Christian Lorenz Müllers „Unerhörte Nachrichten“: Wenn ein Lokalblatt Welt-News generiert
Was passiert, wenn Geschehnisse vor der eigenen Haustür plötzlich zu Nachrichten werden, die die Welt bewegen? In einer österreichischen Stadt nahe der deutschen Grenze finden sich immer mehr geflüchtete Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten ein, was menschliche und berufliche Herausforderungen für den Leiter eines Regionalblatts mit sich bringt.
Ingo Prähausner ist Redakteur und Inhaber des Anzeigenblatts „Neueste Grätzelnachrichten“, das in einer westösterreichischen Stadt erscheint. Die Berichterstattung seines vierköpfigen Teams dreht sich um lokale Begebenheiten, Themen wie gebührenpflichtige Parkraumerweiterung gehören zu den Aufmachern. Finanziell hält Prähausner das Blatt, das seit einiger Zeit kaum Anzeigenkunden anlockt, gerade über Wasser. Auch eine kürzlich aktivierte teure App, die „Grätzel News“ heißt, hat ihren Mehrwert nicht bewiesen. Die ausschließlich lokale Relevanz des Blattes wird aber aufgebrochen, als sich in der Region immer mehr Menschen einfinden, die aus Krisen- und Kriegsgebieten wie Syrien oder dem Irak kommen und über Österreich weiter nach Deutschland und in andere, nördlich gelegene Länder gelangen wollen. Die Lage spitzt sich zu, als immer mehr Geflüchtete eintreffen. Erstmals, seitdem Prähausner als Lokalredakteur zu arbeiten begonnen hat, läuft Weltgeschichte vor seiner Haustür ab.
Sein Team und er berichten fortan über die prekäre Lage der Flüchtenden, die Schwierigkeiten bei der Erstversorgung der vielen Menschen, die Maßnahmen von Hilfsorganisationen und politischen Reaktionen auf das weltpolitische Ereignis.
Heimvorteil
Dank der Ortskenntnis von Prähausners Team ist dieses oft als Erstes an den Schauplätzen des Geschehens; damit hat das Lokalblatt einen „Heimvorteil“ vor den großen Nachrichtenredaktionen. Als man etwa auf der deutschen Seite der Grenze beginnt, Nato-Draht auszurollen, um ein Weiterkommen der Vertriebenen zu vereiteln, kann Prähausners studentischer Mitarbeiter Johannes als einziger Medienvertreter Exklusivfotos von den Truppenbewegungen machen. Plötzlich liefern die „Grätzelnachrichten“ über die wenigen Stammleser ihrer App hinaus Bilder und Schlagzeilen, für die sich große Agenturen und Nachrichtensender wie die BBC interessieren und die Menschen weltweit erreichen.
Besuch aus der Vergangenheit
Doch es gibt nicht nur neue berufliche Herausforderungen, auch das Privatleben des geschiedenen Lokalredakteurs verändert sich. Als er eine gehörlose, junge Geflüchtete in seine Junggesellenwohnung aufnimmt, diese sich mit seiner Teenagertochter Franzi anfreundet und ein Liebesverhältnis mit Johannes beginnt, herrscht bei ihm zu Hause bald ein für ihn ungewohnter, aber fröhlicher Trubel. Weniger erfreulich für ihn ist, dass seine ehemalige WG-Mitbewohnerin Marina in der Stadt auftaucht, mit der er in seiner Wiener Studentenzeit eine Affäre hatte. Sie hat als Leiterin des politischen Ressorts einer großen Tageszeitung Karriere gemacht und will mit ihm aufgrund der Flüchtlingssituation kooperieren. Prähausner lehnt das ab, denn seine Gefühle gegenüber der forsch und berechnend auftretenden Frau sind zwiespältig. Die Gründe liegen in der Vergangenheit: In den 1990er-Jahren hatte er mit ihr und einer weiteren WG-Mitbewohnerin, Elli, kurz nach dem Ende des Krieges in Bosnien einen Hilfskonvoi organisiert. Dabei hatte Marina das Sagen gehabt und es war einiges aus dem Ruder gelaufen.
Zeitgeschichtliche Hintergründe
Die 2015 einsetzende, sogenannte „Europäische Flüchtlingskrise“ und der Krieg in Bosnien dienen als zeitgeschichtliche Folien für die im Roman erzählten Ereignisse. Zugleich bestimmen von der realen Historie abweichende Faktoren die Hergänge im Romangeschehen: So regiert etwa in Ungarn eine Frau, während Deutschland einen Kanzler hat, als die Vertriebenen nach Europa flüchten. Letzterer schließt in der fiktiven Parallelwelt die Grenzen für die Geflüchteten.
Rückblenden nach Bosnien
Während die Flüchtlingssituation Prähausner in der Gegenwart einiges abverlangt, wird in Rückblenden von seiner Bosnienreise erzählt.
Damals war er kurz vor Weihnachten mit Marina, Elli und einer Truppe weiterer junger Menschen mit einem Lkw-Konvoi und mehr als 2.000 Hilfspaketen an Bord voller Enthusiasmus und Hilfsbereitschaft und mit viel Naivität in eine bosnische Kleinstadt aufgebrochen, um dort die Päckchen zu verteilen. Um Bilder und Nachrichten an eine große Wiener Tageszeitung zu schicken und damit Spenden zu generieren, hatten sie auch ein kleines Presseteam gebildet.
Die Situation in Bosnien während der Hilfsaktion war jedoch weit weniger dramatisch als vom Redakteur der Wiener Zeitung für die Veröffentlichung von Artikeln und Reportagen gefordert. Hier gab es „keine hungrigen, ausgefrorenen Menschen“; um die hauptsächlich mit Hygieneartikeln, Süßigkeiten und Stofftieren für die Kinder gefüllten Päckchen stellten sich stattdessen „schockierend mürrische, durchwegs warm gekleidete Leute“ in der Sonne an. Außer einem Buben, der sich mit „verklärtem“ Gesicht über eine Tafel Schokolade freute, hatte auch keiner „Tränen der Dankbarkeit“ in den Augen.
Obwohl Ingo die Artikel schrieb, hatte bei der Pressearbeit die berechnend agierende Marina die Zügel in der Hand. Sie spornte ihn an, mehr als die Realität zu erzählen: „Die Wahrheit interessiert niemanden, eine schlüssige Story sehr wohl!“, höhnte sie.
Letztendlich ging dem Hilfstrupp vor der Heimreise das Geld aus. Unter diesem Druck wollte Marina nun gezielt Nachrichten fälschen. Sie überzeugte einen Teil der Helfenden davon, in einem Waldgebiet, in dem sich versprengte Tschetniks aufhalten sollten, vorzutäuschen, mit dem Lastwagen stecken geblieben zu sein. Als sie mit einigen vom Krieg gezeichneten, ortsansässigen Burschen einen Überfall auf den Lkw und seine Insassen inszenierte, zeigten sich die Nachwirkungen des Krieges ohne kitschige Verklärung: Die Situation eskalierte und es kam zu einer Tragödie.
Lebendiges Figurenensemble
Ob es um den finanziellen Überlebenskampf eines Anzeigenblattes, das Funktionieren des großen Medienapparates oder gar das Fälschen von Stories in Ausnahmesituationen geht: Müllers Roman bezieht sich vielfältig auf den Journalismus. So werden Fragen nach der Berufsethik des Einzelnen genauso aufgeworfen wie die Stimmung des Redaktionsalltags authentisch vermittelt wird.
Dabei kommt ein vielfältiges Figurenensemble zum Einsatz. Besonders die Mitarbeiter der „Grätzelnachrichten“, wie der burschikose, tatkräftige Johannes oder auch seine Kollegin Annabel, eine mit viel Enthusiasmus ihrem Beruf nachgehende Journalistin, wirken sehr lebendig. Wie man den Danksagungen entnehmen kann, hat der Autor in einer Stadtzeitung für seinen Roman recherchiert und dabei selbst Redakteuren bei ihrer täglichen Arbeit zugesehen.
Geprägter Sonderling
Ein zentrales Thema des auf zwei Zeitebenen erzählten Romans bildet die menschliche und berufliche Entwicklung der Romanfigur Prähausner.
Die dramatischen Ereignisse auf der Bosnienreise haben sein Leben stark geprägt. Zum einen hat sich nach der verkorksten Beziehung zu Marina, die er innerlich nicht abgeschlossen hat, sein weiteres Liebesleben schwierig gestaltet; auch die Ehe mit Franzis Mutter ging schief. Zwar zeigt Ingo Interesse an Frauen in seiner Umgebung, er scheint aber von seinen negativen Erlebnissen zu ernüchtert zu sein, um eine Annäherung zu wagen.
Beruflich hatte Prähausner nach Abschluss seines Studiums als freier Journalist das ehemalige Jugoslawien als Spezialgebiet gewählt. Doch er war in der Branche angeeckt, weil er in seinen Artikeln nichts verkürzt darstellen wollte und zugleich bei seinen Kollegen Fehler und Vereinfachungen anprangerte. Als „Sonderling“ habe er schließlich bei den „Grätzelnachrichten“ begonnen.
Nach und nach lernt der desillusionierte Journalist im Fortlauf des Romans, mit seiner Vergangenheit abzuschließen, um in der Gegenwart voranzukommen.
Zeilensprung ins Innenleben
Um immer wieder genauer ins Innenleben des Protagonisten zu schauen, bedient sich der Text eines formalen Kniffs: Die Erzählform wechselt aus der dritten Person in die Ich-Perspektive. Das wird durch einen Sprung in die nächste Zeile angezeigt, wobei ein begonnener Satz geteilt und darunter eingeschoben weitergeführt wird. Die Sprache wechselt dabei oft begleitend vom sachlichen ins bildreiche Erzählen, die Zeit vom Präteritum ins Präsens. Formale Experimentierfreude zeigt der Text auch durch die Imitation journalistischer Darstellungsformen: So werden private Gespräche vereinzelt in Interviewform wiedergegeben oder die in den Grätzelnachrichten erscheinenden Artikel und Interviews eingefügt. Die Umsetzung dieser wechselnden Erzählformen wirkt zwar manchmal hölzern, das stört die Lesbarkeit des Romans aber nicht.
Fazit: „Unerhörte Nachrichten“ ist ein formal abwechslungsreicher, vor zeitgeschichtlichen Hintergründen profund erzählter Journalistenroman. Er zeigt die Entwicklung eines für seinen Beruf begabten Redakteurs, der mit seiner Vergangenheit ins Reine kommen muss.
Der Schriftsteller Christian Lorenz Müller wurde 1972 in Rosenheim in Bayern geboren. Er ist gelernter Trompetenmacher und fand nach seinen Reise- und Gesellenjahren zum Schreiben. Für seinen 2010 erschienenen Roman „Wilde Jagd“ erhielt er den Bayerischen Kunstförderpreis 2012. Es folgten weitere Preise und Stipendien, wie der Georg-Trakl-Förderungspreis für Lyrik. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit rezensiert er für „Literatur und Kritik“, den poetenladen und fixpoetry. 2013 initiierte er die „textgespräche“, eine offene Schreibwerkstatt für werdende Autorinnen und Autoren. Er schreibt regelmäßig für den Lyrikblog „Der goldene Fisch“ und ist seit 2015 Prosaredakteur der Literaturzeitschrift „Konzepte“. Er lebt in Salzburg.
Autor: Christian Lorenz Müller
Titel: Unerhörte Nachrichten
Preis: € 25,00 (gebundene Ausgabe)
Umfang: 357 Seiten
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Otto Müller
ISBN: 978-3-7013-1281-8
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Die Autorin Friederike Schwabel, Dr. phil., promovierte Ende 2017 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und ist Absolventin der Deutschen Fachjournalisten-Schule. Sie lebt in Wien, ist als freie Fachjournalistin tätig und schreibt wissenschaftliche und journalistische Texte. Veröffentlichung von Rezensionen unter anderem in der „Berliner Literaturkritik“, „IASLonline“ oder im Buchmagazin des Literaturhauses Wien.