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Umberto Ecos Roman „Nullnummer“: Eine literarische Abrechnung mit dem Sensationsjournalismus

Rezension anlässlich des zweiten Todestages des Schriftstellers

Mit seinem letzten Roman hat Umberto Eco (1932 – 2016) eine kriminalistische Mediensatire geschrieben, die fragwürdige journalistische Methoden des Boulevardjournalismus aufs Korn nimmt und in Grauzonen des investigativen Journalismus vordringt. Den Lesenden offenbart sich dabei die italienische Wirtschafts-, Politik- und Medienwelt der beginnenden 1990er-Jahre als Hort der Missstände und Skandale. Eine Rezension anlässlich des zweiten Todestages von Umberto Eco am 19. Februar 2018.

Der 1932 in Alessandria geborene italienische Autor studierte Philosophie und Literatur in Turin und war unter anderem als Kulturtheoretiker, Schriftsteller und Kolumnist tätig. Mit seinem Romandebüt, dem historischen Krimi Der Name der Rose (1980), der 1986 mit Sean Connery in der Hauptrolle prominent verfilmt wurde, erlangte er Weltruhm. Umberto Eco erhielt zahlreiche Buchpreise und Auszeichnungen, darunter die Ehrendoktorwürde von über 30 Universitäten. Der Autor verstarb am 19. Februar 2016 in Mailand. Nullnummer war sein letzter Roman.  Copyright: Peter-Andreas Hassiepen

Der 1932 in Alessandria geborene italienische Autor studierte Philosophie und Literatur in Turin und war unter anderem als Kulturtheoretiker, Schriftsteller und Kolumnist tätig. Mit seinem Romandebüt, dem historischen Krimi „Der Name der Rose“ (1980), der 1986 mit Sean Connery in der Hauptrolle prominent verfilmt wurde, erlangte er Weltruhm. Umberto Eco erhielt zahlreiche Buchpreise und Auszeichnungen, darunter die Ehrendoktorwürde von über 30 Universitäten. Der Autor verstarb am 19. Februar 2016 in Mailand. „Nullnummer“ war sein letzter Roman. Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Am Morgen des 6. Juni 1992 stellt der Journalist Colonna fest, dass in seiner Mailänder Wohnung ein kaputter Wasserhahn nicht mehr tropft und das Wasser mit dem Haupthahn unter der Spüle abgedreht wurde. Er vermutet nächtliche Einbrecher dahinter, die verhindern wollten, dass er vom tropfenden Hahn geweckt wird. Deren eigentliches Ziel: brisante journalistische Notizen aus der Wohnung zu entwenden. Colonna glaubt deshalb, dass sein Leben in Gefahr ist.

Ausgehend von diesem undurchsichtigen Einstiegsszenario erzählt Ecos Ich-Erzähler, der sich selbst als „Verlierer“ und erfolgloser „Schreiberling“ präsentiert, in einem Rückblick, welche Umstände ihn in seine missliche Lage gebracht haben. So wurde ihm vor einigen Monaten ein lukratives, aber korruptes Angebot unterbreitet: Er soll am Aufbau der Nullnummern einer Zeitung namens „Domani“ (dt. „Morgen“) mitarbeiten. Diese soll nie publiziert werden, aber im Vorfeld ihres fingierten Erscheinens Gerüchte über die großen Köpfe der Finanz- und Politikwelt streuen. Davon erhofft sich deren Finanzier (ein sogenannter „Commendatore Vimercate“, mit dem der Berlusconi-Kritiker Eco wohl mit einem Augenzwinkern auf den „echten Cavaliere“ referiert), den Eintritt in hohe Kreise zu erpressen. Chefredakteur Simei, der ihn einstellt, spielt noch dazu sein eigenes Spiel: Colonna soll nämlich als sein Direktionsassistent verdeckt den vorprogrammierten Skandal als Ghostwriter eines Buches festhalten. Unterstellt werden ihm fünf weitere, als erfolglos in der Medienwelt dargestellte Redakteure sowie eine Redakteurin, die, ohne Wissen über die wahren Umstände, am Aufbau des fingierten Blattes mitarbeiten.

Fakt und Fiktion: journalistische Methoden auf dem Prüfstand

In den in der Folge geschilderten Redaktionssitzungen nimmt Eco dubiose Methoden des Sensationsjournalismus ironisch ins Visier. So unterrichtet der Chefredakteur die Journalistinnen und Journalisten darüber, wie man Meinungen in einer Zeitung als Tatsachen darstellt, Meldungen emotionalisiert und personalisiert, die Wahrnehmung politischer Geschehnisse steuert und durch eine lenkende Berichterstattung Ängste bei den Lesenden erzeugt. Eindrücklich stellt er dar, wie unliebsame Personen verunglimpft werden können. Ein Untersuchungsrichter, der in Rimini Ermittlungen über die Führung einiger Altersheime einleitete, ist dem Commendatore etwa ein Dorn im Auge, weil dessen Nachforschungen auch die eigenen Geschäfte treffen könnten. Der Chefredakteur lässt die Redaktionsmitglieder wissen, dass es dem Verleger nicht unlieb wäre, wenn ein „Schatten des Verdachts“ auf den „Schnüffler fiele“. Dazu erteilt er folgenden Ratschlag: „Beachten Sie dabei, dass es zur Entkräftung einer Anklage heutzutage nicht mehr nötig ist, das Gegenteil zu beweisen, es genügt, den Ankläger zu diskreditieren.“ Als der zur Recherche losgeschickte Redakteur mit Bildern zurückkehrt, die den Richter etwa mehrere Zigaretten rauchend auf einer Parkbank zeigen, wird dies für diese Zwecke als interessant erachtet. Denn „ein Mann, von dem wir Besonnenheit und Objektivität erwarten, zeigt sich als Neurotiker, noch dazu als Müßiggänger, der seine Zeit auf Parkbänken vertrödelt, statt über Dokumenten zu brüten.“

Diese Passage ist ein Beispiel dafür, wie Eco immer wieder gekonnt auf die Realität anspielt und man beim Lesen selbst Verbindungen knüpft: Die Szene kann so als Referenz auf eine verhöhnende Darstellung eines Richters in einer Reportage des von Berlusconi kontrollierten Senders Canale 5 gesehen werden, nachdem dieser ihn in einem Prozess mit einer Geldzahlung an einen rivalisierenden Unternehmer aburteilte. Auf eine entsprechende Verunglimpfung in einer italienischen Zeitung nimmt Eco auch in einem Zeit-Interview Bezug. Verflechtungen von Fakt und Fiktion durchziehen das Buch wie ein roter Faden.

Schlüsseljahr 1992: politische Zäsur für Italien

Die realen Geschehnisse der Zeit, in der die Handlung des Romans spielt, zeigen sich dabei verstrickt und turbulent wie der Plot selbst. 1992 markierte für Italien eine politische Zäsur. Kurz vor dem Beginn des Aufstiegs Berlusconis in der Politik begannen die unter dem Namen „Mani pulite“ (dt. „saubere Hände“) bekannten, weitreichenden juristischen Ermittlungen gegen politische Korruption, kriminelle Parteifinanzierungen und den Missbrauch von Ämtern, die schließlich den Einsturz des bestehenden Parteiensystems und das Ende der sogenannten „Ersten Republik“ bedeuteten. Die oben geschilderte Textpassage schließt auch an den Auftakt des Bestechungsskandals an, der mit Ermittlungen gegen Mario Chiesa ebenso den Präsidenten eines Altersheims im Visier hatte.

Mit der Aufdeckung der italienischen Geheimorganisation „Gladio“ und dem öffentlichen Bekanntwerden weiterer sogenannter „Stay-Behind-Organisationen“, die nach dem Zweiten Weltkrieg als paramilitärische Einheiten westeuropäischer Länder im Untergrund gegen die Besetzer des Warschauer Paktes operierten, kam es in den frühen 1990er-Jahren zu einem weiteren politischen Eklat.

Fiktives Komplott um Mussolinis Tod

Tief hinein in eine Welt der verschwörerischen Politskandale vor dem Hintergrund realer Ereignisse führt im Buch schließlich eine bis zum Zweiten Weltkrieg zurückreichende investigative Recherche eines Journalisten mit dem sprechenden Namen Braggadocio (dt. „Aufschneider“). Er will beweisen, dass die Ermordung Mussolinis eine Täuschung war. Anstelle des Diktators sei sein Doppelgänger im April 1945 von Partisanen hingerichtet worden, wie er Colonna erzählt. Ein Putsch von mit „Gladio“ und weiteren geheimen Organisationen verbundenen Faschisten und ein Comeback des „Duce“ in den 1970er-Jahren sei nur durch dessen unvorhergesehenen Tod verhindert worden. Die Recherchen führten Braggadocio bis zu einer Beteiligung des Vatikans an der vermeintlichen Intrige. Colonna steht der verschwörungstheoretisch anmutenden These des Kollegen denkbar skeptisch gegenüber. Als Braggadocio jedoch ermordet wird, erweitert sich Ecos komplexe Mediensatire ein wenig zum Verschwörungskrimi: Dem Protagonisten stellt sich nämlich die Frage, ob die Recherchen seines Kollegen Schuld an seinem gewaltsamen Tod haben – und ob er als sein Mitwisser das nächste Opfer sein wird.

Internationale und aktuelle Bezüge

Verschwörungstheorien, politische und wirtschaftliche Missstände, eine korrupte Sensationspresse: Auch wenn die Handlung in einem konkreten historischen Setting noch vor dem Aufschwung des Internets angesiedelt ist, büßen die medienkritisch aufbereiteten Themen des Buches weder allgemeine Gültigkeit noch Aktualität ein. Praktiken des „Skandal-Journalismus“ – wie die Verunglimpfung von Personen durch gehäufte Unterstellungen, das Durchsuchen von deren Privatleben oder das Herausgreifen aus dem Kontext gerissener Details, um Sensationsnachrichten zu erzeugen – beschreibt der Autor selbst als internationale Phänomene.

Führt man sich aktuellere Mediendebatten zum Umgang mit Clickbaiting oder Fake News vor Augen, kann noch dazu ein Bogen zu journalistischen Grauzonen im digitalen Zeitalter geschlagen werden. Schließlich werden damit Phänomene verhandelt, die Erscheinungsformen des althergebrachten Sensationsjournalismus nicht unähnlich sind. „Jemand hat vorgeschlagen, meinen Roman in Journalistenschulen als Lehrbuch zu verwenden, weil ich darin erkläre, wie man es nicht machen soll“, so Eco. Tatsächlich zeigen sich gerade in den Textpassagen, in denen die skrupellosen Methoden des fiktiven Skandalblatts in lebendigen Dialogen verhandelt werden, die Stärken des großen Erzählers Eco. Das ist amüsant und lehrreich zugleich, ohne dass der renommierte, medienkritische Autor dabei mit dem erhobenen Zeigefinger wackeln muss.

Nullnummer_CoverAutor: Umberto Eco (deutsche Übersetzung: Burkhart Kroeber)

Titel: Nullnummer

Preis: EUR 21,90

Umfang: 240 Seiten

Erscheinungsdatum: 26.09.2015

Verlag: Carl Hanser

ISBN: 978-3-446-24939-4

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Friederike SchwabelDie Autorin Friederike Schwabel, Dr. phil., promovierte Ende 2017 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und ist Absolventin der Deutschen Fachjournalisten-Schule. Ihre Dissertation behandelt die kritische Rezeption zeitgenössischer deutscher Literatur in der amerikanischen Presse. Sie lebt in Wien und ist als freie Fachjournalistin tätig.

 

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