, der die Veröffentlichung des Materials verhindern will.9

Als Reaktion auf die erschwerte Recherche entwickelten sich verschiedene Techniken, mit denen die Informationsschranken umgangen werden können. Dazu gehören die verdeckte Recherche, die Arbeit mit Infor­man­ten und das Computer-Assisted Reporting (CAR).

Die verdeckte Recherche wurde in Deutschland vor allem durch Günter Wallraff bekannt.10 Dabei nimmt der Journalist – häufig über mehrere Wo­chen oder Monate – eine falsche Identität an, um entweder direkten Zugang zu Informationen zu erhalten (z. B. als Arbeiter in einem Betrieb) oder um das Vertrauen von relevanten Personen zu ge­winnen und so indirekt Zugang zu den Informationen zu bekommen. Da diese Recherchetechnik auf einer Täuschung beruht, läuft ein investigativer Journalist bzw. dessen Medium jedoch Gefahr, im Anschluss von den ausge­spähten Personen oder Organi­sationen verklagt zu werden.11 Methoden der verdeckten Re­cherche sollten deshalb nur mit Bedacht eingesetzt werden.

Informationsschranken können auch durch die Arbeit mit Informanten umgangen werden. Diese sollten jedoch nicht die alleinige Quelle für Infor­mationen darstellen, sondern lediglich Ergänzungen liefern und neue Re­cherchewege vorschlagen.12

Das Computer-Assisted Reporting (CAR) hat sich vor allem in den USA als investi­gative Recherchemethode durchgesetzt. Dabei werden von den Journalisten Datenbanken aufgebaut und betreut, um durch das Auswerten der Daten Missstände zu entdecken und darüber zu berichten13. In Deutsch­land ist diese Technik bisher wenig verbreitet.

Da alle Arbeits- und Recherchemethoden auch von Jour­na­listen anderer Genres verwendet werden,14 sind insbesondere die bearbeiteten Themen ein wesentliches Abgrenzungsmerkmal des investigativen Journalismus.

Die gesellschaftliche Relevanz der Themen

Eine gesellschaftliche Relevanz der Themen ist beim investigative Journalismus gene­rell gegeben, da er sich mit Themen von öffentlichem Interesse befasst. Da­mit ist er scharf von Tabloid-, Boulevard- oder Sensationsjournalismus ab­zu­grenzen, in dem mitunter ähnliche Recherchetechniken verwendet werden, um das Privatleben insbesondere von prominenten Personen auszuspähen.15

Investigativer Journalismus erfüllt zudem eine normative Funktion, indem er, mehr noch als regulärer Journalismus, als vierte Gewalt Politik, Wirt­schaft und gesellschaftliche Akteure einer Machtkontrolle unterzieht. Dabei werden nicht nur rechtliche Verstöße thematisiert, sondern auch die Verletzung ethischer Normen, die möglicherweise (noch) nicht Bestandteil juristischer Regulierungen sind.16 Insbesondere, wenn ein Missstand durch das Handeln einer Einzelperson verursacht wird, sollte investigativer Journalismus darauf achten, auf das negative Handeln der Person hinzuweisen und sie nicht per­sönlich anzugreifen und niederzuschreiben. Angriffe auf eine Person werden schnell boulevardesk; investigativer Journalismus sollte dagegen in erster Linie Entscheidungen oder Verhaltensweisen der Person kritisieren und so Distanz zum Sensationalismus wahren.17

Singuläre und tagesaktuelle Ereignisse rücken nur selten in den Fokus des investigativen Journalismus. Bloch und Miller zitieren zur Veranschaulichung die treffende Beschreibung eines investigativ arbeitenden Journalisten: „In­vestigative re­porting deals with issues and conditions, rather than incidents and events.“18

Diese Langfristigkeit von investigativen Themen greift auch Ludwig auf, der zusätzlich zu den drei oben dargestellten Definitionskriterien noch drei weitere, vor allem in der Praxis relevante Elemente des investigativen Jour­nalismus identifiziert.

Investigativ arbeitende Journalisten müssen nach Ludwig zusätzlich:

  1. einen „lange[n] Atem“ haben und dem Publikum die recher­chier­ten Themen immer wieder „ins Gedächtnis rufen“.19 Wenn ein Jour­nalist einen einmal recherchierten Missstand im Auge behält, er­ge­ben sich zudem leicht weitere Artikel über die neuen Entwicklungen des Falles oder über mögliche Langzeitfolgen des Systemversagens.
  2. präzise darstellen. Dies gebietet nicht nur die Sorgfalt bei der Re­cherche, auch Gerichtsprozesse können durch eine exakte Darstel­lung der Ereignisse verhindert werden.20 Eine unpräzise Bericht­erstattung kann dazu führen, dass es den an den Pranger gestellten Personen oder Organisationen leichter fällt, die Vorwürfe zu wider­legen – und sie gewarnt sind, in Zukunft vorsichtiger vorzugehen. Im schlimmsten Fall leidet die Glaubwürdigkeit der gesamten Recher­che unter der unpräzisen Darstellung eines Ereignisses.21
  3. die Informationen verständlich für die Leser aufbereiten. Hierzu können auch Grafiken oder ein besonderes Layout (z. B. bei Online-Veröffentlichungen) herangezogen werden.22

Zwischenfazit

Zusammenfassend kann investigativer Journalismus definiert werden als ein Journalismusgenre, welches sich mit Themen des öffentlichen Interesses beschäftigt und auf gesellschaftliche Missstände hinweist. Dabei nimmt der investigative Journalist eine aktive Rolle in der Recherche und Veröffent­lichung des Materials ein und muss gegen Widerstände und Behinderungen der Recherche ankämpfen. Die Artikel und Berichte zum recherchierten Material sollten möglichst präzise und verständlich sein und auch die lang­fristigen Folgen oder weiteren Entwicklungen des Falls behandeln.

In Teil 2 der Beitragsserie erfahren Sie alles über die Geschichte des investigativen Journalismus.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

LindemannDie Autorin Ann-Kathrin Lindemann studierte von 2007 bis 2010 Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2010 bis 2011 absolvierte sie den Masterstudiengang Science Journalism an der City University London. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Medienpolitik, der Universität Hohenheim. Seit Oktober 2015 Mitarbeiterin im Humboldt-Reloaded-Projekt.

 

  1. Weischenberg, S.; Malik, M.; Scholl, A. (2006): Die Souffleure der Medien­gesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland, Konstanz, S. 79 ff.
  2. Anderson, D.; Benjaminson, P. (1977): Investigative Reporting. Bloomington; Hunter, M.L. (Hrsg) (2011): Story-Based Inquiry. A Manual for Investigative Journalists, Paris; Ludwig, J. (2014): Investigatives Recherchieren. 3. Aufl., Konstanz.
  3. Bolch, J.; Miller, K. (1978): Investigative and In-Depth Reporting. New York, S. 2.
  4. Vgl. Redelfs, M. (1996): Investigative reporting in den USA: Strukturen eines Journalismus der Machtkontrolle, Opladen, S. 26.
  5. Redelfs (1996), S. 28; vgl. auch Cario, I. (2006): Die Deutschland-Ermittler. Investigativer Journalismus und die Methoden der Macher. Berlin, S. 27; Nagel, L.-M. (2007): Bedingt ermittlungsbereit. Investigativer Journalismus in Deutschland und in den USA, Münster., S. 29 ff.
  6. Nagel (2007), S. 29 ff.; Redelfs (1996), S. 28 f.
  7. Nagel (2007) zählt hierzu auch die Arbeitstechniken investigativer Journalisten, vgl. S. 31.
  8. Redelfs (1996), S. 30.
  9. Redelfs (1996), S. 29 f.; vgl. auch Cario (2006), S. 29 f.
  10. Wallraff , G. (1977): Der Aufmacher. Der Mann, der bei der BILD Hans Esser war, Köln; Wallraff, G. (1978): Neue Reportagen, Untersuchungen und Lehrbeispiele, Reinbek bei Hamburg; Wallraff, G. (1985): Ganz unten, Köln.
  11. Nagel (2007), S. 31.
  12. Redelfs (1996), S. 28 f.
  13. Nagel (2007), S. 31.
  14. Nagel (2007), S. 32 f.
  15. Cario (2006), S. 28.
  16. Redelfs (1996), S. 30.
  17. de Burgh, H. (2005): Introduction, in: de Burgh, H. (Hrsg.): Investigative Journalism. Context and Practise, London, S. 14 f.
  18. Bolch und Miller (1978), S. 5.
  19. Ludwig (2014), S. 20.
  20. Ludwig (2014), S. 19.
  21. Anderson und Benjaminson (1977), S. 14 f.
  22. Ludwig (2014), S. 19 f.

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