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Storytelling mit Struktur: „Ein klar gesteckter Rahmen fördert Kreativität“

Interview mit Buchautor Sven Preger

Radiobeiträge und Podcasts schaffen eine besondere Nähe zum Hörer, wodurch ein echtes Erzählen von Geschichten möglich wird. Über diese Art des Storytellings schreibt Sven Preger in seinem kürzlich erschienen Buch „Geschichten erzählen. Storytelling für Radio und Podcast“ (Springer VS). Im Interview mit der Podcast-Trainerin Brigitte Hagedorn erläutert Preger, wie strukturelles Arbeiten für den roten Faden und Spannung in den Audio-Geschichten sorgt.

Herr Preger, Sie haben mit Stephan Beuting den Deutschen Sozialpreis 2017 für die Doku-Serie „Der Anhalter“ gewonnen. Doch einige Hörer beschwerten sich, dass sie eine Woche auf die nächste Folge warten mussten. Waren Ihre Cliffhanger so gut oder was hat diese Spannung erzeugt?

Die Cliffhanger können ja nur so gut sein, wie es die Geschichten hergeben. Wir haben uns zusammengesetzt und alle wichtigen journalistischen Dinge aufgeschrieben und sortiert und aus diesen journalistischen inhaltlichen Überlegungen ein Storyboard gemacht.

Dann haben wir uns gefragt: Wie können wir es schaffen, aus diesen Zutaten eine Erzählung zu gestalten? Wie kriegt man es hin, über 180 Minuten in sechs Teilen komplett Spannung zu erzeugen?

Ich kann dann nicht von vorne alle Ergebnisse erzählen. Sondern muss es prozesshaft abbilden. Wir haben uns sehr bemüht, es so zu gestalten, dass es für die Hörer spannend wird.

In Ihrem Buch „Geschichten erzählen. Storytelling für Radio und Podcast“ beschreiben Sie ausführlich fünf narrative Metaplots – Strukturen, die als Orientierung für das Erzählen einer Geschichte dienen können. Was haben diese Metaplots gemeinsam?

Um eine Geschichte spannend zu machen, muss es um ein dahinter liegendes Prinzip gehen. Das ist die „bigger idea“: Die Geschichte muss etwas verdeutlichen, das im Idealfall über sie selbst hinaus weist. Nicht ein Einzelschicksal wird dargestellt, sondern es steht für ein größeres Problem oder eine größere Einsicht. Das ist das Erste und, wie ich finde, besonders wichtig.

Das Zweite ist, dass etwas auf dem Spiel steht: Geht es um nichts, wird es wohl auch keine spannende Geschichte.

Das Dritte, das ist so eine alte Storytellerweisheit: Es muss etwas sein, was mich tatsächlich emotional im Innersten berührt. Das Präsentieren von Fakten allein reicht nicht – ich muss diese Fakten erfahrbar machen.

Darauf bauen die verschiedenen Metaplots auf. Manchmal mit einem echten Protagonisten, der ein Ziel hat und auf Hindernisse trifft, manchmal als Argumentation, der gefolgt wird.

Das Rückgrat einer jeden Geschichte sind Szenen. Echte Szenen, weil ich dabei war als Reporter, oder rekonstruierte, weil sie mir jemand im Nachhinein erzählt hat. Letztere muss ich natürlich journalistisch überprüfen. Aber ohne Szenen werde ich keine spannende Geschichte erzählen können. Weil die Menschen dann nicht das Gefühl haben werden, wirklich an irgendeinem Ort zu sein. Wenn ich die ganze Zeit nur Fakten referiere, dann ist das mehr oder weniger nur ein vertonter Wikipediaeintrag.

Ist es denn möglich, auch in kürzeren Beiträgen mit Szenen zu arbeiten?

Wir haben jetzt die Seminare „Storytelling für Kurzformate“ entwickelt, um diese Prinzipien zu übertragen. Zum Beispiel bei der Auswahl von O-Tönen für das Radio oder den Podcast, denken Sie auch hier szenisch, dann sind Sie in den Momenten dabei, in denen sich Menschen unterhalten, es entstehen Dialoge. Das Resultat ist eine andere Art von O-Tönen, als wir es sonst gewohnt sind – 18 Sekunden, eindeutiges Statement, hinten schneidbar.

Und ich kann auch mit einem dialogischen O-Ton in den Kurzbeitrag von 2 Minuten 30 einsteigen. Beispiel: Jemand klingelt an der Haustür, weil er Wahlkampf macht, und die Tür wird ihm vor der Nase zugeschlagen. Dann hört man noch die Reaktion, vielleicht so etwas wie „oh mein Gott, das ist jetzt der Dritte, ich hab keine Lust mehr“. Dabei ist jede Reaktion aussagekräftig, weil sie viel mehr über die Person aussagt, der ich folge, als ein typisches Statement von einem Politiker wie „Straßenwahlkampf kurz vor dieser Wahl ist besonders wichtig, weil …“.

Und der Hörer kann sich an dieser szenischen Einführung orientieren? Er weiß, wo er ist und worum es geht?

Ja. Im Zweifelsfall erkläre ich das und sage danach, das war der und der Politiker und der ist jetzt da und da. Oder wenn ich mal mit einer These einsteige: Was ist, wenn ich nicht in den ersten zwei Sätzen alle fünf W-Fragen beantworte?

Das sind alles Techniken, die manchmal szenisch, manchmal anders funktionieren, um Kurzbeiträge spannender zu gestalten.

Es geht nicht darum, künstlich zu emotionalisieren oder unangemessen journalistisch zu werden, sondern darum, Leute wirklich für das zu interessieren, was ich dann erzählen möchte.

Welche Rolle spielt der Protagonist oder auch Held in der Geschichte? Kann das auch eine Sache sein?

Ein Protagonist ist immer jemand, der sich zum allerersten Mal einer Herausforderung stellt und aktiv handelt. Das kann also keine Sache sein. Das ist auch ein Missverständnis in vielen Redaktionen, die sich dann teilweise wundern, warum ihre Beiträge so langweilig geworden sind.

Doch bei einer erklärenden oder argumentativen Narration kann ich beispielsweise den globalen Handelsstrom von Waren erklären. Wie kommen Bananen aus Südamerika nach Europa? Dann ist es wichtig, szenisch an jeder Station dieser Bananen etwas zu erleben, von der Ernte über den Umschlagplatz am Hafen und die Seefahrt bis zum Anlanden der Ware in Europa. Viele kleine Szenen zeigen die Schwierigkeiten, den Sturm auf hoher See beispielsweise, wobei das Ganze zeitkritisch ist, weil die Banane zu einem gewissen Zeitpunkt in Europa sein muss. Dann läuft insgesamt eine Uhr mit. Es entsteht also Spannung.

In all diesen Szenen brauche ich Protagonisten – zum Beispiel denjenigen, der erntet. Der sagt, heute muss ich soundsoviel Bananen ernten, sonst bin ich meinen Job los. Oder der Typ, der eine bestimmte Anzahl Container auf das Schiff bringen muss, weil das die Vorgabe ist. Die Herausforderungen der Menschen an den jeweiligen Orten müssen natürlich real und wahr sein – sonst hat es mit Journalismus nichts zu tun.

Wenn wir aber nur noch Geschichten erzählen würden, die über eine einzige Figur funktionieren, dann ließen wir ganz viele Themen außen vor, die für den Journalismus wichtig sind. Über Demokratiedefizite, Klimawandel oder andere Probleme könnten wir dann nicht berichten, weil wir nicht immer den einen Protagonisten haben.

Bremst oder schränkt ein strukturiertes Arbeiten mit den von Ihnen entwickelten Metaplots das kreative Arbeiten ein?

Ich glaube, dass ein klar gesteckter Rahmen Kreativität fördert. Dass wir Kreativität häufig im Sinne von „grenzenloser Freiheit“ benutzen, ist ein Missverständnis. Wenn ich alles machen kann, dann fehlt mir der Maßstab, um zu sagen, für wen mache ich das oder was für ein Ziel verfolge ich. Ein klarer Rahmen kann auch vorgeben, diese Länge haben wir zur Verfügung, so viele Teile hat der Beitrag, diese organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen gelten. Ohne Bezugsrahmen wächst die Beliebigkeit, nicht die Kreativität.

Es wird immer noch unterschätzt, dass spannendes Storytelling in allererster Linie eine Frage der Struktur ist. Ich nutze bewusst Strukturen oder verstoße bewusst gegen Strukturen.

Journalistisch verlagert sich die Arbeit tatsächlich ein bisschen. Normalerweise sagen Journalisten, wir machen das und das Thema. Dann laufen wir los, machen Aufnahmen und stricken um diese herum hinterher den Beitrag. In einem Podcast legen wir das Thema fest, reden darüber und schneiden das sauber. Doch wer spannende Geschichte erzählen will, muss vorher Hausaufgaben machen.

Am Ende stehen die Produktion und das Zusammenfügen aller Teile. Im Kopf ist das schon entstanden, doch wie weit darf die Inszenierung gehen? Besteht die Gefahr, die Inszenierung zugunsten der Fakten in den Vordergrund zu stellen?

Ja, das ist die große Verantwortung des Reporters oder eventuell des Regisseurs. Natürlich kann ich mit zusätzlichen Geräuschen, mit zusätzlicher Musik versuchen, Emotionen zu wecken, die sonst überhaupt nicht da wären. Diese Gefahr ist da.

Ich versuche daher, durch Recherche wirklich zu verstehen, was die Realität und was ein angemessenes Abbild davon ist. Erst, wenn ich das benennen kann, treffe ich wesentliche Entscheidungen für die Inszenierung: Ist die Musik, die ich darunter lege, sind die Emotionen, die ich dadurch erzeuge, dem angemessen, was ich erlebt habe? Natürlich weiß ich, dass auch meine Wahrnehmung subjektiv ist. Das kann ich nur dadurch puffern, indem ich mit vielen Leuten spreche und versuche, multiperspektivisch zu arbeiten, und mich zu überprüfen. Es muss auch in der Inszenierung ein angemessenes Abbild von Realität bleiben.

Podcasts für den Hörfunk wurden lange Zeit als Kanal für die Zweitverwertung der Sendungen angesehen. Seit zwei, drei Jahren hat sich das verändert. Sie schreiben ein Buch für Radiomenschen UND Podcaster. Was ist in der Zwischenzeit passiert?

Aus meiner Sicht hat ein Ereignis wie Serial aus den USA dazu geführt, dass man im deutschsprachigen Raum, vielleicht sogar in Europa, gemerkt hat, da ist ja ein riesiges Storytelling-Format. Im klassischen deutschen Feature kommt so ein langes Doku-Format nicht so häufig vor. Dann hat man sich gefragt, wo es Menschen gibt, die das umsetzen können. Und ist so auch auf die Podcaster gekommen.

Zum Glück gibt es mittlerweile eine gegenseitige Befruchtung: Die Podcaster werden auf Radio-Konferenzen eingeladen und die Radioleute auf Podcaster-Konferenzen. Auch mit den Entwicklungen bei Audible (Original Podcasts kostenlos für Abonnenten und Aufrufe an Podcaster für Konzepte, Anm. der Autorin) oder dem Call for Podcast beim Bayerischen Rundfunk vermischt sich diese Gemengelage. Das kann allen Beteiligten nur gut tun.

Ich glaube, dass die ARD-Anstalten ein bisschen mehr Struktur und die Podcaster ein bisschen mehr Macher-Logik mitbringen.

In Ihrem Buch stellen Sie auch Vergleiche zum Film her. Dort geht manchmal mehr, weil es auch das Bild gibt. Doch was sind die großen Stärken von Audio?

Das eine, und fast das Wichtigste, ist die Intimität, die Radio oder Audio herstellen kann. Denn wenn die Leute in der Bahn sitzen und einen Podcast hören, geht der direkt ins Ohr. Das erschließt tatsächlich eine andere Art von Themen: Audio-Erzählungen ermöglichen intensive psychologische Themen, menschliche Themen, wie eben auch beim Anhalter oder wie bei dem tollen Podcast Invisibilia vom National Public Radio. Solche Themen sind im Film in dieser Intimität, in der Nähe zu den Menschen, nur schwer hinzukriegen. Auch nicht im dokumentarischen Film, weil man die Menschen nicht in diesen Situationen beobachten kann oder sie sich nicht so öffnen.

Ich kann bei Audio schnell durch Zeit und Raum wechseln, Zeitraffer darstellen und einfach echt erzählen. Letzteres ist bei dieser Vermischung von Radio und Podcast, auch durch die Amerikaner, mit nach Europa herübergekommen. Endlich erzählen wir wirklich mehr Geschichten: Es ist kein offiziöses Absetzen vom Tonfall her, sondern ich erzähle es wirklich. Das macht in der Summe die Logik von Audio aus.

Und es fasziniert die Menschen. Jetzt gerade scheint es noch mal so etwas wie ein Revival-Zeitalter des Audios zu geben. Ich glaube, dass viele dies gar nicht mehr für möglich gehalten haben.

Herr Preger, vielen Dank für das Gespräch.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Foto: Jochen Weinand

Sven Preger ist Diplom-Journalist und systemischer Coach. Sein Spezialgebiet: komplexe Geschichten erzählen. Er arbeitet als Autor, Regisseur, Produzent, Moderator und Trainer. Als systemischer Coach und Story-Consultant unterstützt er bei Format-Entwicklung, Storytelling und Change Management. Seine Geschichten wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Sozialpreis, dem CNN Award und dem Axel Springer Preis.

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