Schwarm-Recherche – der Bürger als Informant
Der einsam recherchierende Journalist, der von der Pressekonferenz zum Kaffee mit einem Informanten hetzt, dazwischen dauertelefoniert und dabei auf einen Termin beim Bürgermeister wartet – solche Szenen sind ikonografisch. Wir kennen sie aus Netflix-Serien und Kriminalromanen. Tatsächlich werden heute aber große Themen-Recherchen, die auf einer großen Datenmenge basieren und zahlreiche O-Töne verlangen, gerne auch outgesourct – an die Crowd, also an die Leserschaft und andere Interessierte. Große Crowd-Recherchen haben die Lüneburger Landeszeitung mit „Wem gehört Lüneburg?“ und der Berliner Tagesspiegel mit seinem „Radmesser“ realisiert. Die beiden Fallbeispiele zeigen, wie aufwendig und komplex, aber auch, wie journalistisch ergiebig und wie publikumswirksam solche Kollaborationen zwischen Redaktion und Publikum sein können.
Wem gehört Lüneburg?
Marc Rath, Chefredakteur der Lüneburger Landeszeitung (LZ; Auflage 25.280 Exemplare), schwärmt noch immer vom Sommer 2019. Damals hatte seine Redaktion zwei Monate lang Lüneburg auf die Beine gebracht, mit Infoständen in der Fußgängerzone, Slogans auf dem Straßenpflaster, einer Radtour und einem Volkslauf. Mit solchen Aktionen warb die Landeszeitung um Mitstreitende für ihr Zeitungsprojekt „Wem gehört Lüneburg?“. „Das war Journalismus auf Augenhöhe“, erinnert sich Rath begeistert und fügt hinzu: „Wir haben da ein neues Verhältnis zwischen Berichterstattenden und Publikum erprobt.“
Begonnen hatte die Reise Ende 2018. Damals suchte die gemeinnützige Plattform correctiv nach Zeitungen als Partner für ihr Recherche-Projekt „Wem gehört die Stadt?“. Ziel war eine umfassende Dokumentation der tatsächlichen Besitzverhältnisse auf den Wohnungsmärkten großer Städte, datengetrieben und unter Einbeziehung der Mietparteien und der Vermieterseite.
„Um den Jahreswechsel saßen wir hier in der Redaktion zusammen und fragten uns: Wollen wir da nicht mitmachen? Unglaublicherweise kamen exakt zu der Zeit Astrid Csuraji und Jakob Vicari, die Köpfe der Lüneburger Innovationsagentur tactile.news, auf uns zu und fragten: ,Wollen wir da nicht gemeinsam mitmachen?‘ “, erinnert sich Chefredakteur Rath. Sie wollten. Und so stieg neben dem Berliner Tagesspiegel, dem Hamburger Abendblatt und der Düsseldorfer Rheinische Post auch die Lüneburger Landeszeitung in das Projekt mit ein.
„Lokaljournalist*innen tragen so eine Art Arbeitskorsett mit sich herum. Sie schauen zuerst auf die traditionellen lokalen Strukturen, Gremien, Hierarchien“, ist sich Rath sicher. Meistens gehe man erst einmal zum Bürgermeister, zu den Stadtratssitzungen, zu den Fraktionssitzungen, zu den Pressekonferenzen. Meistens würde zunächst gefragt: „Wer äußert sich wie?“, beschreibt Rath den konventionellen Ablauf einer Lokalrecherche. Genau das wollte man dieses Mal aber anders machen.
Dazu brauchte es allerdings den Impuls von außen, in dem Fall von tactile.news. „tactile.news sind kreative Querdenker im besten Sinne – der Begriff ist ja inzwischen leider kontaminiert worden. Sie sind mit einem lokalem Blick unterwegs, aber halt nicht mit dem üblichen Blick von Lokaljournalist*innen, wie wir es sind“, lobt Rath.
Die LZ-Redaktion traf sich dann zunächst mit Justus von Daniels, Chefredakteur Wohnungsmarkt bei correctiv, und mit dem Datenjournalisten Björn Schwentker. Die machten ein Team der Zeitung fit in Sachen Datenjournalismus. Dann zogen sich Mitglieder aus Redaktion, Marketing und Online mit tactile.news für zwei Tage zurück und entwickelten in sogenannten „Ideensprints“ verschiedene Kampagnen-Formate, um die Bürger und Bürgerinnen anzusprechen und in die Recherche für „Wem gehört Lüneburg?“ einzubeziehen.
Ab März 2019 lief eine zweimonatige öffentliche Kampagne in der Stadt. Ziel war, möglichst viele Mietparteien für eine Offenlegung ihrer Mietverträge gegenüber dem Rechercheteam zu gewinnen. Auf der Website der LZ gab es eine Eingabemaske, in die man seine Daten selbst eingeben konnte. Die Daten wurden aggregiert und ausgewertet, um valide Aussagen über den Lüneburger Mietmarkt machen zu können und ein genaueres Bild von den tatsächlichen Besitzverhältnissen zu erhalten.
Insgesamt gab es 304 Teilnehmende, die den Online-Fragebogen ausfüllten. 265 der Einträge konnten verifiziert werden. Sie kamen zu fast gleichen Teilen von der Mieter- und der Vermieterseite aus der ganzen Stadt Lüneburg.
Neben dem journalistischen Output ging es der Redaktion vor allem um eine neue Arbeitsweise. Sie baute sich über das Projekt einen Instrumentenkasten auf und sammelte Erfahrungen, wie man auf neuen Wegen zu Geschichten kommen und diese auch anders erzählen kann.
Sind Folgeprojekte geplant, mit diesem „Journalismus auf Augenhöhe“? „Da kam uns jetzt erst mal Corona dazwischen“, bedauert Marc Rath. Aber natürlich will er die neu gewonnenen Möglichkeiten weiterhin nutzen.
In der Diskussion ist bei der LZ gerade ein Einsatz der Software 100eyes. Damit kann man einen vorab zusammengestellten Personenkreis schnell zu geplanten Themenprojekten befragen. 100eyes lässt sich in Telegram, Whatsapp oder in E-Mails einbinden. Verlage können eine Nutzungslizenz plus Service einkaufen. Rath denkt beim Einsatz des Tools besonders an die wachsende Gruppe der Berufspendelnden, die im Raum Lüneburg leben, aber in Hamburg arbeiten und die die LZ gerne näher kennenlernen würde.
Marc Rath ist seit drei Jahren Chefredakteur der Lüneburger Landeszeitung. 2017, damals noch als Koordinator der Lokalredaktionen und Mitglied der Chefredaktion der Magdeburger Volksstimme, wurde er vom Medium Magazin als „Journalist des Jahres“ in der Kategorie „Reporter regional“ ausgezeichnet. Für seine investigativen Recherchen zum Stendaler Wahlskandal gewann er 2015 den 3. Platz beim renommierten Wächterpreis.
Der Radmesser des Tagesspiegel aus Berlin
Auch der Berliner Tagesspiegel hat an dem Projekt „Wem gehört die Stadt?“ teilgenommen und dabei Erfahrungen mit Tools der Crowdrecherche gesammelt. Etwa mit dem CrowdNewsroom von correctiv, einem Instrument, mit dem man strukturiert Daten aus Communities einsammeln und analysieren kann, unter Wahrung des Datenschutzes. Das Instrument war unter anderem mit einer Förderung der Google News Initiative entwickelt worden. Allerdings startete man im Tagesspiegel-Verlagshaus am Anhalter Bahnhof parallel zu „Wem gehört Berlin?“ gleich auch noch ein zweites Projekt in Sachen Datenjournalismus und Crowd-Recherche: den Tagesspiegel–Radmesser.
Hendrik Lehmann, Leiter des Tagesspiegel Innovation Lab, einer Querschnitt Redaktion, die selbst Geschichten macht und eng mit Lokal-, Politik- und Wissenschaftsredaktion zusammenarbeitet, kannte ähnliche Recherche-Projekte bereits aus den USA. „Die laufen dort unter dem Begriff des Crowd Journalism. Ein bekanntes Beispiel ist eine Recherche der gemeinnützigen journalistischen Plattform ProPublica. Diese hat so herausgefunden, wie oft Apotheken miteinander unverträgliche Medikamente an ihre Kunden abgeben“, berichtet Lehmann. Inzwischen gibt es auch in Deutschland eine Szene von Presseleuten, die Crowd Journalism umsetzen. So veranstaltet Lehmann mit Kolleginnen und Kollegen die jährliche Konferenz „Journalismus der Dinge“. Die präsentierte zuletzt im März unter anderem ein Sensor-Projekt der Stuttgarter Zeitung zur Feinstaubmessung in Stuttgart und eines vom WDR zum Leben in Bienenstöcken.
Beim Radmesser kam der Impuls, wie bei der Lüneburger Landeszeitung, von außen. In diesem Fall waren es die Physiker Michael Gegg und David Meidinger, die die Idee an die Redaktion herangetragen hatten, die Abstände beim Überholen von Fahrradfahrenden im Berliner Straßenverkehr zu recherchieren. Geggs Schwester beschäftigte es permanent, dass sie als Radfahrerin zu oft mit zu wenig Abstand von motorisierten Verkehrsteilnehmenden überholt wurde. Dies ist ein alltägliches Problem für Tausende von Fahrradnutzenden in der Bundeshauptstadt.
„In der Kombination ,gute Leute im Haus und tolle neue Leute von außen‘ hat das Projekt funktioniert. Als Verlagshaus allein hätten wir das Experiment damals so nicht umsetzen können“, räumt Hendrik Lehmann ein. Deshalb wuden auch Fördermittel für den Radmesser beantragt. Diese kamen vom Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ), einer Einrichtung der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (mabb). Das MIZ förderte personelle Ressourcen in Form eines Stipendiums und übernahm einen Teil der Sachkosten. Der Tagesspiegel fungierte als Mitantragsteller und Medienpartner, wurde aber selbst nicht gefördert, wie Lehmann betont. Die Suche nach solchen Fördertöpfen hält er für sehr empfehlenswert.
Die Technik hinter dem Projekt bestand aus einem Sensor, der am Rad der Teilnehmenden befestigt wurde und mit Ultraschall den Abstand zwischen Rad und überholendem Fahrzeug maß. Die so gewonnenen Messwerte wurden via Bluetooth an ein am Radlenker befestigtes Smartphone übertragen. Dieses protokollierte zudem den Ort des Überholvorgangs und den Streckenverlauf und machte ein Foto des überholenden Fahrzeugs. Die gesammelten Daten wurden nach der Fahrt über eine verschlüsselte Verbindung in eine gesicherte Datenbank hochgeladen. Dort wertete der von den beiden Physikern entwickelte Algorithmus die Ultraschall-Werte und die Fotos aus, immer unter Berücksichtigung des Datenschutzes.
Projektinteressierte und Teilnahmewillige fand das Team, indem es einen Bericht über eine erste Probefahrt im Tagesspiegel veröffentlichte und die Leserschaft zum Mitmachen aufrief. Etwa 5.000 Personen meldeten sich – rund die Hälfte wollte aktiv mitmachen. Ein Algorithmus ermittelte aus dieser Gruppe, möglichst repräsentativ nach Wohnort, Geschlecht, Alter, Fahrweise und Häufigkeit der Radnutzung verteilt, die 100 Teilnehmenden. Diese wurden dann eingeladen und in Workshops für die Recherche fit gemacht. „Es wurden insgesamt etwa 20 bis 30 ein- bis zweistündige Workshops mit den Projektteilnehmer*innen durchgeführt, um ihnen zu vermitteln, welche Ziele das Radmesser-Projekt hat oder auch nicht hat, wie die Technik funktioniert und was mit den Daten geschieht. Dann wurde gemeinsam die Technik an den Rädern installiert und getestet“, beschreibt Hendrik Lehmann das Setup der Crowd-Recherche.
Letztlich wurden während der zweimonatigen Messung 16.700 Überholmanöver auf einer Gesamtstrecke von 13.300 Kilometern erfasst und ausgewertet.
Dabei stand die Redaktion im ständigen Austausch mit den Teilnehmenden, half bei technischen Problemen und nahm neue Anregungen entgegen. „Wir wollten aber natürlich nicht nur blanke Messdaten, sondern auch Geschichten recherchieren. Das war uns ganz wichtig“, betont Innovation Lab-Leiter Lehmann. So entstanden auch Porträts von zwölf Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus zwölf Bezirken.
Mit dem großen Erfolg des Radmessers hatte beim Verlag anfangs niemand gerechnet. Und auch nicht damit, dass sich das Projekt als gelungene Bindungsmaßnahme für die Leserschaft erwies: Der Radmesser band die Berliner Radfahr- und Verkehrs-Community stärker an die Marke Tagesspiegel. Davon zeugt auch ein in der Folge entstandenes regelmässiges Meetup, bei dem sich Interessierte treffen und diskutieren. Umgekehrt profitierte die Zielgruppe von den Informationen, die die Radmesser-Recherche in die Diskussion über Verkehrssicherheit in Berlin eingespeist hat.
„Letztlich haben wir gemeinsam mit den Leser*innen ein Projekt realisiert und profitieren als Medienhaus noch heute davon. Die Leserschaft bekam einen sehr guten Eindruck von unserer Arbeit, auch von unseren Aufwänden und Mühen, bürgernahe Probleme zu recherchieren und ans Licht zu bringen“, sagt Lehmann und schaut mit einigem Stolz zurück – und gleichzeitig nach vorne: „Wir werden in jedem Fall auch in Zukunft wieder Projekte mit Beteiligung der Bürgerschaft und dem Einsatz von Sensoren machen.“
Hendrik Lehmann (35) leitet das Tagesspiegel Innovation Lab. Das Ressort ist für Datenjournalismus, Crowd-Recherchen und Visual Storytelling verantwortlich.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).
Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino. Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.