RSS-Feed

Der Duft des Irak: Ein Twitter-Roman mit Tiefgang

Rezension zu „Der Geschmack von Aprikoseneis. Le parfum d'Irak“ (2023)

Feurat Alani ist französischer Autor und Journalist mit irakischen Wurzeln. Als Neunjähriger besucht er den Irak zum ersten Mal. Die Heimat seiner Eltern übt eine große Faszination auf ihn aus und so kehrt er auch später immer wieder dorthin zurück. Als Journalist berichtet er von dem zerrissenen Land und dessen verlorener Identität. Sein Buch „Der Geschmack von Aprikoseneis“ ist eine Hommage an Land und Leute und zugleich eine in 1.000 Tweets erzählte Analyse der irakischen Vergangenheit.

Von 2003 bis 2013 berichtete der französisch-irakische Autor Feurat Alani als Nachrichtenreporter aus Bagdad über den Irak, laut Ranking von Transparency International (2022) eines der 25 korruptesten Länder der Welt und im Korruptionswahrnehmungsindex auf Platz 157 von insgesamt 180 Ländern. Er informierte über das Gefangenenlager von Abu Ghraib, die Blackwater-Morde oder den Aufstieg des Islamischen Staats.

Welchen Gefahren Alani und seine Kolleg:innen während ihrer journalistischen Tätigkeit ausgesetzt waren, wird schon an der Widmung seines 2018 in französischer Sprache publizierten und 2023 in deutscher Übersetzung erschienenen illustrierten „Twitter-Romans“ ersichtlich: Der Journalist und Autor widmet seinen Text dem aus Falludscha stammenden Freund, dem Kameramann Yasser Faysal Al-Joumaili. Al-Joumaili wurde im Dezember 2013 von der Al-Qaida-Organisation „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) entführt und wenig später in Idlib, Syrien, hingerichtet. Doch zurück zur Geschichte des Buches.

Reise ins Unbekannte

Im Alter von neun Jahren, 1989, besucht der Autor zum ersten Mal das Land seiner Eltern, den Irak. Die Städte Bagdad, Falludscha und Mossul graben sich tief in die Erinnerung des in Frankreich aufgewachsenen Alani ein. Er ist überrascht von der ungekannten Gastfreundschaft, isst das beste Eis seines Lebens und verlebt einen unvergesslichen Sommer in der Heimat von Vater und Mutter. Allerdings darf der Name Saddam Hussein öffentlich nicht laut ausgesprochen werden. Als die kleine Schwester von Feurat, die das Verbot fälschlicherweise als Spiel auffasst, den Namen auf einer Straße in Bagdad schreit, ist seine Cousine außer sich vor Wut. Da begreift der Junge den Ernst der Lage.

„Niemals den Namen von Saddam aussprechen“: Der französische Autor und Schriftsteller Feurat Alani beschreibt in seinem preisgekrönten Twitter-Roman „Der Geschmack von Aprikoseneis“ in Textminiaturen seine Erinnerungen als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener an den Irak, der Heimat seiner Eltern. (Buchauszug / Einzelseite, dt. Übersetzung 2023 © Karl Rauch Verlag)

Zurück in Paris bittet eine Lehrerin Feurat, einen Vortrag über seine Reise zu halten. „Alle sind von meiner Beschreibung überrascht. Ein modernes Land, ganz anders als die Klischees, die auch ich dazu im Kopf hatte.“ Als Saddam Hussein einige Monate danach in Kuweit einmarschiert und Bagdad von den Amerikanern bombardiert wird, hofft der junge Alani auf die Solidarität seiner Mitschüler:innen. Doch er wird enttäuscht. „Die Amerikaner haben euch gefickt!“, so einer seiner Freunde. Zum ersten Mal in seinem Leben prügelt sich Feurat aus politischen Gründen. Drei Jahre später reist die Familie erneut in den Irak, auch diesmal ohne den Vater, der als Regimekritiker Repressalien zu befürchten hat und unter Hussein einst für zwei Monate im Gefängnis Qassar Al Nihaya interniert war.

Die irakische Bevölkerung hat unter dem am 6. August 1990 verhängtem Wirtschaftsembargo stark zu leiden. Cousin Ziad hat einen Herzfehler und bräuchte dringend eine Operation. Doch in einem Land, in dem es weder genug Spritzen noch ausreichend Medikamente gibt, ist daran nicht zu denken. „Erst jetzt wird mir klar, wie gut es mir in Frankreich geht, und dass die Prioritäten hier ganz andere sind. Ich fühle mich privilegiert. Und schuldig.“, erinnert sich der Autor im Buch an sein junges Ich. Besonders im Gedächtnis bleibt jedoch eine andere Szene: Feurat, der Marken-Sneaker und -T-Shirt trägt, wird von einigen Kindern und Jugendlichen umringt. Sie staunen über seine Kleidung, denn Reeboks sind wegen des Embargos schwer zu bekommen und nahezu unbezahlbar. Der Älteste bietet dem damals Zwölfjährigen einen Tausch an: „Mein Auto gegen deine Schuhe.“

Das Land verändert sich. Saddam Hussein wird offener kritisiert, der religiöse Eifer hat zugenommen. Als 1994 der Machthaber den einstigen Oppositionellen erlaubt, ins Land zurückzukehren, reist die Familie erstmals mit dem Vater in den Irak. An der jordanischen Grenze wird das Auto von den Mukhabarat gefilzt … Feurat beleidigt während der Wartezeit ungewollt einen der Beamten schwer, als er diesem seine Fußsohle zuwendet.

Die Szene, die der Autor in seinem Buch „Der Geschmack von Aprikoseneis“ beschreibt, geht unter die Haut. Doch noch beängstigender wirkt diese Situation in der auf dem Buch basierenden 20-teiligen Animationsserie „Fremde Heimat Irak“ von Léonard Cohen. Die mehrfach prämierte Sendereihe fasst die Geschichte von Feurat Alani in beeindruckenden Bildern zusammen und macht die Bedrohungslage fast körperlich spürbar.

Text und Bild: eindrucksvoll verdichtet

Alani erzählt in seinem eindrucksvoll verdichteten Twitter-Roman, der mit dem renommierten Albert-Londres-Preis (Sparte Buch) ausgezeichnet wurde, seine eng mit dem Irak verwobene Lebensgeschichte. Der Text, der aus 1.000 Tweets à 140 Zeichen besteht, umspannt einen Zeitraum von rund 20 Jahren. Er beginnt mit dem ersten Besuch der Städte Bagdad, Falludscha und Mossul als neunjähriger Junge, fährt fort mit den späteren Reisen ins Land seiner Familie als Jugendlicher und endet mit seiner Arbeit als erwachsener Journalist.

Die farbigen und flächig gestalteten Illustrationen des französischen Comic-Künstlers und Animationsfilmers Léonard Cohen schaffen nicht nur einen künstlerischen Mehrwert, sondern verstärken die ohnehin eindrucksvollen Textminiaturen in ihrer stark reduzierten Ausdrucksform. Unterbrochen wird diese holzschnittartige Gestaltung jedoch immer wieder durch detailliertere Abbildungen, bei denen auch einzelne Falten in den Gesichtern der Beteiligten sichtbar werden. Auf den letzten Seiten des Buches finden sich zudem nicht nur eine fürs bessere Verständnis wichtige Chronologie der Ereignisse im Irak, sondern auch eine Doppelseite aus dem Storyboard von Cohens Animationsserie.

In den 1000 Tweets erzählt Alani von seiner irakischen Familie. Er berichtet über die Auswirkungen des Embargos, die Skandale, über Krieg und Bombardierungen. So zeigt er die unaufhaltsame Veränderung des geliebten Landes, das sich im Laufe der Lektüre vom Sehnsuchtsort seiner Kindheit zu einem Staat ohne Identität entwickelt. In den durchnummerierten Dreizeilern – auf Seitenangaben verzichtet das Buch – dokumentiert der Autor seine Beobachtungen als Kind und als Erwachsener: Scharfsichtig und klar formuliert nimmt er die Leser:innen mit auf eine gleichermaßen abenteuerliche wie traurig-schöne Reise, die den Niedergang des Iraks nachvollziehbar macht.

Volontariat im Kriegsgebiet

Alanis Wunsch, Journalist zu werden und über den Irak zu schreiben, entstand aufgrund der vielen Tragödien und Skandale, die das Land erschütterten, wie er im Buch schreibt. Allen voran jener um Frankreichs Ex-Innenminister Charles Pasqua und die erhoffte Lockerung des Embargos. Als am 20. März 2003 die ersten Bomben auf Bagdad fallen und der Irakkrieg beginnt – der zur Eroberung der Hauptstadt und zum Sturz des damaligen Diktators Saddam Hussein führt –, besucht Alani noch die Journalistenschule in Frankreich. Wenige Tage später sieht die Familie im Fernsehsender Al Jazeera verstörende Berichte aus der Stadt Basra: „Die Kamera zoomt auf ein Krankenhaus, das von amerikanischen Raketen zerstört wurde. Verkohlte Kinderleichen zwischen Ruinen. Ungefiltert. (…) Meine Mutter weint. Mein Vater ist ganz still.“

Schnell steht der Entschluss fest: Alani will nach Bagdad. In der Schule rät man ihm zu einem Volontariat. Der Student bespricht sich mit dem Schulleiter und stellt fest: „Ich mache mein Volontariat in Bagdad oder nirgends.“ In der Stadt angekommen wohnt er bei seiner Tante Soumaya, im ehemals schicken Viertel Mansour. Der Gärtner des Hauses, Hussein, wird nicht nur zu einer verlässlichen Quelle und sein „Fixer“, also sein Informant und Kontaktmann vor Ort, sondern auch zu einem Freund. „So entstehen ganz nebenher meine ersten Reportagen, aus dem Alltag meiner Familie heraus. Mit den Irakern in Kontakt kommen. Sie verstehen.“, schreibt Alani.

Falludscha und die Folgen

Nach der Bombardierung von Falludscha im November 2004 erzählen die Einheimischen dem jungen Journalisten von einer Verfärbung des Himmels. Alani notiert sich „weißer Phosphor“ und „orangefarbener Himmel“. Auf diese Notizen wird er später zurückkommen.

Ab dem Tweet Nummer 952 berichtet der Autor davon, dass es seit der Schlacht um Falludscha auffällig viele Missbildungen bei Neugeborenen gäbe. Abu Yunis, ein ehemaliger irakischer Fußballspieler, zeigt Alani schreckliche Bilder. „Säuglinge mit verbogenen Beinen. Andere ohne Arme. Manche sogar ohne Augen. So was habe ich noch nie gesehen.“ Yunis zählt darauf, dass der Journalist und Freund der Sache nachgehen wird. „Du bist ein Sohn dieser Stadt, die Leute vertrauen dir. Mit dir werden die Familien sprechen.“ Denn das Thema ist ein Tabu. Missgebildete Kinder gelten im Irak als Schande.

Doch Alani weiß um die Verantwortung, die er nun trägt. 2011 produziert er den Dokumentarfilm „Irak: les enfants sacrifiés de Fallujah“ (dt.: „Iraq: Die geopferten Kinder von Falludscha“) und berichtet von den Schrecken der Kriegsverbrechen samt ihren Folgen.

Die gestohlene Zukunft

Alani verleiht in den 1.000 Tweets dem Land seiner Familie mitsamt seiner Bevölkerung eine unverwechselbare Stimme. Feurat, benannt nach dem Fluss Euphrat, der auf Arabisch al-Furat heißt, zeichnet ein liebevolles Bild der warmherzigen und offenen Iraker:innen.

Die langsame Auflösung der irakischen Identität, die Alani im Buch als verschwunden bezeichnet, beschreibt er unter anderem in seinen Artikeln, die in verschiedenen Zeitungen erscheinen. So erzählt er in einem Beitrag, erschienen in Le Monde diplomatique (2020), von der Wut der Jugendlichen in Bagdad und deren gestohlener Zukunft oder er schreibt über den Verlust der Identität in der Washington Post (2023).

Fazit

Feurat Alani beschreibt in seinen dreizeiligen Textminiaturen den Zustand des Iraks und lässt die Leser:innen an seinen schönen Erinnerungen ebenso teilhaben wie an den schrecklichen. Der klug gewählte Blickwinkel schafft eine spannende Perspektive: So verändert sich der unverstellte Blick des französischen Kindes unmerklich im Laufe der Lektüre in die Sicht eines verantwortungsvollen Erwachsenen, der die Veränderungen des zerrissenen Landes anhand der eigenen Familie von innen und von außen betrachten und (politisch) analysieren kann.

Das Buch wurde vom Karl Rauch Verlag übrigens nicht als Roman, sondern als Graphic Novel angekündigt und findet sich in den Buchhandlungen wohl in den dafür vorgesehenen Regalen. Der illustrierte Twitter-Roman ist eine Art Zwitterwesen und wehrt sich gegen eine klare Kategorisierung.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV)

Buchdaten:
Autor: Feurat Alani
Titel: Der Geschmack von Aprikoseneis. Le parfum d’Irak. Übersetzt von Annette von der Weppen.
Mit Illustrationen von Léonard Cohen.
Preis: Euro 24 € (D) und 24,70 € (A) (Klappenbroschur)
Umfang: 176 Seiten
Erscheinungsjahr: 2023 (übersetzt aus dem französischen Original, 2018)
Verlag: Karl Rauch Verlag
ISBN: 978-3-7920-0375-6

 

 

Der Autor Feurat Alani wurde als Sohn irakischer Eltern in Paris geboren. In Bagdad hat er als Korrespondent für die Sender I-Tele und Le Point sowie die Zeitungen Ouest France und La Croix gearbeitet. 2010 gründete er mit zwei Journalisten-Kollegen die Produktionsfirma Baozi Prod, wo er unter anderem den auf Festivals mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm „Irak: les enfants sacrifiés de Fallujah“ (2011) realisierte. Alani schreibt weiters für die Zeitung Le Monde Diplomatique und Geo. Seit 2012 lebt er in Dubai und hat dort die Produktionsagentur In Sight Films gegründet. Als Reporter und Produzent arbeitet er regelmäßig mit Arte, France 24 und Canal+ zusammen. Seine Erinnerungen an den Irak hat er in Hunderten Tweets festgehalten, die 2018 zu einer Graphic Novel und einer Webserie, „Le parfum d’Irak“, wurden. 2019 gewann das Buch den Albert-London-Buchpreis, den renommiertesten Journalistenpreis Frankreichs.

Der Illustrator Léonard Cohen hat an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs de Paris 2009 sein Masterstudium abgeschlossen. Im Jahr 2010 wurde sein Abschlussfilm „Plato“ auf unterschiedlichen Festivals gezeigt und mehrfach ausgezeichnet. Der Film erhielt den Preis für den besten Studenten-Kurzfilm sowie den Preis der Junior-Jury auf dem renommierten Internationalen Trickfilmfestival von Annecy. Cohen arbeitet freiberuflich und entwickelt vor allem Animationsprojekte.


Die Rezensentin Carola Leitner, Dr. phil., promovierte 2016 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet(e) als Buchhändlerin, Buchproduzentin, Lektorin und Reise- und Kulturjournalistin. Tätigkeit für den Residenz Verlag, Ueberreuter, Metro Verlag, die Tageszeitung Der Standard oder ORF.at. Sie unterrichtet Journalismus an der FH Wien der WKW sowie Verlagswesen an der Universität in Wien, wo sie derzeit lebt und arbeitet.

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar (bitte beachten Sie hierbei unsere Netiquette)