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Wirkungsvoll, aber aufwendig: VR-Experiences im Journalismus

Ein Einblick in die Umsetzung von journalistischen VR-Projekten anhand der Emmy-nominierten Experience „You destroy – we create“.

Nutzer:innen von Virtual-Reality- (VR-)Brillen können – neben Games und Fitness Apps – zunehmend auch auf journalistische Formate, Reportagen und Dokumentationen auf ihren Content-Plattformen zugreifen. Eine VR-Reportage des Berliner Studios NowHere Media ist jetzt für den Emmy, den wichtigsten Fernsehpreis der USA, nominiert worden. Partner war der Tech-Riese Meta (ehemals Facebook). Wie arbeitet man als Journalist:in mit solch einem Giganten zusammen? Wie produziert man eine VR-Reportage und wie kann man sie vertreiben? Wir haben mit den Emmy-nominierten Produzent:innen Felix Gaedtke und Gayatri Parameswaran gesprochen. Außerdem haben wir die Leiterin der Förderabteilung des Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ) Marion Franke befragt, wann sich der Einsatz von VR-Experiences im Journalismus lohnt.

Für ungeübte VR-Anwender:innen ist es fast ein Schock. Wer sich die Meta Quest VR-Brille vor die Augen und den Kopfhörer über die Ohren gezogen und dann mit dem Controller die VR-Experience gestartet hat, steht auf einer Straße in der Ukraine und blickt in einen tiefen Krater. Eine russische Rakete ist hier eingeschlagen. Der 360°-Rundumblick vermittelt einen absolut realen Eindruck von der tatsächlichen Zerstörung. Menschen gehen, scheinbar unbeteiligt, an einem vorbei und man weicht unwillkürlich zurück, um Abstand zu halten.

„Empathiemaschine“ VR

Die Szene stammt aus „You destroy – we create“, einer journalistischen VR-Experience des Berliner Studios NowHere Media. Die etwa 25-minütige Produktion dokumentiert, wie ukrainische Künstler:innen dem russischen Angriffskrieg ihre Projekte und ihre Kreativität entgegensetzen, um ukrainische Kunst und Kultur am Leben zu erhalten und ihre Mitbürger:innen zu ermutigen. Man lernt unter anderem einen Graffiti-Künstler in Charkiw kennen, trifft eine Museumsleiterin in Odessa, die ihre Exponate schützen will, und eine DJ und Vloggerin, die Raves veranstaltet.

„You destroy – we create“ haben NowHere Media-Gründer:innen Felix Gaedtke und Gayatri Parameswaran für den Meta-Konzern von Mark Zuckerberg realisiert. Das Stück ist im Juli für den wichtigsten US-Fernsehpreis, den Emmy nominiert worden.

Der unmittelbare emotionale Eindruck, den diese Begegnungen und der virtuelle Aufenthalt in den zerstörten Städten und Kulturorten beim User auslöst, ist nicht zu vergleichen mit dem oft beiläufigen, oberflächlichen Konsum von Kriegsbildern in den abendlichen TV-Nachrichten. Aufgrund dieser Unmittelbarkeit und greifbaren Nähe zum Geschehen, die durch VR möglich ist, wird diese oft auch als „Empathie-Maschine“ bezeichnet.

Journalistische Reportagen als VR-Experiences

Natürlich kennen Gaedtke und Parameswaran als Journalist:innen und „immersive Storyteller:innen“ die Wirkung der „Empathiemaschine“ VR sehr genau. Sie nutzen sie seit Jahren, um ihr Publikum über aktuelle Themen zu informieren, aber auch, um zu sensibilisieren und zu aktivieren.

Ist gemeinsam mit dem Co-Gründer ihres Berliner Studios NowHere Media Felix Gaedtke für die VR-Experience „You destroy – we create“ für einen Emmy nominiert: Gayatri Parameswaran.

Ihre VR-Experiences – dabei ist es unerheblich, ob man sie als „Erfahrungen“ oder als „Erlebnisse“ versteht – werden weltweit auf Festivals und bei Konferenzen gezeigt und mit wichtigen Preisen ausgezeichnet. Zu ihrem Portfolio gehören VR-Experiences über Sprengfallen des IS im irakischen Falludscha (Home after War), über das Verschwinden einer nepalesischen Kultur und ihrer Sprache (Kusunda), über die Sinneswahrnehmungen depressiver Menschen (Darkening) oder über die zukünftige Mobilität in einem Berlin der Zukunft (Berlin 2037).

Dabei arbeiten sie oft mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zusammen, die die VR-Experiences für ihre eigene Arbeit einsetzen dürfen. „You destroy – we create“ zum Beispiel wird von der NGO ALIPH als Tool zum Fundraising genutzt. Die Organisation zeigt die Produktion im Rahmen ihrer Donor Events für Ländervertreter:innen. „So lief das Stück – allerdings in einer auf fünf Minuten gekürzten Version, weil wichtige Menschen wenig Zeit haben – bei einer Geberkonferenz für die Ukraine in Abu Dhabi, aber auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos“, berichtet Gayatri Parameswaran.

Die Perspektive der Medienexpertin

Einen differenzierten Blick auf das Thema „VR im Journalismus“ hat Marion Franke. Als Leiterin der Förderabteilung des Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ) ist sie eine Art von Seismograf für digitale Entwicklungen im Journalismus. So hat sie beim MIZ unter anderem das Förderprojekt Constructive VR betreut, das sich mit der Nutzung von VR im konstruktiven Journalismus beschäftigte. „Ich will nicht sagen, dass VR ein Schwerpunktthema der Förderung war, aber wir hatten dazu durchaus einige Einreichungen. Danach flaute die Zahl der Anträge allerdings ab. Das kann aber mit den hohen Kosten dieser Art von Produktion zusammenhängen und mit der Tatsache, dass wir als MIZ nur begrenzte Förderbudgets zur Verfügung stellen können“, bilanziert Franke.

Marion Franke verantwortet beim Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ) den Bereich Innovationsförderung. Sie ist Ansprechpartnerin zu den Förderbedingungen, der Antragstellung und verantwortlich für die Betreuung der Projekte. Foto: MIZ Babelsberg.

Sicher ließe sich VR für komplexere journalistische Formate nutzen, doch könne man die Technologie wegen des hohen Aufwands kaum in der tagesaktuellen Berichterstattung einsetzen und brauche zudem ein komplexes Storytelling, glaubt sie. „Aufgrund des Aufwands für Produktion und Distribution gibt es wahrscheinlich aktuell mehr journalistische AR- (Augmented-Reality-)Projekte als journalistische VR-Projekte. Mir fällt spontan die Produktion „Die Befreiung“ ein, die die Berliner Agentur und MIZ-Alumni Zaubar mit dem Bayerischen Rundfunk realisiert hat, und das Stolpersteine-Projekt des WDR“, sagt Franke.

VR-Experiences auf dem Vormarsch?

Dass zumindest journalistische Hintergrund-Reportagen ihren Weg zunehmend als 360°-VR-Produktionen zum Publikum nehmen, ist kein neuer Trend. Große Medienhäuser wie die New York Times oder der Guardian experimentieren bereits seit Längerem mit solchen Projekten. Nutzen kann man die Ergebnisse in der Regel auch online im Browser, ohne eine VR-Brille besitzen zu müssen.

Aber diese High-Tech-Brillen sind, (auch) als Medium für journalistische Formate, auf dem Vormarsch. Laut statista wird von Analysten geschätzt, dass der weltweite Absatz von Virtual-Reality- und Augmented-Reality-Brillen bis 2027 auf bis zu 31 Millionen Geräte pro Jahr zunehmen wird. Dabei führte Meta im 1. Quartal 2023 das Anbieterfeld mit einem Marktanteil von fast 50% an.

Nach einer Studie des Digitalverbands Bitkom nutzte 2021 fast ein Fünftel der Deutschen zumindest gelegentlich eine VR-Brille. Es ist anzunehmen, dass diese Zahl auch in Deutschland stark steigen wird. VR-Technologie wird immer beliebter und selbst Schulen schaffen inzwischen VR-Brillen aus den Fördermitteln des Digitalpakts an. Und so werden auch journalistische Formate zunehmend ihren Platz bekommen in den bisher noch sehr Entertainment-lastigen Programmen der Brillenanbieter.

Zusammenarbeit mit einem Tech-Giganten

Mit Metas VR for Good, einem speziellen Programm für Produktionen mit gesellschaftlicher Relevanz, hatten Gaedtke und Parameswaran bereits bei „Home after War“ zusammengearbeitet. Mit dem Programm unterstützt Meta VR-Produktionen mit einem Impact zu sozialen Themen, vorwiegend im Dokumentarbereich.

Für den Emmy ist „You destroy – we create“ in der Kategorie Outstanding Emerging Media Program – 2023 nominiert, zusammen mit Produktionen von Google und Apple TV +. Mit MLK, einer VR-Doku über Martin Luther King, hat Meta noch ein zweites Doku-Stück unter den Nominees platzieren können.

Meta stellte den beiden Berliner:innen die Technik, finanzierte die Produktion und zeigt sie auf seiner Content-Plattform Meta Quest TV. Wer die Meta-Quest-Brille nutzt, greift über eine App auf das Quest TV, quasi einen eigenständigen TV-Kanal für VR-Produktionen, zu. „Wenn man bei Meta Quest TV den Suchbegriff Ukraine eingibt, findet man uns gleich als zweite oder dritte Fundstelle“, freut sich Parameswaran.

Die Grundhaltung: immer kritisch

Wie lief die Zusammenarbeit der beiden VR-Journalist:innen mit dem mächtigen US-Konzern ab? Hatten Sie zunächst Vorbehalte gegen die Kooperation mit der hierzulande oft als „Datenkrake“ titulierten Firma?

NowHere Media-Gründer Felix Gaedtke.

„Ich finde die Zusammenarbeit mit einem großen Tech-Konzern, ob Meta, Google oder Microsoft, grundsätzlich immer kritisch. Man kommt aber, wenn man, wie wir, VR-Produktionen realisiert, an deren großen Plattformen und deren Hardware einfach nicht vorbei“, stellt Felix Gaedtke nüchtern fest und fügt hinzu: „Zumindest können wir mit ,You destroy – we create‘ auch zeigen, dass es in dem Bereich mehr gibt als Baller-Games und Fitness-Apps.“

„Meta hatte aber auch ein grundsätzliches technisches Verständnis für unsere Arbeitsweise und wusste genau, was wir an Ausstattung benötigten. Und wir haben die volle Editorial Control über unsere Produktion behalten“, ergänzt seine Partnerin Gayatri Parameswaran.

Zudem sprach die Geschwindigkeit, in der die Produktion vonstattengehen konnte – drei Monate für Vorbereitung, Dreh und Nachproduktion – für die Zusammenarbeit mit Meta. Dabei musste das Team insgesamt noch 4.000 Kilometer zwischen den Drehorten zurücklegen. Mit deutschen Sendern, Medienhäusern oder Filmförderanstalten wäre das zeitlich schwer machbar gewesen, sind sich die beiden sicher. „Wir wollten ja ein schnelles Projekt, weil sich die Ereignisse in der Ukraine Mitte 2022 überschlugen und wir zudem unbedingt noch im November 2022 veröffentlichen wollten. Die Zeit zwischen Thanksgiving und Weihnachten ist die wichtigste Release-Periode in den USA“, erklärt Gaedtke.

Welche Technik wurde eingesetzt?

Das VR-Stück ist eine Mischung aus 360°, 180°, Computersimulationen, Drohnenaufnahmen, Computeranimationen und fotogrammetrischen Aufnahmen. Gedreht wurde mit drei verschiedenen Kamerasystemen. Einmal mit der 360°-Kamera Insta Pro Titan: „Die ist aufwendig im Aufbau und wir haben sie sehr dosiert eingesetzt. Nämlich nur dort, wo es sich inhaltlich tatsächlich lohnte, etwa bei einem kollektiven Arbeitseinsatz beim Wiederaufbau eines kleinen Heimatmuseums oder bei Ensembleproben auf einer Theaterbühne“, erinnert sich Felix Gaedtke.

Für die 180°-Aufnahmen war eine Canon RF-Kamera mit einem doppelten Fisheye-Objektiv im Einsatz, eine stereoskopische Kamera. „Zudem hatten wir eine Cannon R5C dabei, die im Handling super war, wenn es schnell gehen musste. Manchmal hatten wir ja nur zehn Minuten zum Setup, weil oft Luftalarme den Dreh unterbrachen“, berichtet Parameswaran.

Für die Luftaufnahmen setzten die beiden eine Stereodrohne Mavic Pro Cine ein. Die Vogelperspektive war ihnen wichtig, um das Ausmaß der Zerstörung zu zeigen: An den Drehorten wurden ganze Stadtteile in Trümmer gelegt.

Für die Visualisierung einer Szene in einem Luftschutzkeller programmierten sie eine kurze Computeranimation, die die wartenden Menschen zeigt. Mit derselben Technik simulierten sie auch den Wiederaufbau von Gebäuden.

Fotogrammetrische Aufnahmen bekamen die Berliner:innen aus dem Museum in Odessa, das gerade seine Bestände digitalisiert. „Die waren also nicht von uns selbst“, stellt Gaedtke klar.

Wie wird die VR-Doku distribuiert?

Der Vertrieb bzw. Verleih von „You destroy – we create“ findet vorwiegend über die Web Quest-TV App auf der Web-Quest-Brille statt. „Aber bei allem, was über die Verwertung auf der technischen Plattform von Meta hinausgeht, haben wir alle Freiheiten“, sagt Gayatri Parameswaran. Die beiden haben das Copyright auf die Produktion und können damit frei verfahren.

Es gibt also noch andere Vertriebswege. NowHere Media zeigt die Produktion auf Festivals und bei Konferenzen. Zuletzt lief sie auf eigens eingerichteten Standflächen bei der re:publica, bei Festivals in Biarritz und dem SXSW, beim Weltwirtschaftsforum in Davos und bei den ukrainischen Botschaften und ukrainischen Instituten in verschiedenen Ländern. Dazu kommen Screenings durch NGOs, wie beschrieben.

Fazit

Für Journalist:innen sind VR-Experiences ein starkes Medium („Empathiemaschine“) um journalistische Sujets näher an ein vom klassischen TV und den sozialen Medien oft ermüdetes und auch junges Publikum zu bekommen. Allerdings sind sie ein technisch sehr aufwendiges und erzählerisch sehr anspruchsvolles Medium.

Bei der Produktion und beim Vertrieb kommt man allerdings an den großen Tech-Konzernen kaum vorbei – wegen ihrer Technikdominanz und ihrer Vertriebsmacht. Weil diese Unternehmen aber schnell ihre Programme mit relevanten Beiträge anreichern möchten, stehen die Chancen für Kooperationen voraussichtlich nicht schlecht.

Wichtig ist es, sich weitere und eigene Vertriebs- und Releasewege offenzuhalten.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

© Eberhard Kehrer

Der Autor Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.

 

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