It’s the Economy, Stupid! Über die vielen Facetten des Wirtschaftsjournalismus, Teil II
Verschiedene Journalistentypen, neue Darstellungsformen, wachsende Formatvielfalt – dass sich der Wirtschaftsjournalismus im Wandel befindet und teilweise mit alten Mustern bricht, ist keine Neuigkeit. Dass aber auch eine Fachzeitschrift über Yachten oder Chirurgie zu den wirtschaftsjournalistischen Produkten gezählt werden darf, ist schon etwas ungewöhnlicher. Eine theoretische Betrachtung der vielen Facetten des Wirtschaftsjournalismus.
Gesellschaften weltweit befinden sich auf Expansionskurs. Städte wachsen rasant, immer mehr Menschen schaffen und verbrauchen immer mehr Produkte. Sie haben neue Ideen, gründen, entwickeln. Sie produzieren im Sekundentakt Fluten von Informationen und senden diese über eine Vielzahl unterschiedlichster Kanäle rund um den Globus. Die Welt ist fast vollständig miteinander vernetzt, Globalisierung und Technologisierung haben Politik und Wirtschaft der meisten Länder miteinander verbunden, verzweigt und in Beziehungen miteinander gebracht.
In diesem hochkomplexen Gefüge unserer Umwelt, das uns stets zur Selektion zwingt – was benötige ich, welche Informationen suche ich, was will ich und was interessiert mich? – reagieren die Medien mit einer zunehmenden Spezialisierung ihrer Themen, denn die Nachfrage nach auf das eigene Interesse zugeschnittenen Inhalten wächst. Zeitungen und Magazine, aber auch Fernseh- und Radioformate spalten eigene, besonders stark frequentierte Themenbereiche in eigene Sendungen und Magazine ab. Somit wächst das journalistische Angebot; neue und kleinere Zielgruppen werden erreicht.
Spezialisierung – na und?
In welchem Zusammenhang steht dies alles nun mit dem Thema Wirtschaftsjournalismus und seinen vielen Facetten?
In Teil drei dieser Miniserie wurde bereits auf die Notwendigkeit einer multiperspektivischen Betrachtung des wirtschaftsjournalistischen Systems hingewiesen. Für einen vielseitigen Wirtschaftsjournalismus, der auf die Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen eingeht, braucht es nicht nur einen offenen Blick für Themen und Darstellungsformen, sondern auch eine Vielzahl unterschiedlicher Journalistentypen. Natürlich befinden diese sich nicht alle in einer einzigen Redaktion und warten auf ihren Einsatz. Die Alleskönner, die Wirtschaftsspezialisten, die Fachjournalisten und die Hobbywirtschaftsberichterstatter – sie alle arbeiten in Redaktionen, die sich mehr oder weniger offensichtlich mit dem Thema Wirtschaft auseinandersetzen.
Überall ist Wirtschaft
Der Leser oder Zuschauer wird hierdurch auf vielen unterschiedlichen Kanälen mit wirtschaftsjournalistischen Themen konfrontiert. Nur liegt der entscheidende Unterschied darin, dass nicht alle wirtschaftsjournalistischen Inhalte, die rezipiert werden, auch direkt und unmittelbar als eben solche Inhalte wahrgenommen werden.
Ein Beispiel: Liest ein Zeitungsleser im Wirtschaftsressort über die aktuellen Börsenentwicklungen, so ordnet dieser vermutlich das Gelesene für sich unter den klassischen und deutlich erkennbaren Wirtschaftsthemen ein. Liest er hingegen in einer Zeitschrift über Yachten, weil er sich als passionierter Segler für Katamarane und die Segel-WM interessiert, so liest er ebenso über die Modelle und die Unternehmen, die sie herstellen. Er wird vermutlich nicht direkt an Wirtschaftsjournalismus denken, wurde jedoch über Akteure aus dem System Wirtschaft informiert. Mögliche spätere Kaufentscheidungen können hiervon beeinflusst werden, sein Wissen über den wirtschaftlichen Teilbereich Sport – Segeln – Yachtmodelle – angegliederte Unternehmen wurde erweitert.
Dieses Beispiel soll zeigen: Die Teilbereiche des Wirtschaftssystems ziehen sich durch nahezu alle Bereiche menschlichen Interesses. Und diese werden in journalistischen Publikationen bis hin zum speziellsten und merkwürdigsten Nischeninteresse behandelt. Bezüge zur Wirtschaft entstehen automatisch durch die Themenwahl, durch die Weise, wie unsere Gesellschaften funktionieren, und erreichen die Leser und Zuschauer mal kurzfristig und aktuell, mal nachhaltig und mittelbar.
Vom Wirtschaftsressort zum wirtschaftsjournalistischen Mikrokosmos
Wagt man, basierend auf diesen Überlegungen, den Versuch, Wirtschaftsjournalismus zu unterteilen und ihn danach zu kategorisieren, wie deutlich Wirtschaftsbezüge erkennbar sind, ließen sich wirtschaftsjournalistische Publikationen grob in drei Abstufungen einteilen:
Wirtschaftsberichterstattung ersten Grades beschäftigt sich unmittelbar mit Wirtschaftsthemen, die gleichzeitig ein hohes Maß an Überschneidung zur Politik aufweisen. Sie sind häufig stark ereignisgebunden und ergeben sich aus dem alltäglichen Wirtschaftsgeschehen – zum Beispiel Börsenentwicklungen, Anlagetipps, Insolvenzverfahren großer Unternehmen, Fusionen, Währungsentwicklungen oder Wirtschaftspolitik. Der Wirtschaftsbezug ist deutlich und ergibt sich aus den behandelten Themen selbst. Informationen rund um die Ökonomie, ihre Entwicklung und ihre Auswirkungen werden auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen und Magazine, durch Wirtschafts- und Nachrichtensendungen, per Hörfunk oder über Onlineseiten an die Rezipienten weitergegeben.
Wirtschaftsberichterstattung zweiten Grades beschäftigt sich zum einen mit längerfristigen Entwicklungen der Wirtschaft, gibt Hintergrundinformationen und macht Gesamtzusammenhänge deutlich, kann sich aber auch auf hoch spezialisierte Themen einlassen. Zum anderen kann man hier die Vielfalt der wirtschaftlichen Teilbereiche mit Nutzwertthemen einordnen, den „News you can use“ (Frühbrodt 2010, S. 59): Serviceseiten aus regionalen wie überregionalen Zeitungen, die sich mit Dienstleistungen und Produkten aller Branchen auseinandersetzen, sie testen und vergleichen, anbieten, informieren und, wenn nötig, warnen. Hier werden die Endergebnisse wirtschaftlicher Prozesse betrachtet. In dieser Art des Journalismus werden vor allem in fachjournalistischen Beiträgen, in Special-Interest- und Very-Special-Interest-Publikationen thematische Alltagsgegenstände behandelt, die das Konsumverhalten der Rezipienten beeinflussen können. Gleichermaßen setzen sie sich auch mit den Unternehmen hinter den Produkten und Dienstleistungen auseinander. Kaufanstöße werden indirekt vermittelt, Marken platziert, es wird über Innovationen und Trends berichtet.
Wirtschaftsberichterstattung dritten Grades lässt sich in den journalistischen Mikrokosmen der Wissenschaft und der jeweiligen (Berufs-)Branche, in den geschlossenen Welten von Verbänden und Vereinen sehen. Hier geht es nicht um den direkten Bezug zur Wirtschaft. Die Artikel und Inhalte dieser Medien stehen nur in zweiter oder dritter Instanz mit dem System Wirtschaft in Verbindung. Dies wird am Beispiel einer Publikation zum Themenspektrum Medizin deutlich: Im Magazin „Der Chirurg“ wird in der Ausgabe 7/2018 das Thema Oligometastasierung behandelt, neue und moderne Therapiemöglichkeiten werden besprochen. Diese wiederum stehen in Zusammenhang mit technischen Geräten und pharmazeutischen Produkten, die durch Unternehmen hergestellt werden, die im System Wirtschaft agieren. Der Rezipient dieser Art von Fachmedium wird gleichzeitig zu einem potenziellen Konsumenten, der sich mit der Thematik auseinandersetzt und sich für die Therapiemöglichkeiten interessiert. Diese Art des Wirtschaftsjournalismus setzt sich weniger mit der direkten Kaufkraft des Lesers oder Zuschauers auseinander, sie funktioniert auf einer tieferen Ebene der Wirtschaftsthemen: Sie befasst sich vielmehr mit den Ergebnissen und Resultaten, mit Entwicklungen und Innovationen in dem jeweiligen Segment, verliert aber nie völlig den Bezug zu Unternehmen, Geldgebern und anderen wirtschaftlich handelnden Akteuren im jeweiligen Themengebiet.
Die Wirtschaftlichkeit des Wirtschaftsjournalismus, oder „Der Kampf ums Publikum“
Die ökonomischen Bezüge entstehen dabei nicht nur auf inhaltlicher Ebene. Gerade in wirtschaftsjournalistischen Publikationen zweiten und dritten Grades lassen sich insbesondere für die Industrie Möglichkeiten finden, eigene Marken und Werbung zu platzieren. Damit gewinnt das Segment des Fachjournalismus ein hohes Maß an medialer Attraktivität für die Wirtschaft selbst. Durch die Fokussierung auf ein Themengebiet und die damit verbundene Ansprache einer sehr genau bestimmbaren Zielgruppe eröffnet sich für Unternehmen die Chance, genau die Menschen zu erreichen, für die beispielsweise die Dienstleistung oder das Produkt entwickelt wurde.
Somit behandeln wirtschaftsjournalistische Publikationen und generell Fachjournalismus, der sich mit Gegenständen aus dem Wirtschaftssegment beschäftigt, nicht nur Wirtschaftsthemen. Sie tragen durch die Nähe zu den Unternehmen und der Industrie sowie durch die Vermittlung von Kaufanreizen auch zu einer florierenden Wirtschaft bei. Hierdurch entsteht zumindest in der Theorie (in diesem Fall einem wirtschaftlichen Wunschdenken) eine Win-win-Situation für alle Beteiligten: Die Journalisten erhalten durch aktuelle Geschehnisse und unternehmerische Entwicklungen Inhalte, die sie in ihren Kanälen verarbeiten können. Die Unternehmen bekommen die Möglichkeit, gezielt zu werben. Die Leser erhalten auf sie zugeschnittene Informationen und „gönnen“ sich bestenfalls von ihrem erwirtschafteten Vermögen etwas, was sie interessiert, ihnen Freude bereitet. Das Bruttoinlandsprodukt wird gestärkt, die Umsätze der Unternehmen steigen, Jobs werden gesichert, die Wirtschaft floriert. Der Leser oder Zuschauer ist glücklich, widmet sich erneut dem journalistischen Format und die Nachfrage nach dem Thema steigt. Journalisten suchen Inhalte, erhalten diese durch das System Wirtschaft und der Kreis beginnt von neuem.
Wirtschaftsjournalismus: Einer oder viele?
Die zu Beginn aufgeworfene Frage, ob 2018 in der deutschen Medienlandschaft nur eine Form des Wirtschaftsjournalismus existiert oder ob es nicht vielmehr viele verschiedene Wirtschaftsjournalismen unterschiedlicher Grade sind, lässt sich abschließend so beantworten:
Das Thema Wirtschaft hat seine Nische verlassen; es ist aus den Ressorts und den hoch spezialisierten Fachmedien ausgebrochen und damit in „alle Bereiche der Berichterstattung vorgedrungen“ (Mast 1999, S. 283). Der Wirtschaftsjournalismus ist serviceorientierter geworden (vgl. Frühbrodt 2010, S. 60), wirtschaftliche Bezüge haben alle Ebenen der Gesellschaft und damit auch des Journalismus erreicht. Die Facetten dieses Journalismussegments zeigen sich daher nicht nur im wachsenden Themenspektrum des Wirtschaftsjournalismus und der Offensichtlichkeit der Themenwahl, sondern auch in den vielen wirtschaftlichen Verkettungen, die oftmals hinter den behandelten Themen, Produkten, Dienstleistungen, Inhalten der Vielzahl an Sendungen, Fachmagazinen, Zeitschriften und Onlineseiten stecken und erst auf den zweiten oder dritten Blick mit dem Wirtschaftssystem in Verbindung gebracht werden.
Somit lautet die Antwort: Ja – es existieren viele verschiedene Arten des Wirtschaftsjournalismus. Unser journalistisches System hat auf die Ausdifferenzierung unseres ökonomisierten Alltags reagiert, auf die dadurch entstandenen neuen Bedürfnisse der Leser und Zuschauer und auf den steigenden Wettbewerb zwischen den Medienangeboten.
LITERATUR/QUELLEN:
Der Chirurg (2018): Titelseite: Oligometastasierung. Ausgabe 7/2018.
Frühbrodt, Lutz (2010): Wirtschaftsjournalismus. In: Quandt, Siegfried; DFJV (Hrsg.): Fachjournalismus. Expertenwissen professionell vermitteln. Konstanz: UVK Verlag.
Mast, Claudia (1999): Wirtschaftsjournalismus. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Die Autorin Anna Fabienne Makhoul ist Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach ihrem Studium von Publizistik, Jura und Anglistik und nach Stationen unter anderen im ZDF und im SWR arbeitet sie zurzeit neben ihrer Dissertation über deutsche Modejournalisten als freie Journalistin und Autorin im Rhein-Main-Gebiet sowie als Lektorin bei einer großen Lokalzeitung.
Kontakt: anmakhou@uni-mainz.de