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Satellitenjournalismus: Recherchen aus dem All

Dass Journalisten und Journalistinnen ihre Recherchen und Geschichten auf Satellitenmaterial aufbauen, ist kein neuer Trend. Infolge des Ukraine-Kriegs könnte satellite journalism aber zu einer Mainstream-Anwendung werden. Wo man entsprechendes Material herbekommt, wie man es nutzen kann und welche Fallstricke damit verbunden sind, erläutern zwei Fachleute.

Wenn später einmal die Geschichte des Ukraine-Krieges in Bildern erzählt werden wird, dann werden diese Aufnahmen mit Sicherheit dabei sein: ein endlos langer russischer Militärkonvoi, der sich auf Kiew zubewegt, fotografiert von einem Satelliten der Firma Maxar Technologies.

Die Bilder sind omnipräsent. Sie dienen Experten in der Prime Time zur Analyse der russischen Aufmarschpläne, bebildern Headlines im Print, tauchen als Hintergrundgrafik in den Talkshows auf und prägen, neben den Handyfilmen aus den ukrainischen Städten, unser Bild von diesem Krieg.

Spätestens diese breite Aufmerksamkeit macht Satellitenaufnahmen zunehmend zur interessanten Quelle, sowohl für die Tagesarbeit als auch für umfangreiche, große Rechercheprojekte. Doch woher bekommen Presseangehörige solches Material und zu welchen Konditionen? Wie arbeitet man damit und worauf muss man achten?

Marcus Pfeil, Journalist und Medienunternehmer, hat langjährige Erfahrung in diesem Bereich. Er selbst verwendet allerdings, anstelle von Satellitenjournalismus, lieber die Begriffe Remote Sensing oder Fernerkundungs-Analyse. „Im Grunde ist das eine Teildisziplin von Open Source Intelligence (OSINT). Es geht dabei um Recherchen, die das Netz und neue Technologien nutzen. Und dazu gehört neben der umfassenden Analyse von Social Media auch die Analyse von Satelliten- und Radardaten“, sagt Pfeil. Eingesetzt hat er Sensoren und GPS unter anderem bei der preisgekrönten Datenjournalismus-Produktion „Superkühe – und beim GPS-Projekt „Was passiert mit meinem Schrottfernseher?

Bei Letzterem, einer – wenn man so will: satellitengestützten – Reportage für den NDR und DIE ZEIT, hatte Pfeil 2013 die Reise entsorgter TV-Geräte mittels GPS-Sender verfolgt, bis zu den Schrottplätzen in Ghana. „Dort basteln dann Kinder das Kupfer aus dem Elektroschrott. Durch die giftigen Dämpfe haben die oft nur eine Lebenserwartung von etwa 25 Jahren“, erinnert sich der Investigativjournalist. Mithilfe des GPS-Trackings hatten er und sein Team damals zeigen können, dass bis zu 13 Parteien an einem alten TV-Gerät mitverdienen, bevor es von ihm und seinen Mitarbeitern im Norden von Ghana für 100 Dollar zurückgekauft wurde.

Satellitenbilder: Recherche mit Abstand

Inzwischen liefern mehr als 4.000 Satelliten Daten aus dem All, zu fallenden Preisen oder sogar kostenfrei. „Was früher James Bond oder den Geheimdiensten vorbehalten war, können und sollen nun auch Journalisten oder NGOs nutzen können“, freut sich der Medienunternehmer. Trotzdem sei die journalistische Verwendung des Materials im Detail durchaus noch recht komplex. Daher möchte er mit seinem neuen Start-up Vertical52 zukünftig journalistisch Tätige bei ihrer Arbeit mit Satellitenmaterial unterstützen. Nach wie vor will er aber auch selbst Recherchen durchführen, Geschichten veröffentlichen und Fortbildungen anbieten.

Für führend auf dem Gebiet der Satelliten- und Remote-Recherche hält Pfeil die Kolleginnen und Kollegen von der Rechercheplattform Bellingcat. Das ist ein unabhängiges Investigativ-Netzwerk, das sich als Non-Profit-Organisation durch Spenden, Stiftungsförderungen und Workshops für journalistisch Tätige finanziert. Im Unterschied zu Vertical52 ist Bellingcat aber kein Dienstleister für Journalistinnen und Journalisten. Zudem sei man, so Johanna Wild, Team Lead Tech bei Bellingcat, „potenziell eher überbeschäftigt“, aber trotzdem offen für Kooperationen und gemeinsame Projekte.

Auch Wild nutzt bei ihren Open-Source-Recherchen Satellitenbilder: „Ich komme eigentlich aus dem Lokaljournalismus und habe dann mehrere Jahre lang journalistisch in Konflikt- und Post-Konflikt-Gebieten gearbeitet. Das hat mich zu Open-Source-Recherchen geführt, weil man – aus Sicherheits- oder Budgetgründen – ja oft nicht physisch an solche Orte gelangen kann.“ Sie beobachtet, dass journalistisch zwar immer öfter mit Satellitenbildern experimentiert wird, diese dann aber doch oft nur zu Dekorationszwecken eingesetzt werden, etwa als zusätzliches Bildmaterial. „Die Bilder werden dann nicht wirklich analysiert und erklärt und spielen keine tragende Rolle. Da wird oft Potenzial verschenkt – und das ist schade“, bedauert sie.

Viele Herausforderungen

Bei der sach- und fachgerechten Nutzung von Satellitenbildern stellen sich einige inhaltliche und technische Herausforderungen – besonders für Neulinge.

Anders als eine klassische Recherche bleiben Geschichten, die rein auf Satellitenmaterial aufbauen und ohne ground research, also die Verifizierung unten vor Ort, auskommen müssen, mit einem Rest Unsicherheit behaftet. Das sieht auch Marcus Pfeil so und räumt ein: „Man gelangt zwar per Remote Sensing an schwer zugängliche Orte, etwa nach Nordkorea oder ins Umfeld eines chinesischen Zwangslagers für Uiguren, aber es bleibt immer ein Restrisiko, dass falsche Schlüsse gezogen werden.“

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der technischen Beurteilung der Daten. Weil es sehr viele verschiedene Satelliten gibt, funktionieren auch deren Aufzeichnungsverfahren unterschiedlich. Das betrifft unter anderem die Frequenz und Taktung der Aufnahmen, also die Häufigkeit, in der der Satellit am Zielgebiet vorbeikommt. Das betrifft aber auch die Auflösung der Bilder.

Johanna Wild von Bellingcat glaubt, dass man sowohl sehr komplex als auch sehr einfach mit Satellitenmaterial arbeiten kann, und nennt Beispiele für beide Vorgehensweisen.

Komplex könne es werden, wenn, wie in der Umweltberichterstattung, mit verschiedenen Indizes,  Bandkombinationen und Filtern gearbeitet wird. So lassen sich zum Beispiel die Verläufe verschiedener Vegetationstypen nachverfolgen und analysieren oder die wechselnden Feuchtigkeits- und Trockenheitsgrade einer Umgebung.

Man kann beim Einsatz von Satellitenmaterial aber auch einfacher vorgehen, etwa bei der sogenannten Geolocation – ein auch bei Bellingcat oft angewendetes Verfahren (s. Abb. unten). Dabei sucht man zunächst im Internet oder in den sozialen Medien gezielt nach Fotos und Videos zu bestimmten Ereignissen und Themen. Diese überprüft man dann auf Details, die sich besonders gut von oben, aus der Satellitenperspektive, erkennen lassen. Das können Gebäude, Straßen, sogar Markierungen auf Straßen sein. „Wir ziehen dann die Satellitenaufnahmen hinzu, um diese Details darin wiederzuerkennen. So kann man Orte identifizieren und Zusammenhänge verifizieren. Dabei geht es oft um Vorgänge in Konfliktgebieten, jetzt etwa im Ukraine-Krieg“, schildert Wild.

Abb.: Ein Beispiel für Bellingcats Einsatz von Geolocation. Als Open Source-Quellen dienten hier Fotos von einem Twitter Account, sowie Aufnahmen von Google und vom Deutschen Fernmeldesatelliten Kopernikus. © Bellingcat. Bild 1, links: Auf einem Foto auf Twitter wurde eine in eine Straße in Charkiw eingeschlagene Rakete identifiziert. Bild 2, o. r.: Mit Hilfe einer Aufnahme von Google wurde die Straße, in die die Rakete einschlug, lokalisiert. Bild 3, u. r.: Durch Auswertung einer Satellitenaufnahme von Kopernikus wurden Flugbahn und Reichweite der Rakete und so der Abschuss aus russischem Gebiet rekonstruiert. (Image credit: Google/Copernicus).

Die Quellen der Bilder – von kostenlos bis teuer

Welche Quellen stehen zu welchen Konditionen zur Verfügung? Ist der Einsatz von Satellitenaufnahmen per se ein Kostentreiber für ein journalistisches Projekt?

Als Non-Profit-Organisation verfügt auch Bellingcat nicht über große Etats. Deshalb nutzt das Netzwerk, wo immer möglich, frei zugängliche Satellitenbilder. Wichtigstes Instrument sei Google Earth pro, das Endnutzer inzwischen komplett kostenfrei auf den Computer laden können. „Die Lösung beinhaltet oft relativ gut aufgelöste Satellitenbilder von fast allen Orten der Welt. Zu größeren Städten gibt es meist auch aktuelleres Bildmaterial. Aber man muss natürlich mit den Aufnahmen arbeiten, die da sind, und die werden nicht gerade wöchentlich aktualisiert“, räumt Johanna Wild ein. Trotz des knappen Budgets hat Bellingcat nun erstmals ein Abo für Satellitenbilder erworben, und zwar bei Planet Labs, einem Unternehmen, das selbst Satelliten betreibt und diese für seine Kunden an bestimmte Orte schickt.

Wer eher in der Umweltberichterstattung unterwegs ist und zum Beispiel Aufnahmen von sich ändernden Wasserständen in Seen und Flüssen oder von der Ausdehnung bestimmter Wälder braucht, der ist bei Sentinel Hub gut aufgehoben. Sentinel ist eine Initiative der europäischen Weltraumbehörde ESA, die darüber Aufnahmen des Kopernikus-Satelliten anbietet. Dort werden jede Woche neue kostenfreie Aufnahmen bereitgestellt. Allerdings sei die Auflösung bei allen Bildern relativ niedrig, berichtet Wild. Noch spezieller ist das Angebot von Global Forest Watch. Auch dort lassen sich kostenfrei Bilder und sogar Analysen zur Entwicklung des globalen Waldbestandes abrufen.

Zu besonderen Anlässen, wie jetzt zum Ukraine-Krieg, stellen einige Unternehmen auch anlassbezogenes kostenfreies Material auf ihre Websites.

Was aber tun, wenn man ganz bestimmte Bilder für sehr spezielle Recherchen benötigt? Das kann dann allerdings wirklich sehr schnell sehr teuer werden; Preise von bis zu 1.000 Euro pro Bild oder mehr seien dann nicht selten, räumt Wild ein.

Sie empfiehlt Presseangehörigen in solchen Fällen, die jeweiligen Anbieterfirmen anzuschreiben und auf die journalistische Nutzung des Bildes hinzuweisen. Es gäbe Firmen, die das Material in diesem Sonderfall kostenfrei abgeben. „Die Firma Planet Labs etwa hat einen Ansprechpartner für solche Fälle“, weiß die Recherche-Spezialistin.

Der Einstieg für Neulinge

Wie können Journalisten niedrigschwellig in die Arbeit mit Satellitenmaterial einsteigen?

Grundsätzlich plädiert Johanna Wild dafür, Satellitenbilder möglichst vielfältig einzusetzen. Das heißt: nicht nur bei großen, internationalen, investigativen Geschichten aus Kriegs- und Krisengebieten, sondern auch bei kleineren lokaljournalistischen Projekten.

„Lokaljournalisten – so steige ich übrigens auch bei meinen Fortbildungen oft in das Thema ein – könnten sich zunächst einmal Material zu ihrem Berichtsgebiet ansehen, etwa zu einem lokalen Bauprojekt, über das man vor Ort gar nicht so viele Informationen bekommen konnte“, empfiehlt Wild. Anhand des Materials könne man dann Entwicklungen über die Dauer mehrerer Jahre verfolgen. Typisch sind Fragestellungen wie etwa: Wo wurden Bäume gefällt? Vielleicht mehr als ursprünglich angekündigt? Wo entstanden neue Gebäudeteile? Wie hat sich das Gelände insgesamt entwickelt? Man solle dann auch einmal einen Abgleich mit den ursprünglichen Bauplänen vornehmen, um mögliche Abweichungen feststellen zu können.

So könne man niedrigschwellig in die Arbeit mit Satellitenmaterial einsteigen, oft mit Bildern, für die man nicht zahlen muss, und ohne allzu viel Zeit aufwenden zu müssen.

Marcus Pfeil ist Redakteur, Autor und Reporter, u. a. beim Handelsblatt, bei der ZEIT und bei der Berliner Zeitung, sowie Medienunternehmer mit Vertical52 und Chapter One. Er war an technologisch gestützten Recherchen und Geschichten beteiligt, wie etwa der preisgekrönten Datenjournalismus-Produktion Superkühe, oder dem GPS-Projekt Die GPS-Jagd! Was passiert mit meinem Schrottfernseher?

 

 

 

Johanna Wild ist Open-Source-Journalistin und leitet beim Recherchenetzwerk Bellingcat das Investigative Tech Team. Ihr Team ist auf datenintensive Recherchen spezialisiert und entwickelt Tools für die Online-Recherche, zum Teil auch gemeinsam mit Freiwilligen aus der Tech-Community. Twitter: @Johanna_Wild

 

 

 

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

© Eberhard Kehrer

Der Autor Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino. Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.

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