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Justizberichterstattung: „Eine große Kiste Konjunktive“

Interview mit dem Gerichtsreporter Michael Mielke

Lange konnten Gerichtsreporter ihrem täglichen Geschäft ohne großes Aufsehen nachgehen – es sind eher die Prozesse, über die sie berichten, die die gesamte Aufmerksamkeit für sich beanspruchen. Bis zum August dieses Jahres: Im Interview mit dem „Deutschlandfunk“ griff Bundesrichter Thomas Fischer die lokale Gerichtsberichterstattung scharf an. Dabei sind Gerichtsreporter ungemein wichtig für unser Rechtssystem, denn sie erklären den Lesern, Hörern und Zuschauern, wie und warum ein Urteil gefällt wurde. Ein Gespräch mit Michael Mielke, langjähriger Gerichtsreporter der „Berliner Morgenpost“, über ethische Grundsätze, den Journalisten als Übersetzer und jede Menge Konjunktive.

Herr Mielke, wie sind Sie Gerichtsreporter geworden?

Ich war Redakteur bei der „Welt“. 1993 wurde dort eine neue Berlin-Redaktion gegründet und ich habe ich mich mit dem Schwerpunktgebiet Gerichtsreportage beworben. Mich hat dieses Feld schon immer interessiert – nicht so sehr die juristischen Finessen, zumindest nicht am Anfang, sondern mehr die Menschen und deren Geschichten. Und die bekommt man in der Gerichtsreportage. Das fand ich immer – und finde es auch heute noch – spannend.

Wie sieht Ihr Berufsalltag aus?

Ich suche mir zunächst die Prozesse heraus – da gibt es ja verschiedene Quellen. Dann sehe ich mir den Prozess im Gericht an. Wenn er interessant ist, biete ich ihn der Redaktion anschließend als Thema an.

Wo recherchieren Sie genau? Wie werden Sie auf Prozesse aufmerksam? 

Das fängt ganz profan an: Es gibt eine Gerichtsrolle vom Landgericht Berlin, in der die interessantesten Fälle des Landgerichts vorgestellt werden. Man kann im Amtsgericht nachsehen, welche Prozesse für welchen Tag angesetzt sind. Dazu gibt es Informanten, meist Anwälte, die einem Tipps geben; von vielen Prozessen erfahre ich über Empfehlungen. Aber es gibt auch sogenannte “Muss-Prozesse”, die von allen Berliner Zeitungen begleitet werden, wie vor einiger Zeit der Prozess gegen den U-Bahn-Schubser vom Ernst-Reuter-Platz.

Wenn es sich nicht gerade um einen “Muss-Prozess” handelt: Wonach entscheiden Sie, ob ein Prozess interessant sein könnte?

Intuition. Mich interessieren die Fälle, wo man eine Geschichte erzählen kann. Beim Schreiben muss man sich immer für einen Schwerpunkt entscheiden: Was ist mein Thema? Ist es das milde Urteil? Dann erkläre ich die juristischen Finessen, erkläre, warum das Urteil so gefällt wurde. Ist meine Grundidee vom Text das Motiv des Täters – oder die Wirkung auf das Opfer, das an dem Prozess vielleicht sogar teilnimmt? Ich versuche immer, eine Art Metaebene zu finden, über die ich dann den Prozess erzählen und erklären kann.

Welches Fachwissen muss man mitbringen, wenn man Gerichtsreporter werden möchte?

Ich sehe Gerichtsreporter als eine Art Übersetzer. Wir bekommen Informationen, schreiben diese auf und müssen sie dabei dem Leser, meistens vereinfacht, übersetzen. Dafür müssen wir die Informationen erst mal selbst begriffen haben. Damit dies gelingt, sollte alles, was man nicht weiß und nicht verstanden hat, erfragt werden. Was für einen Anfänger wenig Sinn macht, ist, vor dem anstehenden Prozess schnell noch zu versuchen, das Arbeitsgesetzbuch oder die Strafprozessordnung zu lesen. Letztlich bleibt es bei der bewährten journalistischen Methode: fragen, fragen, fragen und dabei nicht nur die Meinung einer Prozesspartei ungeprüft übernehmen.

Man sollte sich schon sachkundig machen. Dazu gehören auch ganz einfache Begrifflichkeiten, bei denen man versuchen sollte, möglichst genau zu sein. Die Begriffe kann man meist über eine kurze Onlinerecherche in Erfahrung bringen: In welcher Instanz wird verhandelt? Welche Rechtsmittel sind möglich? Wer sind die Prozessbeteiligten? Seriöse Auskünfte zum allgemeinen Prozedere gibt es immer auch von den Gerichtssprechern.

Sie sprechen davon, Informationen zu erfragen. An wen stelle ich meine Fragen? Darf ich mit Anwälten und Co. sprechen?

Es gibt eigentlich, außer dem Richter und dem Gutachter während eines laufenden Verfahrens, keinen, den man nicht fragen kann. Man kann den Staatsanwalt um eine Stellungnahme bitten oder den Gerichtspressesprecher. Man kann mit den Opfern sprechen und sogar versuchen, mit dem Täter, wenn er auf freiem Fuß ist, Kontakt aufzunehmen.
Ich stelle meine Fragen an den Anwalt, an den Verteidiger, an den Vertreter der Nebenklage. Letztere erzählen meistens ein bisschen mehr als der Verteidiger, weil die ja von dem Opfer erzählen möchten – und die Opfer spielen ja meist nicht die große Rolle in Strafprozessen.

Was würden Sie jungen Kollegen raten, die sich für das Feld der Gerichtsberichterstattung interessieren?

Unabhängig von der Gerichtsberichterstattung rate ich jedem jungen Kollegen, sich ein Fachgebiet zu suchen. Die Redaktion ist oft dankbar, wenn jemand im Fach sicher und auskunftsfähig ist. Und man wird auch als Journalist besser. Angehenden Gerichtsreportern rate ich, sich sachkundig zu machen, sich Wissen anzueignen, besonders indem man mit Leuten spricht und, wie oben schon beschrieben, Fragen stellt. Und viel zu lesen, sich anzusehen, wie andere Gerichtsreporter berichten, wie sie mit Fällen umgehen.

Was ist die Best Practice für Gerichtsreporter?

Wie jeder Journalist sollte man sich schnell vernetzen und Kontakte aufbauen. Bei der Gerichtsreportage ist es nicht so, dass man sich in einen Gerichtssaal setzt und die Geschichte auf einem Tablett serviert bekommt. Jedenfalls nicht bei großen, relevanten Prozessen. Da sollte sich der Journalist vorher einarbeiten, Vorberichte lesen, recherchieren, wie in ähnlichen Prozessen geurteilt wurde: Oft gibt es auch schon Artikel von Polizeireportern, die viele Details enthalten, und die sich auf für die Gerichtsreportage verwerten lassen. Zu empfehlen ist immer auch, schon vor diesen Prozessen Kontakt mit Prozessbeteiligten aufzunehmen, beispielsweise mit Nebenklagevertretern und Verteidigern.

Aus unserem bisherigen Gespräch schließe ich darauf, dass für Sie ein Jurastudium nicht zwangsläufig notwendig ist, um als Gerichtsreporter arbeiten zu können.

Ich bin ganz sicher, dass es nicht nötig ist. Die besten Gerichtsreporter, die ich aus unserem Land kenne – beispielsweise Hans Holzhaider von der „Süddeutschen Zeitung“ oder Gisela Friedrichsen, bis vor Kurzem noch beim „Spiegel“ –, sind alle keine Juristen. Das Jurastudium ist so breit: Wenn man einen Fachanwalt für Familienrecht nach Arbeitsrecht fragt, kennt der sich dort auch nicht aus. Und als Gerichtsreporter müssen wir ja möglichst das ganze Spektrum bedienen. Die Grundbegriffe kann man sich aneignen.

Ist es vielleicht sogar besser, wenn man als Gerichtsreporter kein Jurist ist, weil man dann als Vermittler zwischen dem juristischen Bereich, also den Gerichten, und dem Leser fungieren kann?

Ich glaube, von Fall zu Fall ja. Denn so kann man die Sicht des Lesers oder des Hörers einnehmen. Und dann stellt man eher Fragen, die man als gelernter Jurist vielleicht nicht mehr stellen würde, weil man davon ausgeht, dass der Leser die Antworten schon kennt.

Bundesrichter Thomas Fischer hat im August dieses Jahres im „Deutschlandfunk“ die lokale Gerichtsberichtserstattung scharf angegriffen und unter anderem die fehlende juristische Ausbildung von Gerichtsreportern kritisiert. Was haben Sie dieser Kritik entgegenzusetzen?

Ich lese Herrn Fischer ja gerne. Aber ich wage zu bezweifeln, dass er auch nur ein Prozent der lokalen Gerichtsberichterstattung kennt – ich behaupte: nein. Er hat wohl zwei schlechte Artikel gelesen und sich daraus seine provokante Meinung gebildet. Aber: Wenn Journalisten keine Ahnung haben und ohne Sachkunde an ein Thema herangehen, sich nicht vorbereiten, dann sind die Artikel immer schlecht – ob es ein Gerichtsreporter ist oder ein Journalist, der über Theater schreibt. Es muss auch nicht jeder Theaterregie studiert haben, um Theaterrezensionen verfassen zu können. Ich glaube, er ist da zu provokant.

Natürlich kenne ich die Fälle, die er nennt. Die ärgern mich auch. Meine Redaktion leistet sich mit mir ja noch einen Fachredakteur, das machen nur noch wenige Medien. Der „Tagesspiegel“ hat zum Beispiel nur eine freie Mitarbeiterin, die für den Bereich Gericht zuständig ist, aber keinen festangestellten Redakteur. Das finde ich bedenklich – denn in diesem Land wird ja immer mehr durch Gerichte geregelt.

Eine weitere Kritik von Bundesrichter Fischer war die Boulevardisierung der Gerichtsreportage: Als Gerichtsreporter befasst man sich ja mit sehr emotionalen Themen. Wie hält man die Distanz, um nüchtern über diese Prozesse und die Beteiligten berichten zu können?

Die Frage kriege ich öfter gestellt. Man muss möglichst eine innere Distanz haben, wie ein Pathologe oder ein Arzt. Aber man hat schon Ressentiments, eindeutig, sonst wäre man ja kein Mensch.

Bei mir stelle ich fest, dass ich dann noch nüchterner schreibe. Und ich kann jedem Kollegen sagen, dass es immer in die Hose geht, wenn man versucht, Angeklagte zu denunzieren. Ich werde es nie vergessen: Ich habe einmal über einen Mörder berichtet, der in Cottbus vor Gericht stand und später dort auch wegen Kindesmordes verurteilt wurde. Und ich habe ihn in meinem Artikel ein bisschen abfällig beschrieben – dass er fettige Haare hätte und so. Da hat mir der Anwalt dann geschrieben, dass ich bitte bedenken soll, dass der Angeklagte in dem Gefängnis nur einmal in der Woche duschen kann. Und da ist mir klar geworden, dass eine Geschichte nicht über das Aussehen funktionieren kann.

Wo liegen die Herausforderungen in der Gerichtsberichterstattung?

Genau zu sein und die Geschichte zu finden ist für mich die Herausforderung. Dass man den Fall über irgendeine Perspektive erzählt.

Und es gibt diesen ungeliebten Konjunktiv, von dem jeder Gerichtsreporter eine große Kiste haben sollte. Man muss wirklich bei allen Sachen, bei denen es Zweifel gibt, wo etwas nicht sicher ist, den Konjunktiv benutzen. Wenn der Angeklagte aber ein umfassendes Geständnis ablegt, dann schreibe ich nicht mehr „er soll das getan haben“, auch wenn es noch nicht vom Gericht festgelegt wurde. Wenn er es vor Gericht selbst sagt, dann schreibe ich auch, dass er die Tat begangen hat. Wenn es die Geschichte braucht, dann habe ich auch keine Scheu, bestimmte Informationen, wie die Herkunft oder den Beruf, in den Artikel einzubauen.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

michael-mielke-portraitMichael Mielke, Jahrgang 1957, ist Gerichtsreporter. Er studierte am Literaturinstitut in Leipzig und arbeitete als Redakteur bei der „Neuen Berliner Illustrierten“, dem „Extra-Magazin“, der „Sonntagspost“, der „Welt“ und seit 2001 als Reporter bei der „Berliner Morgenpost“.

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