Mediendienst Integration: „Berichterstattung zu Migration und Integration versachlichen“
Interview mit Geschäftsführerin Rana Göroğlu
Auch wenn die Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge insgesamt zurückgeht, bleiben die Themen Migration und Integration hierzulande allgegenwärtig. Auch im aktuellen Bundestagswahlkampf. So verkündete etwa SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz vor Kurzem: „Migration war das große Thema des Jahres 2015, und es ist immer noch ein großes Thema.“ Für Journalisten besteht seit einigen Jahren mit dem Mediendienst Integration eine Informationsplattform zu den Themen Migration, Integration, Flucht und Asyl. Geschäftsführerin Rana Göroğlu spricht im Interview über die Angebote des Mediendienstes, die Veränderungen in der Berichterstattung und aktuelle Herausforderungen.
Im November 2012 ging Ihre Informationsplattform online. Inzwischen arbeitet ein sechsköpfiges Redaktionsteam beim Mediendienst Integration. Wieso hat der „Rat für Migration“ e. V. das Projekt damals ins Leben gerufen?
In erster Linie, um dazu beizutragen, die Berichterstattung und die Debatten zu Migration und Integration zu versachlichen und neue Perspektiven und Experten in die Berichterstattung einzubringen.
Unsere Mitarbeiter haben einschlägige journalistische Erfahrungen und wissen, dass es oft schnell gehen muss. Unsere Angebote sind auf den Bedarf von Journalisten zugeschnitten. Bei vielen Medien gibt es immer weniger Zeit für intensive Recherchen. Da setzen wir an. Wir liefern Zahlen, Hintergrundwissen und Experten zu den Themen „Flucht und Asyl„, „Migration„, „Integration“ und „Desintegration„.
Unter Integration verstehen wir einen Prozess, an dem Einwanderer und Aufnahmegesellschaft gleichermaßen beteiligt sind. Der Begriff „Desintegration“ beinhaltet für uns die Phänomene, die die Gesellschaft auseinandertreiben. Darunter fassen wir Rassismus, Diskriminierung und Rechtsextremismus ebenso wie militanten Islamismus.
Ihre Angebote sind für Medienschaffenden kostenfrei, da Ihre Arbeit von acht Kooperationspartnern finanziert wird. Was genau finden Medienschaffende auf Ihrer Plattform?
Wir stellen Zahlen, Fakten, Statistiken und Studienergebnisse zu den unterschiedlichsten Themen auf unserer Website bereit. Jeder kann kostenlos darauf zugreifen. Wir beantworten Fragen kurz und übersichtlich, mit Links zu den Originalquellen. Wenn man zum Beispiel wissen will, wie viele unter 5-Jährige in Deutschland einen Migrationshintergrund haben, findet man das auf unserer Website, ebenso wie Antworten auf Fragen zum Zuwanderungs- oder Asylrecht. Aber auch Themen wie die Vielfalt in der Gesellschaft oder Einstellungen in der Bevölkerung zu spezifischen Gruppen sind auf der Rechercheplattform zu finden.
Sie informieren mit einem wöchentlichen Themen-Alert über aktuelle Termine, Jahrestage, Anlässe für Bilanzen und Veröffentlichungen. Sie vermitteln aber auch Kontakte in ein großes Netzwerk von Experten.
In Medien tauchen oft dieselben Experten auf. In den Talkshows ist das am deutlichsten. Es gibt aber eine weitaus größere Vielfalt. Wir arbeiten eng mit Wissenschaftlern zusammen, unter anderem mit dem Rat für Migration, der auch unser Projektträger ist. Dort sind über 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Deutschland organisiert, die zu den unterschiedlichsten Aspekten von Migration und Integration forschen.
Wir haben eine umfassende Datenbank aufgebaut. Man kann uns einfach anrufen oder eine Mail schreiben wie „Ich suche für heute Nachmittag um 15 Uhr einen Experten zu …“. Dann suchen wir umgehend Ansprechpartner heraus und schicken den Journalisten die Kontakte und Hintergrundinformationen.
Neben diesen Serviceangeboten führen Sie aber auch Veranstaltungen durch. Welche sind das?
Wir bieten bundesweit Veranstaltungen an. Es gibt Pressegespräche zu speziellen Themen. Zum Beispiel zum vermeintlichen Zusammenhang von Migration und Kriminalität. Das ist ein viel diskutiertes und komplexes Thema. Bei den Erkenntnissen und Zahlen, die dazu vorliegen, muss man sehr genau hinschauen. Welche Studien gibt es zum Thema? Wie aussagekräftig ist diese oder jene Statistik? Wo kann man eine Statistik vielleicht auch fehlinterpretieren? In solchen Fällen bitten wir manchmal auch Wissenschaftler, für uns eine Expertise zu erstellen.
Wir organisieren aber auch Medientouren, bei denen wir vor Ort die Journalisten mit Experten zusammenbringen. Zum Beispiel zum Thema „Wie kommt eine Asylentscheidung zustande?“. In dem Fall versuchen wir dann, den Weg Schritt für Schritt nachzuzeichnen.
Ein Format, das sie entwickelt haben, ist der Fakten-Check. Anfang 2013 zum Beispiel veröffentlichte der Deutsche Städtetag Zahlen zur „erheblichen Zuwanderung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien“, die dort bereits sozial benachteiligt seien. Medien wie die FAZ und das heute-journal haben diese Zahlen übernommen. Und damit die Debatte um die sogenannte „Armutszuwanderung“ aus diesen Ländern mit angeheizt. Sie haben die Angaben damals korrigiert.
Damals konnte man relativ einfach zeigen, dass es anders ist. Dass 2011 laut Statistischem Bundesamt fast 150.000 Migranten aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland gekommen sind, hatte der Deutsche Städtetag ja korrekt wiedergegeben. Nicht erwähnt hatte er allerdings, wie viele Menschen gleichzeitig in die beiden Länder zurückgegangen sind. Bezieht man das mit ein, kamen 2011 unterm Strich nur knapp 60.000 Menschen aus diesen Ländern nach Deutschland.
Problematisch war auch, dass der Städtetag die Zahlen mit einer „Armutsmigration“ in Verbindung brachte. Dafür gab es jedoch keine Belege. Im Gegenteil: Viele Migranten aus diesen Ländern sind sehr gut qualifiziert und sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Auch das haben wir gezeigt.
Inzwischen sind Fakten-Checks gängig und verbreitet. Bei Spiegel Online, heute.de und in vielen anderen Medien – das finden wir erfreulich. Wir glauben und hoffen, dass wir dazu mit beigetragen haben.
Wie werden Ihre Angebote von Medienschaffenden angenommen?
Sehr gut, von Anfang an. Unsere Themen sind inzwischen Hauptthemen der Berichterstattung geworden. Wir bekommen täglich Anfragen und haben uns als kompetente Ansprechpartner etabliert. Einen absoluten Höhepunkt erreichten die Presseanfragen und Klickzahlen auf unserer Website natürlich im sogenannten Flüchtlingssommer 2015.
Halten Sie es für sinnvoll, wenn Medienschaffende sich auf Migrationsthemen spezialisieren?
Die Zahl der Journalisten, die sich mit Migration und Integration beschäftigen, ist in den letzten Jahren sicher gestiegen. Dennoch bräuchte man mehr auf einzelne Aspekte spezialisierte Fachjournalisten, weil es ein riesiges Themenfeld ist. Es ist ja ein großer Unterschied, ob ich über Asylrecht oder über die Vielfalt des Islam in Deutschland berichte.
Gerade zu letzterem Thema gibt es nicht viele Fachjournalisten – obwohl dauernd über den Islam und die Muslime berichtet wird. Da gibt es viel Informations- und Fortbildungsbedarf. Deswegen haben wir das „Journalistenhandbuch Islam“ herausgegeben. Mit Grundlageninformationen, Ansprechpartnern, Zahlen und Fakten. Natürlich ist das Thema so in Bewegung, dass wir das Handbuch schon wieder weiterentwickeln.
Seit 2015 sind Flucht und Asyl ein Dauerthema. Wie schätzen Sie die Berichterstattung – auch im Vergleich zu den 1990er-Jahren – ein?
Bei den etablierten Medien, würde ich sagen, gibt es schon einen großen Unterschied zu den 1990er-Jahren. Es wird insgesamt differenzierter berichtet. Als das BKA kürzlich zum Beispiel die Zahlen zur „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ veröffentlicht hat, haben viele Medien – auch konservative – die darin angeführten Zahlen, Begriffe und Kategorien hinterfragt und kritisch eingeordnet.
Aber es ist natürlich nicht so, dass durchgehend jeder Bericht besser ist als früher. Die Meinungsvielfalt gehört dazu, aber man muss wachsam sein, dass es nicht kippt und Rechtspopulisten die Berichterstattung vor sich hertreiben. Deswegen ist es sehr wichtig, die Mechanismen dahinter zu verstehen. Die AfD-Strategie, zu skandalisieren, damit die Medien dann dankbar über dieses Stöckchen springen, geht sehr oft auf. Da hoffe ich auf ein stärkeres Bewusstsein in den Redaktionen. Dass man mal einen Moment innehält, bevor man sagt: „Das ist das Knaller-Thema, die AfD hat wieder provoziert!“. Auch wenn der „Nachrichtenwert“ verlockend sein mag.
Sind die Perspektiven von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Berichterstattung ausreichend vertreten?
Die Sicht vieler Berichte ist immer noch: „Wir“ schauen auf „die anderen“ oder auf „das Fremde“. Das „Wir“ wird vorgestellt als eine vermeintlich homogene weiße deutsche Perspektive. Und nicht als ein „Wir“, das selbst heterogen und von Einwanderung geprägt ist. Da könnte sicher noch einiges passieren. Wobei sich in vielen Redaktionen schon etwas geändert hat und die Perspektiven und die Zusammensetzung der Mitarbeiter vielfältiger geworden sind.
Dennoch: Die Sicht der Geflüchteten zum Beispiel kommt noch zu wenig vor. Berichte über Angriffe auf Flüchtlingsheime sieht man nicht mehr so häufig, aber sie passieren weiterhin. Wie fühlt sich das aus der Perspektive der Geflüchteten eigentlich an? Mit welchen Ängsten müssen sie leben? Sie bleiben zu oft eine stumme, anonyme Masse.
Wo sehen Sie aktuelle Herausforderungen?
Die Berichterstattung zu Migration und Integration ist breiter und komplexer geworden. Gleichzeitig gibt es neue Phänomene wie Hate Speech und Fake News, die rasant zunehmen und sich über die sozialen Medien weit verbreiten. Gleichzeitig verlieren die klassischen Medien an Autorität. Medienschaffende stehen zunehmend unter Druck – auch unter dem Druck des Vorwurfs der Lügenpresse. Es ist sicher schwer, davon unbeeinflusst zu bleiben. Das zeigt auch eine Umfrage unter Journalisten, die wir initiiert haben.
Dem muss man mit neuen Strategien begegnen. Man bräuchte mehr Fachjournalisten und mehr Zeit und Ressourcen für investigative Teams und langfristige Recherchen. Und man müsste die Online-Redaktionen ausbauen, um schnell auf Entwicklungen im Netz zu reagieren und Fake News und Hate Speech etwas entgegenzusetzen.
Eine andere Herausforderung ist, dass Migration und Integration zum einen sehr lokale Themen sind, denn da finden sie statt. Zum anderen sind es aber auch sehr europäische und internationale Themen. Man kann das nicht mehr nur aus einer nationalen Perspektive betrachten. Insofern müsste man das Korrespondenten-Netzwerk eher aus- als abbauen.
Wir wollen uns jedenfalls stärker mit Organisationen aus anderen Ländern vernetzen, die zu denselben Themen und mit demselben Anliegen arbeiten wie wir.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Rana Göroğlu hat Geschichte, Politik und Turkologie in Berlin, Göttingen und Groningen (Niederlande) studiert. Ab 2003 arbeitete sie als Journalistin, u. a. für ZDF, rbb radiomultikulti und Berliner Zeitung und betreute Fachpublikationen zu den Themen Arbeitsmarktintegration, Antisemitismus und Islam. 2008 hat sie den Verein „Neue deutsche Medienmacher“ mitgegründet. Seit 2012 arbeitete sie als Redakteurin beim Mediendienst Integration, seit 2016 ist sie dort geschäftsführende Leiterin.