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Journalistische Recherche: „Aus dem Wust des Offensichtlichen das Relevante herausfischen“

Interview mit Journalistik-Professor und Buchautor Hektor Haarkötter

Die Kunst der Recherche“ heißt das neue Buch des Kölner Journalistik-Professors Hektor Haarkötter, das im April dieses Jahres im UVK-Verlag erschienen ist. Darin geht es um die Möglichkeiten, aber auch die Tücken der journalistischen Recherche im digitalen Zeitalter. Im Interview mit dem Fachjournalist erläutert Haarkötter, wie man der Informationsflut im Internet am besten begegnet, welche Alternativen es zu Google gibt und warum das persönliche Gespräch immer noch die wichtigste Recherchemethode ist.

Herr Prof. Haarkötter, in wenigen Sätzen: Worin besteht die „Kunst der Recherche“?

Um das zu erklären, habe ich 294 Seiten gebraucht.

Wollen Sie es dennoch versuchen?

Drei Komponenten müssen für die „Kunst der Recherche“ zusammenkommen. Erstens: ein methodisches Vorgehen. Das heißt: Nicht mehr, wie vielleicht noch vor einigen Jahrzehnten, möglichst viele Informationen über ein Thema zu sammeln, sondern, ganz im Gegenteil, aus dem Meer der Informationen nur diejenigen herauszufiltern, die ich für meine journalistische Geschichte brauche. Das wäre auch schon Punkt zwei: eine Story-basierte Recherchemethode. Ein Journalist sollte verwertbare Daten sammeln, um eine gute, auf Fakten basierende Story zu erzählen. Drittens müssen Journalisten heute sehr fit in Sachen Onlinerecherchen sein. Der Computer ist für Journalisten das Arbeitswerkzeug Nummer eins und stellt exklusive Informationen zur Verfügung – jedoch nur, wenn man dieses Werkzeug auch beherrscht.

Das klingt so, als ob es vielen Journalisten an technischem Know-how mangelt.

Ich kann mich als Journalist nicht darüber aufregen, dass die NSA oder der MAD Journalisten ausspionieren, und gleichzeitig keine Ahnung davon haben, wie ich eine E-Mail verschlüssele oder einen anonymen Briefkasten einrichte. Ein Journalist muss sich heutzutage mit Hightech und Computern auskennen und mit Programmen, die einem beim Recherchieren und Storytelling helfen. Jeder Handwerker kennt seine Werkzeuge. Auch der Journalist sollte seine Werkzeuge kennen, sonst beherrschen sie ihn. Und das ist – siehe MAD- und NSA-Skandale – fatal und unterläuft die Aufgabe von Journalismus.

Stichwort Recherche in Zeiten des „Information Overload“: Einerseits ist es heutzutage durch das Internet denkbar leicht, an Informationen zu gelangen. Andererseits besteht das Problem, wie Sie es in Ihrem Buch formulieren, „aus dem Wust des Offensichtlichen das Relevante herauszufischen“. Ist das Internet also Segen und Fluch zugleich für die journalistische Recherche?

Der Fluch besteht darin, dass heute jeder einen Computer, ein Smartphone oder ein Tablet hat und deswegen auch jeder glaubt, recherchieren zu können. Und dabei unter Umständen dem Irrtum erliegt, man bräuchte gar keine professionellen Rechercheure und womöglich gar keinen Journalismus mehr. Was Journalisten unter Beweis stellen müssen, und das ist gleichzeitig der Segen, ist, dass sie mit dem Werkzeug Computer besser, sprich professionell, umgehen können. In dieser Professionalität liegt der Unterschied zwischen Journalist und Publikum.

Wie lässt sich die Flut an Informationen, die im Netz auffindbar ist, sinnvoll strukturieren?

Man muss sich im Vorfeld überlegen: Was für eine Geschichte will ich erzählen? Was brauche ich an Informationen? Mit welchen Menschen möchte ich reden? Wer sind meine Protagonisten, wer meine Antagonisten? Darüber hinaus muss man wissen, wie man an die Informationen herankommt. Man muss mehr können, als nur zwei Suchbegriffe bei Google einzugeben.

Was heißt das konkret?

Erstens sollte ich wissen, wie ich das Optimum aus Google herausholen kann. Also darüber Bescheid wissen, was Operatoren sind, was die semantische Suche bei Google bedeutet – wie ich all die Tools, die Google anbietet, kombinieren kann, um aus einer Trefferliste mit Millionen Suchergebnissen die zehn oder 20 relevanten Inhalte herauszufiltern. Denn das ist ja das größte Problem bei Google: Ich bekomme eine so hohe Anzahl an Treffern, dass es unmöglich ist, diese überhaupt zu rezipieren.

Zweitens sollte ich die spezialisierten Dienste kennen, die mir Google anbietet. Es gibt zum Beispiel eine wissenschaftliche Suche, eine Büchersuche – und vieles mehr.

Drittens sollte ich wissen, dass es neben Google noch weitere Suchmaschinen gibt, die mir ein ganz anderes Portfolio an Tools und Treffern bieten, sowohl was die allgemeine Websuche als auch was die spezialisierte Suche angeht, etwa im Datenbereich oder in der Personensuche.

Können Sie alternative Suchmaschinen empfehlen, die insbesondere für Journalisten relevant sind?

Was man kennen sollte, sind Metasuchmaschinen wie beispielsweise „MetaGer„, die an der Universität Hannover entwickelt wurde. Mit ihr kann man die Indizes von ganz vielen Suchmaschinen durchforsten.

Dann sollte ich natürlich je nach Fachgebiet die entsprechenden Spezialsuchmaschinen kennen. Es gibt spezielle Suchmaschinen, die nur im Social-Media-Bereich suchen, oder solche, die mir gezielt dabei helfen, rechte- und lizenzfreies Material im Netz zu finden – wie „CC Search“, eine Suchmaschine, die ausschließlich nach Creative-Commons-Mediendateien suchen kann.

Viele Journalisten kommunizieren heutzutage überwiegend schriftlich in Form von E-Mails und kaum mehr übers Telefon. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Eine E-Mail ist häufig ein wenig effektives Kommunikationsmittel. Durch meine Rechercheseminare weiß ich: Für viele angehende Journalisten ist Recherche heute gleichbedeutend mit E-Mails schreiben. Weil sie zum Teil nicht die Traute haben oder es einfach nicht gewohnt sind, zu jemandem hinzugehen oder zum Telefonhörer zu greifen.

Für die Recherche ist es aber wesentlich, Personen zu finden und diese kennenzulernen – das funktioniert allein über E-Mails nicht. Wenn ich jemanden anrufe, habe ich in der Regel den Vorteil, eine Antwort in Echtzeit zu bekommen. Das persönliche Gespräch ist deshalb in der Recherche durch nichts zu ersetzen und nach wie vor die wichtigste Recherchemethode, die es überhaupt gibt.

Folglich sollte die journalistische Recherche auch nicht nur vom Schreibtisch aus erfolgen, oder?

Am Schreibtisch komme ich in aller Regel nur an Geschichten, die schon veröffentlicht wurden. Neue, exklusive Geschichten bringt man nur in Erfahrung, wenn man den Schreibtisch verlässt. Ich habe natürlich auch am Computer Möglichkeiten, mir die Welt anzusehen. Über Webcams, Livestreaming, Google Street View etc. Aber das sind nur fokussierte Einblicke von anderen Personen. Als Journalist sollte ich selbst einen Blick auf die Tatsachen werfen, um spannende Geschichten zu finden. Deshalb gilt: An einem bestimmten Punkt muss man raus und sich die Welt anschauen – insbesondere für eine Reportage oder eine Dokumentation.

Stichwort investigative Recherche: Inwieweit sehen Sie durch das geplante Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung die investigative Recherche, die sich oft auf sogenannte Whistleblower stützt, gefährdet?

Die Recherche fällt prinzipiell unter Artikel 5 Grundgesetz – Informationsfreiheit bezieht sich ja auch auf Informationsgewinnung. Daher ist die Recherche ein hohes Gut mit Verfassungsrang. Leider unterstützt die Politik die journalistische Recherche nicht mit der Güte, die sie aufgrund ihres Verfassungsrangs verdient hätte. Das geplante Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass die Politik hierzulande nicht sehr förderlich für die journalistische Qualität und Recherche ist.

Darüber hinaus bräuchten wir natürlich einen gesetzlichen Whistleblower-Schutz. Dieser ist aber weit und breit nicht in Sicht. Viele große Geschichten im Journalismus sind mithilfe von Whistleblowern entstanden, ich erwähne nur Chelsea Manning oder Edward Snowden. Solche Leute sollten, wenn sie etwas gesellschaftlich Relevantes zu erzählen haben, auch geschützt werden.

Wagen wir einen Ausblick: Wie wird sich die journalistische Recherche in den kommenden Jahren verändern? Welche Trends sehen Sie?

Ich bin immer äußerst vorsichtig, was Voraussagen im Medienbereich angeht. Denn wir leben in einem Zeitalter, in dem mediale Veränderungen im Drei-Monats-Takt stattfinden. Vor einem Jahr kannte noch niemand Livestreaming-Dienste wie Periscope, heute sind sie schon fast Standard auf den Smartphones der 15- bis 25-Jährigen. Im Bereich des Echtzeitjournalismus tut sich gerade wahnsinnig viel. Aber gerade diese Entwicklung kann der Qualität der journalistischen Recherche entgegenstehen. Weil es dazu führt, dass man gar keine Zeit mehr hat, zu recherchieren. Und Recherche benötigt schließlich Zeit.

Was wir auf jeden Fall diskutieren müssen, ist die Frage, wie wir Recherche künftig finanzieren. Sehr viele Verlage, und insbesondere auch die öffentlich-rechtlichen Sender, gehen ja heute davon aus, dass Recherche das Privatvergnügen von Journalisten ist. Als freier Journalist werde ich nicht für die Recherche, sondern für den fertigen Beitrag bezahlt. Was aber ist, wenn ich monatelang recherchiert habe und dann die Story platzt – wer zahlt mir dann die Miete? Das sind Dinge, über die wir dringend reden müssen. Ansonsten wird die Qualität von Recherche und Journalismus insgesamt ganz erheblich abnehmen.

Ist Non-Profit-Journalismus eine Lösung, um die journalistische Recherche wieder zu stärken?

Wir werden das Auskommen von Tausenden Journalisten hierzulande nicht über Non-Profit-Journalismus ökonomisch sichern können. Aber das ist natürlich ein Ansatz, wie man heute Journalismus und Recherche finanzieren kann. Ich selbst bin geschäftsführender Vorstand der „Initiative Nachrichtenaufklärung“, ein Recherchenetzwerk, in dem Studenten Geschichten recherchieren, die anderswo unter den Tisch fallen. Solche Initiativen bräuchten wir noch viel mehr. Das Recherchebüro „Correctiv“ oder das „Netzwerk Recherche“ gehen in eine ähnliche Richtung.

Herr Prof. Haarkötter, vielen Dank für das Gespräch.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Hektor HaarkötterProf. Dr. Hektor Haarkötter ist Studiengangleiter Journalismus und Unternehmenskommunikation an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln sowie geschäftsführender Vorsitzender der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA). Zuvor hat er viele Jahre als Journalist, Filmemacher und Fernsehregisseur gearbeitet. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und anderer Veröffentlichungen.

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