Mit Wissenschaftsjournalismus gegen Fake News
Sie ist ein YouTube-Star, wird für ihre crossmediale Arbeit mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis ausgezeichnet. Im Interview mit dem „Fachjournalist“ erzählt die freie Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim (32), warum sie das Labor verlassen hat, wieso Wissenschaftsjournalismus immer mehr an Bedeutung gewinnt und weshalb das Internet in ihren Augen das wichtigste „Kampffeld“ ist.
Sie sind bekennender Science-Nerd, Ihr Vater und mittlerweile auch Ihr Bruder sind wie Sie Chemiker. War das Kinderzimmer Ihr erstes Labor? Welche chemischen Experimente haben Sie als Mädchen gemacht?
Ich hatte keinen Chemiebaukasten, bei mir gab es keine großen Explosionen, keinen weißen Kittel oder irgendwelche Lösungen. Durch meinen Papa hatte ich einen ganz alltäglichen Zugang zur Chemie. Ob beim Kochen, beim Einkaufen oder beim Aussuchen eines Gesichtswassers – er hat mir ständig nebenbei physikalische oder chemische Phänomene erklärt.
Sie haben in Chemie promoviert, das Forschen dann aber aufgegeben, um als Journalistin anderen Wissen nahezubringen. Warum ist Wissenschaftskommunikation in Ihren Augen so wichtig?
Die Bedeutung der Wissenschaft nimmt immer weiter zu, auch im Hinblick auf den Medienwandel: Es war noch nie so einfach wie heute, an Informationen zu kommen: Alle haben ihr Smartphone in der Tasche, können jederzeit alles googeln.
Aber das Paradoxe daran ist: Je mehr Informationen wir haben, desto verwirrter werden wir. Denn zum einen gibt es einen Überfluss an Infos, zum anderen ist das alte Sender-Empfänger-Prinzip in den Medien völlig aufgehoben. Früher gab es die Infos aus dem Fernsehen, aus dem Radio, aus den Zeitungen – sie waren die Gatekeeper. Heute kann jeder Sender sein. Das schafft mehr Demokratie, verschafft aber auch Populisten mit gefährlichen politischen Meinungen sowie Scharlatanen, die andere ausnutzen wollen, eine Bühne, eine Plattform. Zugleich führt das zu Qualitätseinbußen sowie zu widersprüchlichen Informationen. Egal, bei welchem Thema: Man muss nur lange genug googeln und man erhält widersprüchliche Aussagen.
Es wird immer schwieriger, sich im Wust der Informationen zurechtzufinden. Und daher gewinnt gerade Wissenschaftskommunikation – Wissenschaft ist ja komplex und nicht mal kurz erklärt – immer mehr an Bedeutung.
Was ist Ihre Funktion dabei?
Die großen Herausforderungen unserer global vernetzten Gesellschaft – wie Energiewende, Klimawandel, künstliche Intelligenz bei selbstfahrenden Autos, Gentechnik – sind interdisziplinär, also fachübergreifend. Es gibt zu wenig Austausch zwischen den Politikern, den Gesetzgebern, die wichtige Entscheidungen treffen, und den Experten, die seit Jahrzehnten an den komplexen wissenschaftlichen Themen forschen.
Wir Wissenschaftsjournalisten haben einerseits die Rolle eines Dolmetschers, der die Fachsprache in allgemein verständliche Sprache übersetzt. Ich verlinke immer sämtliche Quellen – aber für Fachfremde ist es schwierig bis unmöglich, durch wissenschaftliche Studien durchzusteigen, die eben nicht für die Öffentlichkeit verfasst wurden. Andererseits sind wir eine Art Schiedsrichter. Denn in kontroversen Debatten brauchen wir auch eine sachliche Stimme: Die Wissenschaft ist unabhängig; sie muss nicht vom Volk wiedergewählt werden.
Wo liegen die Herausforderungen für den Wissenschaftsjournalismus?
Wissenschaftsjournalismus und Wissenschaft sollten idealerweise sehr viel gemeinsam haben. Wir haben dieselben Werte, dieselben Arbeitsansprüche: Verifizierung, Sachlichkeit, Faktenbasiertheit, Differenziertheit. Insofern habe ich mich auch schnell zurechtgefunden.
Was mich ein bisschen herausfordert – auch verschärft durch die Neuen Medien: Dass guter Journalismus allgemein, und Wissenschaftsjournalismus natürlich auch, eine Frage von Ressourcen ist. Es werden gute Leute gebraucht, deren Arbeitszeit entlohnt werden muss.
Doch die Printauflagen sinken, die Leute sind gewöhnt, im Internet kostenlose Nachrichten zu bekommen. Vieles wird über Werbung finanziert, über Klicks; das verleitet natürlich dazu, etwas Empörendes zu verbreiten – das wird natürlich öfter angeklickt als etwas rein sachlich Dargestelltes. Ranga Yogeshwar hat für diese Tatsache den schönen Begriff der „Erregungsbewirtschaftung“ geprägt. Wir hangeln uns von einem Aufreger zum nächsten – und das ist schädlich für einen sachlichen Austausch.
Da bin ich dankbar, dass ich öffentlich-rechtlich finanziert und damit unabhängig bin. Da Fakten und Meinung immer öfter gleichgesetzt werden, müssen Wissenschaft und Forschung allgemein verständlich erklärt werden. Das Prinzip eines öffentlich-rechtlichen Systems ist daher in Zeiten von Fake News und gefühlten Wahrheiten umso wichtiger. Genauso, wie mit journalistischer Qualität dagegenzuhalten.
Im November bekommen Sie (zusammen mit Ihrem Kollegen Harald Lesch) den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis verliehen.
Das ist für mich eine unglaubliche Wertschätzung meiner Arbeit – besonders schön deshalb, weil zum ersten Mal überhaupt Wissenschaftsjournalisten ausgezeichnet werden. Das empfinde ich als superstarkes Statement: Wir leben in einer Zeit, in der man für Fakten einstehen muss – und nichts wird mehr in Zusammenhang mit Fakten gebracht als die Wissenschaft, die für Wahrhaftigkeit steht.
Da die meisten Falschinfos im Netz verbreitet werden, ist es gerade im Internet besonders dringend, Stellung zu beziehen und Fakten zu liefern, um Desinformationen einordnen. Da muss man als Journalist sozusagen mit aufs Kampffeld.
Was ist Ihrer Ansicht nach bei der Wissensvermittlung wichtig?
Am Anfang ging es noch mehr darum, Wissenschaft zu erklären. In den letzten Jahren wurde jedoch immer deutlicher, dass es nicht ausreicht, Fakten zusammenzutragen, zu erklären, wie etwas funktioniert.
Ein ganz wichtiger Trend ist, das Wissen einzuordnen: Was bedeutet das jetzt eigentlich genau für die Gesellschaft? Wie müssen wir handeln?
Sie sind Dozentin am Nationalen Institut für Wissenschaftskommunikation (NaWik). Was bringen Sie den Doktorandinnen und Doktoranden dort bei?
Das NaWik wurde gegründet, um Forschende zu ermutigen und zu befähigen, am wissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Es gehört meiner Meinung nach zur Verantwortung von in der Wissenschaft Tätigen dazu, sich auch an der öffentlichen Aufklärung zu beteiligen, eine Haltung zu vertreten und sich in gesellschaftliche und politische Debatten einzumischen. Wir empowern die Forschenden, dass man Wissenschaftskommunikation lernen kann – das ist nicht nur eine Frage des Talents. Es gibt Kommunikationsstrategien, Tools wie beispielsweise Blogs, Videos oder Science Slam, und man kann es trainieren, öffentlichkeitswirksam aufzutreten.
Ich bräuchte viel mehr Unterstützung dabei, Wissenschaft zu erklären. Und dafür brauchen wir vor allem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, denn Authentizität ist ja auch ein Asset, ein Wert in der heutigen Zeit.
Was raten Sie jungen Leuten, die als Wissenschaftsjournalisten Fuß fassen wollen?
Immer proaktiv sein, Augen und Ohren offen halten. Es gibt nicht den einen Weg, den man gehen muss, um in dieser Branche zu landen. Es gibt viele Quereinsteiger.
Konkret: Aktiv nach Plattformen suchen, die einem den Einstieg ermöglichen. Denn als Einzelkämpfer ist es schwierig. Bei wissenschaftskommunikation.de zum Beispiel gibt es die Möglichkeit, Blogartikel zu veröffentlichen und die unter die Leute zu bringen. Wenn man sich für Science Slams interessiert, sich aber nicht direkt traut selbst mitzumachen: Einfach mal hingehen und mit den Leuten reden, es gibt ganz interessante Netzwerke.
Meine Erfahrung ist: Alle, die im Bereich Wissenschaftskommunikation arbeiten, sind super motiviert und unterstützend und freuen sich immer, wenn Leute dazukommen. Also einfach Kontakte suchen.
Gute Anlaufstellen: Wissenschaft im Dialog, da gibt es immer wieder Workshops oder Weiterbildungen. Oder ein Praktikum machen. Was viele gar nicht wissen: An den Universitäten gibt es oft einen kleinen Geldtopf für Outreach, für Bemühungen, die Forschung an die Öffentlichkeit zu bringen, oder um die Studierenden mit Seminaren weiterzubilden. Und dann muss man sich einfach mal trauen, bei Twitter über seine Forschung zu reden, bei Instagram Fotos aus dem Labor zu teilen oder sogar ein YouTube-Video hochzuladen.
Die Plattformen sind alle da, die sollte man auf jeden Fall nutzen.
Wie haben Sie angefangen?
Bei mir war es auch learning by doing. Ich habe mit meinem YouTube-Kanal neben meiner Doktorarbeit angefangen. Das war sehr interessant, denn am Anfang lebte ich in einer akademischen Blase und habe viel qualitatives Feedback bekommen. Inzwischen bekomme ich pro Video Tausende Kommentare, aber am Anfang konnte ich mir die noch alle durchlesen.
Durch das Feedback habe ich ein Gefühl dafür bekommen, was die Leute erwarten, was man voraussetzen kann, was besonders gut ankommt oder weniger.
Sie verstehen es, komplexe Inhalte leicht verständlich und unterhaltsam zu vermitteln. Was ist Ihr Tipp: Wie begeistert man die Menschen?
Wenn man selbst begeistert ist, ist das ansteckend – das gilt natürlich gerade vor der Kamera. Bei jeder Fernsehsendung, bei jedem Buchkapitel, bei jedem YouTube-Video: Ich versuche immer, den Alltagsbezug herzustellen. Nicht nur zu sagen, wie toll unser Universum ist, sondern zu zeigen, dass die Wissenschaft total relevant ist für das echte Leben.
Chemie ist kein abgefahrenes Freak-Wissen, mit dem sich intelligente Nerds beschäftigen – sie geht alle an und sie kann auch jeder verstehen.
In Ihrem Pop-Science-Buch „Komisch, alles chemisch!“ erklären Sie verständlich und witzig, wann der richtige Zeitpunkt für den ersten Kaffee ist, warum Fluoride in der Zahnpasta enthalten sein sollten und was auf molekularer Ebene los ist, wenn die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt. Sie moderieren eine Wissenschaftsshow im Fernsehen und sind YouTube-Star. Welche Verbreitungswege sind am sinnvollsten, um als Wissenschaftsjournalist seine Botschaft unters Volk zu bringen?
Je mehr Leute ich erreiche, desto besser. YouTube, Fernsehen, Buch – mit jedem Medium erreiche ich andere Menschen.
Generell sehe ich die Zukunft ganz optimistisch, denn gerade der Online-Bereich eignet sich total für Wissenschaftsjournalismus. Vielleicht könnte man denken, dass online alles seichter, oberflächlicher ist und mehr in Richtung Unterhaltung geht – aber das stimmt nicht. Online-Angebote sind einfach nur personalisierter, fragmentierter und auch nischiger.
Der große Vorteil, den wir bei meinem YouTube-Kanal „maiLab“ haben gegenüber „Quarks“: Die Menschen haben bewusst das Video angeklickt, während wir beim linearen Fernsehen die Leute abfangen müssen, damit sie beim Durchzappen auch hängen bleiben. Man kann nicht davon ausgehen, dass jemand eine TV-Sendung von Anfang bis Ende verfolgt. Deshalb kann ich mir online eine viel größere wissenschaftliche Tiefe erlauben, viel mehr Details als im Fernsehen. Meine Videos auf YouTube, die teilweise bis zu 20 Minuten lang sind, muss man von Anfang an sehen, um mitzukommen.
Was sind Dos und Don´ts im Internet?
Do: Unglaublich wichtig sind die ersten Sekunden eines jeden Beitrags. Das gilt für Texte genauso wie für Videos oder Podcasts. Es dauert nicht lange, bis jemand man für sich entscheidet, ob einen das interessiert. Man muss ganz schnell klarmachen: Warum solltest du dieses Video jetzt gucken? Es gibt schließlich noch Millionen andere, die man stattdessen anschauen könnte. Daraus kann ich für alles andere, was ich so tue, auch für Vorträge, lernen. Man muss sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer sehr verdienen. Aber das ist gar nicht so schlecht, denn dann wird die Vermittlung besser und unterhaltsamer.
Don´t: Man sollte sich nicht zu sehr von den Zahlen beeinflussen lassen – bei Online-Angeboten gibt es noch viel detailliertere Auswertungen als die Auflage bei Zeitungen oder die Quote beim Fernsehen. Das ist verführerisch, aber es lenkt einen ab und es ist nicht nachhaltig, wenn man den Inhalt dahingehend optimiert, was am meisten geklickt wird. Denn Klicktrends und Algorithmen von Plattformen ändern sich ständig. Die Priorität ist falsch, wenn man sich fragt, wie baue ich Reichweite auf, bevor man nicht inhaltlich perfekt ist.
Welche Rolle spielen die anderen sozialen Netzwerke?
Man muss ganz klar sagen: Mit oberflächlichen Social-Media-Plattformen wie Instagram – über ein Bild – kann ich natürlich noch keinen Wissenschaftsjournalismus betreiben. Ich kann die Plattform allerdings ganz geschickt nutzen, indem ich ein Foto von mir mit einem Glas Wein poste und damit auf mein YouTube-Video verweise, in dem ich über den sogenannten Asian Flush berichte, über die gestörte Verstoffwechselung von Alkohol bei Asiaten. Und in der Videobeschreibung auf wissenschaftliche Veröffentlichungen zu dem Thema verlinke.
Die Rolle der Netzwerke mache ich gerne am Bild einer Zwiebel klar: Die äußerste Schicht, die Oberfläche, erreicht viele Leute. Ganz innen ist die wissenschaftliche Vertiefung des Themas, damit können dann nicht mehr so viele Menschen etwas anfangen. Wenn man mit dem Innersten anfinge, würde man nur Leute aus der Wissenschaft ansprechen. Man muss also außen anfangen, um das Publikum für Wissenschaftsjournalismus zu begeistern und langsam „reinzuziehen“. Jede Schicht der Zwiebel hat insofern ihre Berechtigung. Und je mehr man weiß, desto mehr interessiert man sich nachher auch für ein Thema.
Wie lautet Ihre Prognose für den Wissenschaftsjournalismus?
Wenn man in die USA schaut, die uns in Sachen Medien immer ein paar Schritte voraus sind, ist die Prognose, dass die Grenze zwischen konventionellen und Neuen Medien immer mehr verschwinden wird. Ich bin davon überzeugt, dass zumindest im Wissenschaftsjournalismus mehr Tiefe, mehr Details und ausführlichere Aufklärung gefragt sein werden. Gerade für Wissenschaftsthemen sehe ich in den Neuen Medien viel Potenzial.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Dr. Mai Thi Nguyen-Kim (32) ist Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin. Während ihrer Doktorarbeit, die sie an der Harvard University schrieb, lud sie erste YouTube-Videos hoch, um Wissenschaft wie eine „Seuche“ im Land zu verbreiten. Dieses Zeil verfolgt sie inzwischen auf allen Kanälen: Als Nachfolgerin von Ranga Yogeshwar moderiert sie im WDR das Wissensmagazin „Quarks“. Sie ist Autorin des SPIEGEL-Bestsellers „Komisch, alles chemisch!“. Und für „funk“, das Online-Angebot von ARD und ZDF, produziert sie den YouTube-Kanal „maiLab“, der fast 500.000 Abonnenten hat und mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Grimme Online Award 2018. Im selben Jahr erhielt sie als erste YouTuberin den Georg von Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus; 2019 den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis. Am Nationalen Institut für Wissenschaftskommunikation (NaWik) gibt sie Seminare zu Scientific Writing und Medientraining, Social-Media-, Präsentations-, Video- und Interviewseminare.