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Vom Stadtschreier zum Reporter-Slam: Journalismus auf der Bühne

Dass journalistische Inhalte live, vor einem Publikum, präsentiert werden, hat eine lange Tradition. Gerade erlebt das Genre ein Revival in Form von Reporter-Slams, Live-Journalismus und journalistischen Theater-Events. Kann das dabei helfen, einige Probleme der aktuellen Medienkrise zu lösen?

„Oyez!“ – „Hört zu“, riefen die Stadtschreier, Town Crier genannt, im mittelalterlichen England, um ihr Publikum zu versammeln. Dem verkündeten sie dann auf öffentlichen Plätzen alle Arten von Neuigkeiten, amtliche Proklamationen, aber auch die Bußen für verurteilte Straftäter. Die verlesenen Nachrichten nagelten sie anschließend an die Türpfosten des örtlichen Pubs. Aus diesem „posting a notice“ ist das Substantiv „Post“ entstanden, das noch heute viele englischsprachige Tageszeitungen in ihrem Markennamen führen.

Reporter-Slam und Live-Journalismus

Einige 100 Jahre später ist aus dem „Oyez!“ der Town Crier ein kurzer orchestraler Tusch geworden. Mit dem rief das Stegreif-Orchester das Publikum zur Ruhe und die Journalistinnen und Journalisten auf die Bühne, als im November im Berliner Traditionskino Babylon zum ersten Mal „Jive Klima. Die konstruktive Live-Journalismus-Show“ an den Start ging.

Neun Autorinnen und Autoren teilweise namhafter Medien (u. a. Spiegel, ZEIT, brand eins, Focus, Süddeutsche Zeitung) präsentierten, begleitet von musikalischen Einlagen und mit Multimedia-Unterstützung, vor einem gut gefüllten Saal acht Klimareportagen. Darunter (Crowd-)Recherchen zu ungenutzten Privatparkplätzen in Basel („Ist hier noch frei?“) und zu überhitzten Genossenschaftswohnungen in den Niederlanden („Thermo-Staat“) sowie ein Bericht über Schwammstadt-Versuche im Ruhrgebiet.

Vater des Jive-Formats ist der Journalist, Medientrainer, Moderator und Veranstalter Jochen Markett, der gelegentlich auch selbst im Kabarett auftritt. Nach dem Besuch eines Science-Slam – einer Liveshow, bei der Wissenschaftler:innen in unterhaltsamer Form ihre Forschungsergebnisse präsentieren – hatte sich Markett gefragt: „Warum bietet man solch ein Format nur Wissenschaftlern an und nicht auch Journalisten?“ Und so veranstaltete er 2016 vor 150 begeisterten Besucherinnen und Besuchern seinen ersten Reporter-Slam in einem Berliner Co-Working Space. „Beim Reporter-Slam geht es um einen humoristischen Vortrag. Dafür suchen wir in Redaktionen nach wirklich skurrilen Themen und besonders humorbegabten Kollegen“, beschreibt Markett das Format.

Organisiert bundesweit Live-Journalismus-Formate wie den Reporter-Slam und dem JIVE Klima: Der Journalist, Medientrainer, Moderator und Veranstalter Jochen Markett. Foto: Andi Weiland.

Organisiert bundesweit Live-Journalismus-Formate wie den Reporter-Slam oder die Journalismus-Show „JIVE Klima“: Der Journalist, Medientrainer, Moderator und Veranstalter Jochen Markett. Foto: Andi Weiland.

Vor etwa zwei Jahren hat er zudem das Format „Gute Besserung – Die Show für konstruktiven Journalismus“ aufgelegt und seitdem in vier deutschen Städten gezeigt, zuletzt bei den Ruhrfestspielen in Marl. Ronja von Wurmb-Seibel, Autorin eines Bestsellers über konstruktives Denken, setzt mit ihren Vorträgen den Rahmen der Bühnenveranstaltung, in den dann konstruktive Recherchen eingeflochten werden.

Seine Reporter-Slams organisiert Markett bundesweit und auch international in fünf weiteren Ländern, zuletzt sogar in Kanada. Lizenzen für das Format wurden nach Ungarn und in die Republik Moldau verkauft.

Fördermittel für Live-Journalismus

Zur Durchführung der verschiedenen Eventformate hat Markett die Headliner gUG gegründet. Dabei hilft ihm die Unternehmensform gUG (haftungsbeschränkte gemeinnützige Unternehmergesellschaft) dabei, Kultur- und Medienfördermittel zu beantragen. Neben dem Wunsch, wirtschaftlich erfolgreiche Live-Formate zu etablieren, möchte er der Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus entgegentreten. So verweist auf eine jüngere Studie aus Finnland, die zeigt, dass sich das Publikum eine stärkere persönliche Verbindung zwischen Reporter und Thema wünscht.

„Beim Live-Journalismus legt man eher seine Persönlichkeit offen und äußert sich eher über seine Leidenschaften und persönlichen Gründe für die Recherche als bei traditionellen Veröffentlichungsformen. Bei der normalen medialen politischen Berichterstattung ist diese Subjektivität zwar nicht so gerne gesehen. Aber auf der Bühne möchte das Publikum so etwas erleben“, sagt Markett.

Correctiv-Recherche auf der Bühne

Dass politische Investigationen auf eine Bühne passen, denken auch Katarina Huth und Elena Kolb vom gemeinnützigen Recherchenetzwerk Correctiv. Im September feierte ihr zusammen mit dem Theatermacher Calle Fuhr entwickeltes Recherche-Theaterstück „Das Kraftwerk“ Premiere am Cottbuser Staatstheater. Für die Bühnenaufführung dramatisierte das Team eine brisante Correctiv-Recherche über die Gefährdung von Trinkwasser durch den Energiekonzern Leag, dessen Zahlungen an ein kommunales Wasserwerk und das Schweigen der Verwaltung zu diesen Vorgängen.

Fuhr hatte bereits in Wien mit dem österreichischen Magazin Dossier ein Recherchestück inszeniert und fand nun mit Correctiv erneut einen kongenialen Medienpartner. Correctiv wiederum experimentiert schon länger mit verschiedenen Veröffentlichungsformen, darunter Graphic Novels und Theater (Cum Ex Papers). „Weil Theater kann, was wir nicht können“, lautet ein Correctiv-Claim.

Die Correctiv-Journalistin Elena Kolb entwickelte zusammen mit ihrer Kollegin Katarina Huth und dem Theatermacher Calle Fuhr das Recherche-Theaterstück „Das Kraftwerk“, das im Cottbusser Stadtheater Premiere feierte. Foto: Ivo Mayr.

„Dass wir alle in unseren jeweiligen Expert:innen-Gebieten geblieben sind, aber sehr eng zusammengearbeitet haben, hat sich voll ausgezahlt. Wir haben unsere Recherche in fremde Hände gegeben, haben aber auch immer wieder das Skript gegengelesen, um sicherzustellen, dass unsere Fakten adäquat aufbereitet wurden“, beschreibt Elena Kolb den Workflow beim Rechercheprojekt  „Das Kraftwerk“. Zudem kommen die Schauspielerinnen und Schauspieler sowie die Zuschauerinnen und Zuschauer aus der betroffenen Region und konnten dem Bühnengeschehen ihre eigenen Wahrnehmungen hinzufügen. Ein besonderer Effekt der Aufführung war, dass der Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), René Wilke, der in der Recherche stark kritisiert wurde, sich mit Journalisten und Journalistinnen von Correctiv eine Woche nach der Premiere zu einer Podiumsdiskussion auf die Theaterbühne setzte.

Katarina Huth glaubt, dass hybride Formate aus Theater und Journalismus wie „Das Kraftwerk“ die Chance bieten, neue Zuschauersegmente für journalistische Recherchen zu erschließen. Geholfen hat vielleicht auch, dass Correctiv als externer, unverdächtiger und professioneller Rechercheur wahrgenommen wurde. „Toll für uns war, dass uns, direkt nach der Premiere, Menschen sagten: ,Vielen Dank. Dieses Thema kann nur von außen bearbeitet werden, weil hier alle zu tief verstrickt sind.‘ Oder auch: ,Ich habe seit dreißig Jahren kein Theaterstück mit einer solchen politischen Relevanz mehr gesehen‘ “, sagt Huth. Tatsächlich sind die Vorstellungen von „Das Kraftwerk“ auf Monate ausverkauft.

Katharina Huth. Foto: Ivo-Mayr

Neue Zuschauersegmente erschließen und die Nachrichtenmüdigkeit – wie in Bezug auf Klimanachrichten – durchbrechen: Diese Chancen sieht Correctiv-Journalistin Katarina Huth in hybriden Formaten aus Theater und Journalismus. Foto: Ivo-Mayr

Für Correctiv war das Projekt ein Erfolg. Man erreichte ein lokales Publikum und war zudem Thema in den brandenburgischen Lokalmedien und im rbb-Fernsehen. „Die Präsentationsform hat unserer Recherche auf jeden Fall noch einmal einen ganz anderen Impact verschafft“, ist sich Elena Kolb sicher.

„Wir fragen uns ja permanent, wie wir unsere Stories, speziell die Klimageschichten, zum Publikum bekommen. Man weiß aus Studien, dass manche Leser:innen Klimanachrichten und -recherchen inzwischen aktiv vermeiden, weil sie sie nur noch frustrieren. Solche Projekte durchbrechen diese Nachrichtenmüdigkeit“, ergänzt Katarina Huth.

Tradition und Wirkung des darstellenden Journalismus

In Deutschland ist Live-Journalismus noch recht neu, in anderen Ländern aber bereits ein fester Bestandteil der Medienlandschaft, wie Jochen Markett berichtet. Seit 2009 brachte das Pop-up-Magazine in den USA ganz verschiedene kreative Berufe zusammen auf die Bühne und füllte mit seinen Shows Säle mit mehr als 2.000 Menschen. „Coronabedingt und ohne staatliche Förderung mussten sie im Frühjahr leider aufgeben – eine Überraschung für die Community weltweit. Aber in anderen Ländern geht es erfolgreich weiter“, sagt Markett.

Die Finnen haben sich von den Amerikanern zu ihrem Live-Format Black Box inspirieren lassen. Das wird zusammen mit der größten finnischen Tageszeitung, Helsingin Sanomat, produziert, die dafür auch ihre Redakteurinnen und Redakteure freistellt. „Eine bessere Leser-Blatt-Bindung bekommen die sonst nirgendwo. Helsingin Sanomat bringt in der Black Box sogar Exklusivgeschichten auf die Bühne, noch bevor die im Blatt oder auf der Website publiziert werden“, berichtet Live-Journalismus-Experte Markett. Auch er hat bereits exklusiv mit Verlagen kooperiert, so mit der Zeit bei „Die lange Nacht der ZEIT.

Ob aktuelle Formen des performativen Journalismus dazu beitragen können, zentrale Probleme der Branche zu lösen, ist aus wissenschaftlicher Sicht noch offen, vermittelt Folker Hanusch. Der Professor für Journalismus an der Universität Wien erforscht unter anderem neue Journalismus-Formate, Publikumserwartungen an Nachrichten, Emotionen im Journalismus sowie indigenen Journalismus.

Dass performativer Journalismus eine weit zurückreichende Tradition hat, weiß der Wiener Journalismusforscher Folker Hanusch aus seiner Arbeit. „Ich habe unter anderem über vorkolonialistische Formen von Journalismus geforscht, etwa bei den Maori in Neuseeland. Bereits dort waren öffentlich bestellte, an festen Orten auftretende und performativ agierende Neuigkeitenerzähler bekannt“, berichtet er.

Bisher beschäftige sich die Forschung noch vorwiegend mit der Beschreibung der verschiedenen Erscheinungsformen des Live-Journalismus oder des theaterbasierten Journalismus. Ihre Wirkungen seien noch nicht wirklich erforscht. Erste Studien zeigten aber unter anderem, dass das Publikum nach dem Besuch solcher Events zumindest eine höhere Intention hatte, sich politisch zu beteiligen. „Diese Genres beinhalten also tatsächlich Chancen. Sie ermöglichen es dem Journalismus, sich nachvollziehbarer zu machen. Es ist aber noch zu früh, um abzuschätzen, ob sie dabei helfen, die zentralen Probleme des Journalismus zu lösen“, fasst Hanusch zusammen.

Fazit

Ob performativer Journalismus, Live-Journalismus oder theaterbasierte Projekte dabei helfen können, der Nachrichtenmüdigkeit, dem Schrumpfen der Leserschaft, dem Bedeutungsverlust klassischer Medienmarken, ihrer sinkenden Glaubwürdigkeit sowie ihrer Bedrohung durch soziale Medien und Fake News erfolgreich zu begegnen, ist offen.

Deutlich machen die genannten Beispiele aber, dass Journalistinnen und Journalisten erfolgreich neue, kreative Wege finden, um ihre Themen zu präsentieren. Dabei definieren sie ihr Verhältnis zum Publikum neu und legen offen, warum und wie sie zu ihren Geschichten kommen und wie sie diese bearbeiten. Und das Publikum nimmt diese Innovationen wahr, schätzt sie und nimmt sie an.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).


Der Autor Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.

 

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