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Slow Journalism – eine Form des Fachjournalismus?

Push-Notifications beamen im Minutentakt Geschehnisse aus aller Welt auf unsere Smartphones. Der Slow Journalism setzt dazu ganz bewusst einen Kontrapunkt. Hier liegt der Fokus auf dem, „was wichtig ist, wenn sich der Staub wieder gelegt hat“, wie es Rob Orchard von Delayed Gratification formulierte. Das Magazin gehört mit Tortoise (beide UK), XXI (Frankreich) oder ProPublica (USA) zu den bekanntesten Slow-Journalism-Medien. Ziel des entschleunigten Journalismus ist, den Medienkonsument:innen hintergründige Analysen zu liefern, damit sie die Nachrichtenflut in einen größeren Kontext einordnen können. Um das leisten zu können, brauchen Journalist:innen eine langjährige Expertise.

Ramona Seitz beschäftigt sich als Vertreterin des Slow Journalism seit 2013 mit Ostafrika, insbesondere Tansania. Ihre Schwerpunkte: das koloniale Erbe von Tansania und Deutschland sowie Menschenrechte – zwei komplexe Themengebiete.

Sie reisen seit zehn Jahren regelmäßig nach Ostafrika und haben sich als Journalistin auf Tansania spezialisiert, dessen Festland Teil der deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika war. Woher rührt Ihr Interesse an Tansania?

Interessiert hat mich Ostafrika schon lange. 2013 war ich im Urlaub in Mwanza, der am Viktoriasee gelegenen Partnerstadt von Würzburg. Als ich 2016 einen Film über das 50-jährige Städtepartnerschaftsjubiläum gemacht habe, lernte ich einen Jungen mit Albinismus kennen, der in seiner Schule ganz toll integriert war. In den Auslandressorts deutscher Medien wurde damals nur über die Tötung von Menschen mit Albinismus (Persons with Albinism, PWA) in Tansania und andere Verbrechen an ihnen berichtet. Ich bin diesen schlimmen Geschichten nachgegangen, wollte aber auch positive Beispiele wie die des Schülers bekannt machen und die Bemühungen verschiedener Akteure beleuchten, die PWA zu unterstützen und ihre zu Situation verbessern. Daher habe ich eine tiefgründige journalistische Recherche dazu gestartet, von Anfang an konzipiert als Solutions Journalism.

Eignet sich Slow Journalism für fachjournalistische Themen besonders gut bzw. für welche Ressorts bietet er sich an?

Ich glaube, dass klassische Fachjournalist:innen im Grunde Slow Journalism betreiben – sie bezeichnen es nur nicht so. Denn sie sind über einen langen Zeitraum auf einem Gebiet tätig und daher sehr spezialisiert. Wenn jemand Medizin studiert hat und dann in diesem Bereich in den Wissenschaftsjournalismus geht, hat er oder sie möglicherweise gar nicht so eine andere Arbeitsweise als ich. Nur wer sich auskennt, kann qualitativ gut berichten. Wer fachfremd ist, sollte sich zumindest gut einlesen.

Ein Beispiel: Wenn Reisejournalist:innen über die Serengeti schreiben, sollten sie wissen, dass für die Einrichtung von Nationalparks oft dort ansässige Menschen vertrieben wurden. Oder dass die Tatsache, dass in vielen Ländern Afrikas ein Großteil der Menschen arm ist, mit Kolonialismus zu tun hat. Die Kolonisatoren haben meist auf fruchtbarem Land Plantagen errichtet, für die sie die dort lebenden Menschen auf oftmals karge Böden vertrieben haben. Es ist alles noch komplexer und – leider – ist in Deutschland fast unbekannt, dass auch die vergleichsweise kurze deutsche Kolonialzeit sehr brutal und grausam war.

Ist Slow Journalism – wie der Begriff nahelegt – immer langsam?

Überhaupt nicht. Den Text „Vier Tipps: Was tun bei Fake-News unterm Weihnachtsbaum“ habe ich beispielsweise binnen ein, zwei Tagen erstellt. Die Illustrationen hatte ich bereits im Jahr zuvor mit der Illustratorin Britta Wagner erarbeitet. Im Thema war ich drin, ich musste mich nur noch einmal kurz in meine eigene Slow-Journalism-Recherche einlesen. Das Interview mit der Verschwörungserzählungs-Expertin Katharina Nocun konnte ich dann in sehr kurzer Zeit vorbereiten.

Ein Vorteil von Slow Journalism ist, dass ich inzwischen zum Beispiel zu den Themen koloniales Erbe in Tansania oder Menschen mit Albinismus viele Key Stakeholder persönlich kenne. Es ist für mich meist leicht, ein Follow-up-Interview zu bekommen. Wenn Faktenchecks nötig sind, etwa wenn – wie leider jüngst wieder geschehen – mir Bildmaterial zugeschickt wird, das – Triggerwarnung – einen getöteten Menschen mit Albinismus zeigen könnte, weiß ich, wie und mit wem zusammen ich die Informationen überprüfen kann.

Was ist das Besondere an Ihrer Arbeitsweise?
Mir ist es wichtig, über einen langen Zeitraum tief in Themen einzutauchen, profund zu recherchieren und Faktenchecks zu machen. Ich verbinde in meiner Arbeit Slow Journalism mit einem konstruktiven Ansatz nach den Kriterien des Solutions Journalism. Nach einer jahrelangen Recherche überlege ich mir: Was sind die wichtigsten Punkte der Recherche und welche Bilder können das abbilden?

Ich arbeite gerne mit Graphic Journalism. Denn visuelles Storytelling erhöht die Aufmerksamkeit und Graphic-Journalism-Bilder transportieren wesentliche Inhalte. Vor Veröffentlichungen erarbeite ich gemeinsam mit Illustrator:innen entweder dokumentarische Illustrationen zu Schlüsselszenen der Recherche (siehe #MGNalbinism oder #gjheritagewalks mit dem tansanischen Comiczeichner Marco Tibasima). Oder wir erarbeiten Illustrationen, die meine Recherche in Bildern zusammenfassen, wie die Slow-Journalism-Recherche zu Verschwörungsmythen mit der Soziologin und Illustratorin Britta Wagner. Mit den Illustrationen oder Comiczeichnungen können wir uns auch an Ausstellungen beteiligen; ich präsentiere diese auch an Schulen und Universitäten.

Welche Eigenschaften brauchen Slow Journalist:innen?

Es braucht Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen.

Slow Journalismus braucht also Zeit, Recherchen können jahrelang dauern. Wie häufig publizieren Sie Texte – und wie sieht Ihre Arbeit aus?

Ich veröffentliche nicht regelmäßig Texte. Denn meine Art zu arbeiten verlangt, dass ich auch mal über Monate hinweg nur recherchiere. Und ich mache nebenher noch ein Zweitstudium in Medienkulturforschung. 2021/2022 habe ich außerdem wegen einer schweren Erkrankung pausieren müssen. Doch obwohl manchmal Monate zwischen meinen Veröffentlichungen liegen, habe ich eine Art Expertenstatus, denn es gibt kaum deutsche Journalist:innen vor Ort in Tansania. Deshalb kann ich nicht alle Anfragen bedienen, die ich bekomme, und musste zuletzt einiges absagen.

Das gesammelte Material verwerte ich mehrfach und auf verschiedenen Ausspielwegen. Bei manchen Recherchen arbeite ich daher multimedial und crossmedial. Ich veröffentliche das geschriebene Wort in Artikeln, drehe Videos für Social Media oder zum Einbetten in Online-Journalismus-Artikel. Ziel könnte auch ein Film sein oder, wie bei meiner Recherche #MGNalbinism, eine Multimedia Graphic Novel über die Situation von Menschen mit Albinismus in Tansania.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Unter anderem an einem Multimedia-Projekt über Menschen mit Albinismus in Tansania und einem Comics-Journalismus-Projekt zu kolonialem Erbe. Demnächst erscheint ein mit Marco Tibasima bearbeitetes Graphic-Journalism-Projekt auf Drawing the Times. Außerdem arbeite ich mit einigen freiberuflichen Kolleg:innen aus Tansania und Deutschland an einer „Postkarten-Ausstellung“, die wir an verschiedenen Orten zeigen werden – jeweils verbunden mit Lesung, Vortrag oder Filmvorführung mit anschließendem Q&A, Questions and Answers. Um diese Events zu organisieren, also die Recherchen zu den Menschen zu bringen in Live-Journalismus- und Dialog-Journalismus-Veranstaltungen, bewerben wir uns auf Open Calls, wir sprechen Vereine oder Stiftungen an, wenn es keinen Interessenkonflikt zum recherchierten Thema gibt. Wir kooperieren mit Künstler:innen und Menschen außerhalb des Journalismus.

Wie finanzieren Sie sich?

Früher finanzierten wir auch Events selbst vor. Heute versuchen wir, unsere Arbeit besser zu monetarisieren, auch aus der Community, die uns auf Social Media folgt. Ich probiere auf Social Media einiges aus, baue Calls to Action ein. Aktuell bereite ich einen kostenpflichtigen Steady-Newsletter vor. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen aus Kenia und Uganda überlegen wir, welches Format zu welchem Thema und welcher Zielgruppe passt. Auch Podcasts eignen sich sehr gut für Slow-Journalism-Recherchen.

Beim Konzipieren überlege ich mir, welche Aspekte für die Menschen in Deutschland oder anderswo, wo meine Beiträge rezipiert werden, interessant sein könnten. Im Fall von #MGNalbinism baue ich deutschen Leser:innen oder Zuhörer:innen eine Brücke, in dem ich auf das übergeordnete Thema Verschwörungsmythen in Verbindung mit kriminellen Geschäftsmodellen Bezug nehme. Was den Menschen mit Albinismus in Tansania passiert, ist ein grausam brutales Beispiel dafür, wie (lebens-)gefährlich Verschwörungserzählungen sein können. Zu diesen Themen biete ich auch Vorträge an, für die ich die Illustrationen aus meinen verschiedenen Slow-Journalism-Projekten verwenden kann. Bei beispielsweise #MGNalbinism bezahle ich den Comiczeichner. Zu Beginn verdient also nur er Geld, das finanzielle Risiko trage ich. Dafür liegen aber die Rechte an unseren Illustrationen bei mir. Das gibt mir eine unglaubliche Freiheit, die ich nicht hätte, wenn ich eine Recherche exklusiv für ein einzelnes Medium umsetzen würde.

Ich bin außerdem Mitglied von RiffReporter, einer Genossenschaft für freie Journalist:innen. Unsere Leser:innen können uns Autor:innen finanziell unterstützen, indem sie einzelne Artikel kaufen, unsere Magazine monatlich fördern oder eine Flatrate für alle Beiträge auf RiffReporter abschließen. Über unsere Autor:innenseiten auf RiffReporter können Leser:innen uns auch Einmalbeiträge zukommen lassen.

Kann man vom Slow Journalism gut leben?

Ich verdiene noch nicht genug – aber ich bin davon überzeugt, dass sich Slow Journalism langfristig finanziell lohnt. Was den Zeitaufwand angeht, gibt es definitiv einen Kipppunkt. Am Anfang ist es zeitaufwendig, aber irgendwann dreht sich das und es ist nicht mehr viel Aufwand. Wenn ich eine Präsentation zu einem meiner Schwerpunktthemen gebe, muss ich meist nichts mehr neu vorbereiten.

Wer ist Ihre Zielgruppe?

Früher waren das für mich in erster Linie Leser:innen in Deutschland. Immer mehr bemerke ich jedoch, dass ich auf Englisch mehr interessierte Leute erreichen kann, denn die meisten meiner Follower:innen verstehen Englisch. Daher überlege ich, auf Englisch einen Steady-Newsletter zu starten. Das kann sich finanziell für mich lohnen.

Wie wichtig sind Social Media für Ihre Arbeit?

Für meine Art des Slow Journalism sind meine Social-Media-Accounts sehr wichtig. Twitter und andere Social-Media-Plattformen helfen mir, die neuesten wissenschaftlichen oder journalistischen Veröffentlichungen zu meinen Themen zu sehen und in meinem Archiv zu verschlagworten. Denn bei vielen Informationen und großen Recherchen sind, zumindest für mich, thematische Schlagworte sehr hilfreich.

2018 habe ich einen Instagram-Account eröffnet, weil Instagram damals in Tansania eine der führenden Social-Media-Plattformen war. Ich bin dabei, von – meist jüngeren – Kolleg:innen zu lernen, wie man Instagram effektiv bespielen kann. Dann habe ich begonnen, nach einigen Interviews ein zusätzliches Video zu drehen, speziell für Instagram konzipiert, mit kurzen Fragen und kurzen Antworten– eine wunderbare Möglichkeit, meine Arbeit zu vermarkten.

Sie teilen berufliche Neuigkeiten auch über WhatsApp-Status?

WhatsApp ist in Tansania das verbreitetste Medium. Wer News für Freunde, Familie, Kolleg:innen oder Kund:innen hat, postet diese im WhatsApp-Status, auf Instagram oder, nach wie vor beliebt hier, auf Facebook oder Twitter.

Als Journalist:innen sollten wir da sein, wo unsere Leser:innen sind. Das panafrikanische Magazin The Continent versendet (neben E-Mail und Signal) über WhatsApp sein Magazin. Wer zu anderen Themen Slow Journalism macht, für den ist Mastodon eventuell „The Place to be“. Ich bin dort auch, aber die anderen Plattformen sind für mich wichtiger:

Über Instagram, Twitter, aber auch Facebook und WhatsApp-Status teile ich auch Behind-the-Scenes-Einblicke in meine Recherchen. Gerade auf Instagram-Storys und WhatsApp-Status-Beiträge reagieren Leser:innen oft, aber auch auf  Twitter-Threads erhalte ich regelmäßig Antworten oder Direktmitteilungen. Reaktion führt zu Dialog – und Dialog führt zu Kund:innenbindung. Wer meine Arbeit verfolgt, ist eher bereit, zu meinen Vorträgen und Ausstellungen zu kommen – und auch für meine Arbeit zu bezahlen.

Das Gespräch führte Ulrike Bremm.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

© Christian Hanner

Ramona Seitz  (auf Twitter und Facebook @SeitzRamona) ist freie Slow-Journalistin mit Schwerpunkt „koloniales Erbe“. Nach einem BWL-Studium und mehrjähriger Tätigkeit im Finanzbereich absolvierte sie ein Zweitstudium in Medienkulturwissenschaft an der Universität Freiburg, wo sie inzwischen im Masterstudiengang Medienkulturforschung studiert. Im Rahmen des Bachelorstudiums hat sie am Medienzentrum der Universität Freiburg eine Ausbildung in Multimedia- und Crossmedia-Journalismus erhalten. Sie ist freie Mitarbeiterin für die Heilbronner Stimme, die Mainpost und die Deutsche Welle. Seit 2018 ist sie Mitglied der RiffReporter eG, wo sie das Magazin Pause – Slow Journalism gründete, sowie von Freischreiber e. V., AG Dok und FPAA, The Foreign Press Association, Afrika.

 

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