Recherchestrategien, Teil 1: Keine Angst vor heiklen Themen
Am Ende einer Recherche sind handfeste Fakten gefragt. Doch was tun, wenn alle Verantwortlichen eisern schweigen? Nicht selten wird die Nachforschung für den Reporter vor Ort damit zu einer „Achterbahnfahrt“ mit ungewissem Ausgang. In seiner Miniserie über Recherchestrategien bei heiklen Themen zeigt Autor Uwe Herzog zunächst anhand eines Praxisbeispiels, wie die „Mauer des Schweigens“ Schritt für Schritt durchbrochen und dabei wichtige Erkenntnisse für eine differenzierte Berichterstattung gewonnen werden können.
Eigentlich klingt alles nach einem Vorzeigeprojekt: Auf dem Gelände eines früheren Güterbahnhofs im Kölner Ortsteil Braunsfeld ist ein neues Wohnquartier geplant, bei dem – erstmalig in Deutschland – Wohnungen und Büros unmittelbar über einer Industriebahnlinie errichtet werden sollen. Die hier weiterhin verkehrenden Güterzüge sollen künftig in einem Tunnelsystem durch die Gebäude rollen – ohne dass die Bewohner davon etwas zu spüren bekommen. Dafür, so versprechen die Bauherren, sorgen ausgeklügelte Schall- und Emissionsschutzkomponenten, mit deren Hilfe eine Beeinträchtigung durch die röhrenden Dieselloks vermieden werden soll, die oft zwei bis drei Dutzend schwer beladene Waggons hinter sich herziehen. Auch die Bewohner der angrenzenden Bestandsbauten, die bislang über starke Vibrationen bei der Durchfahrt der Züge klagen, sollen von den neuen „Flüstergleisen“ profitieren.
Die Pläne lassen Architekten und Städteplaner im ganzen Land aufhorchen: Gelänge das Kunststück, wären auf engstem Raum an einer wichtigen Verkehrsader urbanes Leben, Wohnen und Arbeiten möglich. Viele Ballungsgebiete haben nämlich ähnlich großen Bedarf an Wohnraum und Gewerbeflächen wie die Rheinmetropole Köln – doch allzu oft stehen Hauptverkehrsstraßen oder Bahnlinien einer Bebauung der wenigen zur Verfügung stehenden Grundstücke entgegen. Nun endlich könnten mithilfe neuartiger Bautechnik bislang brachliegende Flächen sinnvoll genutzt werden.
Doch bei näherem Hinsehen entpuppen sich die vermeintlich innovativen Baupläne plötzlich als handfester Umweltskandal, bei dem alle Beteiligten auffallend schweigsam werden. Denn es stellt sich heraus, dass auf der Strecke nicht nur Briketts oder Sand transportiert werden – sondern auch hoch entzündliches Gefahrgut.
Tagebuch einer schwierigen Recherche
„Hier entsteht etwas schönes Neues!“ stand vielversprechend in großen Lettern auf dem Plakat am Bauzaun und auch die Baugenehmigung für das Vorzeigeprojekt am künftigen Kölner Clarenbachplatz war bereits durch das zuständige Baudezernat der Kölner Stadtverwaltung erteilt: Drei Gebäude mit insgesamt 67 Wohnungen und ein Komplex mit etwa 550 Quadratmetern Gewerbefläche sollen hier entstehen. In einer E-Mail an die beteiligten Bauunternehmen erkundige ich mich, wann der erste Spatenstich erfolgen wird.
Schweigen.
Dann, nach zwei Wochen, doch noch ein Feedback: Die Sprecherin entschuldigt sich für die Verzögerung. Ja, man habe die Baugenehmigung durch die Stadt Köln in der Tasche. Doch die übergeordnete Bezirksregierung Köln habe den Baubeginn überraschend gestoppt, weil es noch „rechtlichen Klärungsbedarf“ gäbe. Bis zum Abschluss dieser erneuten Überprüfung wolle man sich nicht weiter zu dem Projekt äußern, teilt der Geschäftsführer eines der beteiligten Bauunternehmen mit. Seltsam.
Presseanfrage bei der Bezirksregierung Köln: Ich möchte wissen, weshalb die Bauvorbereitungen gestoppt wurden und was genau Gegenstand der erneuten Prüfung des Projekts sein wird. Antwort: „Bei dem Bauprojekt wird eine Eisenbahnstrecke der Häfen und Güterverkehr Köln AG teilweise überbaut. In diesem Zusammenhang hat sich nunmehr herausgestellt, dass die Gleisanlage angepasst werden muss. Dabei spielt zum einen der Schall- und zum anderen der Brandschutz eine besondere Rolle.“
Das Stichwort „Brandschutz“ lässt aufhorchen: Welche Risiken sind für die Bewohner des Quartiers mit der unmittelbaren Nähe zu den hier durchgeführten Gefahrguttransporten verbunden? Das zuständige nordrhein-westfälische Verkehrsministerium wiegelt ab. Es werde lediglich „standardmäßig“ eine Abstimmung „der beteiligten Fachbehörden mit der Feuerwehr“ vorgenommen und dabei gecheckt, „ob gegebenenfalls weitere Sicherheitsmaßnahmen (zum Beispiel Notfall- und Rettungsmaßnahmen) erforderlich sind.“ Die Prüfung dieser Frage läge allein in Händen der Bezirksregierung.
Nächste Station meiner Recherche: das Umweltministerium in Berlin. Ich möchte wissen, was man dort von dem bisher einmaligen Kölner Neubauprojekt „über den Gleisen“ hält. Eine Sprecherin teilt mir telefonisch mit, dass ihr Ministerium in diesem Fall „nicht wirklich zuständig sei“. Ich möge mich bei Fragen zu Bahnstrecken doch besser an das Bundesverkehrsministerium wenden – oder aber, sofern es um eine konkrete „Gefahrenabwehr“ ginge, an das Bundesinnenministerium. Tatsächlich stellt sich – neben der Sorge um herkömmliche Störfälle – die Frage, wie gefährdet Wohngebiete, durch die Gefahrgüter transportiert werden, in Zeiten des Terrors sind …
Das Bundesinnenministerium verweist an das Eisenbahnbundesamt, das dem Verkehrsministerium in Berlin unterstellt ist, sowie an das Innenministerium des Landes NRW in Düsseldorf. Unterdessen erklärt das Eisenbahnbundesamt, es sei ebenfalls nicht zuständig, und zwar, weil die Bahnlinie nicht Eigentum des Bundes sei. Das Innenministerium in Düsseldorf wiederum sagt, dass die Zuständigkeit beim Verkehrsministerium NRW und eben der Bezirksregierung Köln läge. „Schließlich“, so ein Sprecher des Innenministers, sei „das Kind ja noch nicht in den Brunnen gefallen“. Soll heißen: Die endgültige Genehmigung zur Veränderung der Bahngleise sei schließlich noch nicht erteilt, die Realisierung des Projekts damit, zumindest formal, weiterhin offen.
Nächste Station: Stadtverwaltung Köln. Hier wurde die Baugenehmigung erteilt. Ich bitte um Einsicht in die Gutachten zu den Umweltauswirkungen (und damit auch zum Brandschutz) des geplanten Neubaus, die der Baugenehmigung zugrunde liegen. Doch auch die Stadtverwaltung mauert: „Die Gutachten und Untersuchungen im Einzelnen sind Teil der Verfahrensakte und nicht Teil der öffentlichen Planurkunde mit Planbegründung.“ Ich weise die Pressestelle darauf hin, dass sie gesetzlich zur Auskunft verpflichtet ist, da das Thema von öffentlichem Interesse sein dürfte.
Schweigen.
Auch den Bauträgern teile ich nun mit, dass ich mich entschlossen habe, notfalls Klage beim Verwaltungsgericht gegen die Stadt Köln einzureichen, sofern ich die bei der Stadtverwaltung erbetenen Auskünfte zum Brandschutz und zu den Umweltauswirkungen des Bauprojekts nicht erhalte.
Die Kehrtwende
Plötzlich erfolgt die Kehrtwende: Geschäftsführer und Planer der beiden beteiligten Baugesellschaften bitten mich zu einem Hintergrundgespräch.
Punkt für Punkt besprechen wir die einzelnen „Knackpunkte“ des Projekts und die dafür bislang von den beteiligten Architekten und Ingenieuren vorgesehenen Lösungen.
Dabei wirkt zumindest das Schallschutzkonzept durchaus überzeugend: die Bahngleise sollen mit speziellen Kunststoffmatten unterfüttert werden, um die durch die schweren Güterzüge verursachten Vibrationen zu verringern. Zusätzliche Schallschutzmauern reduzieren die Geräusche der Lokomotiven und der Räder. Offene Fragen bleiben noch bei der Feinstaubbelastung, denn die Abgase der Dieselloks sollen nicht abgesaugt, sondern lediglich durch Ventilatoren in einem 160 Meter langen Tunnel unter den Wohnhäusern „verwirbelt“ werden.
Das Kernproblem „Brandschutz“ bleibt ebenfalls weiter ungelöst. Zwar wurde ein Brandschutzgutachten mit verschiedenen Simulationen erstellt. Doch auf ein Simulationsmuster wurde dabei bislang verzichtet: Wie würde sich ein in Brand geratener – oder gar explodierender – Kesselwaggon mit hoch entzündlicher Wirbelschichtbraunkohle auf die Eisenträger und Brandschutzwände der Gebäude auswirken? Die beteiligten Bauunternehmen kündigen an, diese Frage rasch durch ein neues Gutachten klären zu lassen. Auch wolle man sich bei den Sicherheitsbehörden erkundigen, wie groß die Gefahr im Fall eines Terroranschlags sei.
Es geht weiter
Auch ich recherchiere weiter und lege Experten Fotos von den Gefahrgutzügen vor, die schon heute durch das bereits dicht bebaute Viertel fahren. Der Deutsche Feuerwehrverband teilt mir mit: „Die dramatischsten Folgen würden entstehen, wenn es in Folge eines Brandes zu einer Staubexplosion käme, weil die Wirbelschichtbraunkohle durch äußere Umstände so aufgewirbelt würde, dass ihre Raumkonzentration im Zündbereich liegt. In diesem Fall würde sich nahezu die gesamte in der Kohle gespeicherte Energie in kürzester Zeit in Wärme und Druck umsetzen. Wie groß der Schaden dann genau wäre, hängt von den Umständen der Staubexplosion ab, aber es ist bei einer Staubexplosion, die große Teile der Ladung umfasst, von erheblichen Schäden auszugehen.“
Der Direktor einer Spezialklinik für Brandopfer sagt mir: „In Abhängigkeit der individuellen Konstellation könnte es zu einer Großschadenslage kommen. Es wäre mit dem Auftreten nicht nur von Verbrennungen, sondern auch von sogenannten thermomechanischen Kombinationstraumata zu rechnen. Das Verletzungsausmaß kann sehr variabel sein und von kleinflächigen Verbrennungen bis hin zu schweren großflächigen Verbrennungen und schwersten und lebensbedrohlichen Begleitverletzungen an Organen und Bewegungsapparat reichen.“ Und das BKA warnt: „Anschläge auf den Zugverkehr scheinen in den Gedankenspielen dschihadistischer Gruppierungen einen immer größeren Platz einzunehmen. Nicht zuletzt aufgrund des möglichen hohen Schadenspotenzials kommen Gefahrguttransporte als potenzielle Anschlagsziele islamistischer Gruppierungen grundsätzlich in Betracht. Besondere Aufmerksamkeit verlangen Gefahrguttransporte, die insbesondere auf dem Transportweg Schiene hoch toxische oder auch leicht entzündliche Chemikalien in relevanten Umfängen durch teilweise dicht besiedelte Gebiete transportieren.“
Unterdessen gelingt es mir, den Umweltbericht der Stadt Köln zu dem Bauprojekt einzusehen. Darin heißt es, an dieser Stelle fänden lediglich „gelegentlich“ Gefahrguttransporte statt. Daher sei „bei Einhaltung der notwendigen Sicherungsmaßnahmen von keiner Gefährdung des Menschen auszugehen.“
Ich will wissen, was mit „gelegentlich“ gemeint ist – und hake beim Betreiber der Industriebahnlinie, der Häfen und Güterverkehr Köln AG (HGK), nach. Auch dort gibt man sich zunächst zugeknöpft. Da die HGK jedoch ein Tochterunternehmen der kommunalen Stadtwerke ist, weise ich auch diesmal auf die Auskunftspflicht gegenüber der Presse hin. Endlich erhalte ich konkrete Fakten: Demnach werden auf dieser Strecke jährlich bis zu 200.000 Tonnen Wirbelschichtbraunkohle transportiert. Eine Umrechnung der Menge ergibt: Es geht um mehrere Gefahrguttransporte pro Tag, Sonn- und Feiertage eingeschlossen. Weshalb hat das Baudezernat der Stadt Köln hier nicht ebenfalls genau nachgefragt, bevor es die Baugenehmigung erteilte?
Fazit
Ein heikles Thema – mit vielen Facetten. Die darin enthaltenen Aspekte sind beispielhaft für zahlreiche ähnliche fachjournalistische Storys: Gut oder schlecht, Vorzeigeprojekt oder (Umwelt-)Skandal – was trifft zu? Diese und weitere Fragen verlangen, wie so oft in solchen Fällen, nach ebenso geduldigen wie tiefgründigen Recherchen, harten Fakten und einer anschließenden differenzierten Betrachtungsweise. Es ist, als würde man einen nachtdunklen Raum nach und nach von allen Seiten beleuchten. Und was tun, wenn alle Beteiligten eisern mauern? Auch darauf kann es nur eine Antwort geben: dranbleiben!
Erfahren Sie in Kürze im zweiten Teil unserer Miniserie „Recherchestrategien“ mehr über die „goldenen Regeln“, mit deren Hilfe sich selbst hartnäckige Nachrichtensperren bei heiklen Themen gekonnt umschiffen lassen – und wie dabei brauchbare Informationen für eine solide Story ans Licht kommen.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Der Autor Uwe Herzog ist Fachjournalist für Innovationen, Design und Lifestyle. Er war langjähriger Autor der ARD und Nachrichtenredakteur bei Privatsendern wie Radio ffn und Radio Victoria. Darüber hinaus ist der ehemalige Mitarbeiter von Günter Wallraff Koautor zweier investigativer Sachbücher über Innere Sicherheit. Derzeit arbeitet Uwe Herzog an einem Buch über Ethik in der journalistischen Praxis.