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Werkstattbericht Scrollytelling: Wie die SWR-Webdoku „Jeder Sechste ein Flüchtling“ entsteht

Für Katharina Thoms und Sandra Müller war es ein Start von null auf hundert. Die beiden Journalistinnen haben im Dezember 2014 ihre erste Scrollytelling-Webdoku gestartet: „Jeder Sechste ein Flüchtling“ – eine SWR-Langzeitdokumentation über Meßstetten, eine Kleinstadt auf der Schwäbischen Alb, in der jetzt Tausende Asylsuchende untergebracht sind. Die Dokumentation erscheint als Mehrteiler nach und nach, noch bis Dezember 2016. Drei Monate nach dem Start wurde sie für den Grimme Online Award nominiert. Sandra Müller über ihre Arbeit an dem Projekt.

Mikro dabei? Kamera im Auto? Objektive an Bord? Akkus geladen? Ersatzbatterien eingepackt? Alle Kabel im Rucksack? Zugegeben: Manchmal fühle ich mich vor Reportereinsätzen in Meßstetten wie ein Pilot vor dem Start. Nichts geht ohne Checkliste. Denn Katharina Thoms und ich machen alles selbst: Bilder, Videos, Interviews, Tonaufnahmen. Später auch Texten, Schneiden, Montieren. Und natürlich Recherchieren. Noch nie hat mich ein Projekt so umfassend beschäftigt. Noch nie habe ich so viel gelernt. Denn „Jeder Sechste ein Flüchtling“ ist meine erste Webdoku und dann auch noch ein Langzeitprojekt. Über zwei Jahre. Das erste davon liegt jetzt hinter uns.

Dass es eine Scrollytelling-Reportage werden sollte, eine Geschichte also, durch die Nutzer selber blättern können, war von Anfang an klar. Aus naheliegenden Gründen.

Scrollytelling: gut geeignet für Hintergründiges mit Denkpausen

Wir zeigen, wie ein Ort und seine Menschen sich verändern, wenn plötzlich Tausende Fremde Nachbarn werden. Diese Veränderung passiert eher schleichend und versteckt. Oft ist sie nur zu erahnen und zu spüren, wenn man genau hinhört und -schaut. Deshalb braucht es ein Erzählformat, das Nutzern Raum und Zeit lässt für eigene Gedanken. Genau das kann Scrollytelling. Eben weil die Nutzer selbst entscheiden, wann es weitergeht. Weil sie selbst bestimmen, ob sie noch mal über eine Aussage nachdenken wollen oder nicht.

Von Anfang an geplant: wenig Bewegtbild, wenig Text, viel Ton

Unsere Texte halten wir eher kurz. Sie liefern nur die notwendigen Fakten und Rahmeninfos, nicht aber Interpretationen. Und auch nicht die eigentliche Geschichte. Denn nach unserem Dafürhalten muss Scrollytelling mehr sein als ein langer Reportagetext mit ein paar modisch hinterlegten Bildern. Und es sollte mehr sein als Fernsehen mit Blätterpausen.

Wir jedenfalls haben uns früh gegen Bewegtbild wie im Fernsehen entschieden und setzen stattdessen auf ausdrucksstarke Standbilder und minimalistische Videos, in denen sich sehr wenig bewegt.

Der Grund: Die Bilder sollen nicht vom Audio ablenken. Denn im Audio, also in den Erzählungen und Aussagen der Protagonisten, steckt für uns die eigentliche Intimität unserer Geschichte(n). Die Nutzer sollen in Ruhe zuhören und dem besonderen Tonfall des Gesagten nachspüren können.

Musik spielt dabei eine wichtige Rolle: Sie soll Platz schaffen für Nachdenklichkeit beim „Zuhörschauen“. Ähnlich wie beim Nachspann im Kino: Der Film, das Gesagte ist schon weg, aber die Musik hält einen noch da, um sich Gedanken dazu zu machen. Auch szenische Geräusche und Atmo setzen wir als eine Art „Gedanken-Platzhalter“ ein.

Die Arbeit vor Ort: Augen auf, Ohren auf

Vor Ort arbeiten wir wie alle Reporter: Wir halten Augen und Ohren auf, machen viele Fotos, viele Tonaufnahmen, führen viele Gespräche. Folgende Abläufe und Prinzipien haben sich dabei bewährt:

1. Wir führen Interviews und Gespräche meist ohne Kamera, also wie Radiomacher: „unter uns“, inszenierungsfrei, unabgelenkt. Man kommt den Protagonisten so näher. Ihre Antworten sind persönlicher und intimer.

2. Bilder und Videos machen wir zu einem anderen Zeitpunkt. Oft begleiten wir die Protagonisten bei typischen Aktivitäten. Später kombinieren wir diese Bilder mit den Aussagen aus den Gesprächen.

3. Wir sind immer zu zweit vor Ort. Alleine sind multimediale Aufnahmen schwierig. Vor allem dann, wenn man zu den Fotos auch gute Atmo-Töne aufnehmen will. Üblicherweise teilen wir uns dann auf: Eine macht Ton, die andere Bild.

4. Wir tippen uns oft eine Notiz ins Handy: „Detailbilder nicht vergessen!“ Denn schon die ersten Folgen der Webdoku haben uns gelehrt: Es geht nicht ohne ereignislose Momentaufnahmen und „Atmo-Bilder“. Oft verhelfen gerade sie guten Audios zu einer besonderen Wirkung.

Kleiner Ausschnitt – große Wirkung. Beiläufigkeit als Bildprinzip, das nicht vom Hören ablenkt. http://multimedia.swr.de/asyl-suchende-fluechtlinge-in-kaserne-messstetten#520

Kleiner Ausschnitt – große Wirkung. Beiläufigkeit als Bildprinzip, das nicht vom Hören ablenkt. http://multimedia.swr.de/asyl-suchende-fluechtlinge-in-kaserne-messstetten#520

Will heißen: Beim Fotografieren darf man für so eine Webdoku nicht immer nur die Action-Szenen einfangen. Man muss bewusst auch die kleinen Details am Rande, die symbolischen Aspekte mitnehmen.

5. Videos drehen wir immer in sehr langen Sequenzen. Selten unter einer Minute. Kurze Schnittbilder wie beim Fernsehen brauchen wir nicht. In der Webdoku nehmen schnelle Bildwechsel dem Gesagten oft die Ruhe und Tiefe.

6. Man kann nie genug Material haben. Denn so reduziert die Webdoku später daherkommt, entscheidend ist die Auswahl. Wir nehmen deshalb mit, was geht, schießen oft Hunderte Fotos am Tag und machen Dutzende Audioaufnahmen, die wir alle sorgfältig katalogisieren und transkribieren.

Für die Produktion heißt das dann: weglassen, reduzieren, die Essenz finden – in Klarheit und Kürze. Das Prinzip Scrollytelling zwingt einen dazu. Glücklicherweise.

Die Produktion daheim: Mut und Zwang zum Minimalismus

Viele Scrollytelling-Formate geben einen Erzählrhythmus vor. In unserem Fall besonders stark, weil wir mit dem Programm Pageflow arbeiten. Das erlaubt, anders als sogenannte „Onepager“, keine duchgängige Darstellung auf einer einzigen Seite, die der User endlos nach unten scrollen kann. Pageflow ist, wie der Name schon sagt, eine Aneinanderreihung von einzelnen Seiten. Man muss also von Seite zu Seite erzählen. Folgende Regeln haben sich deshalb bei der Produktion von „Jeder Sechste ein Flüchtling“ als sinnvoll erwiesen:

1. Eine Seite, ein Gedanke! Wir zerlegen das, was wir erzählen wollen, in kleine Abschnitte, die jeweils auf einer Seite Platz haben. Dazu entwerfen wir auch eine Art Storyboard – auf Papier und Pinnwand! – mit klaren Aussagen für jede Seite.

Multimediales Erzählen beginnt mit Papier und Pinnwand

Multimediales Erzählen beginnt mit Papier und Pinnwand

2. Fasse Dich kurz! Wir formulieren die (einleitenden) Texte der Seiten so prägnant und kurz wie möglich. Pageflow zwingt uns dazu, weil die Texte sich nach gewisser Zeit selbst ausblenden. Anfangs fanden wir das lästig. Heute schätzen wir diesen Zwang zur präzisen Kürze.

3. Habe Mut zur Schlichtheit, Mut zur Ruhe! Wir arbeiten auf den einzelnen Seiten mit minimalistischen Videos und auch mit längeren Audio-Slide-Shows bis zu zwei Minuten Länge. Dennoch lehrt die Praxis, dass es zwischendurch immer wieder ganz schlichte Seiten braucht – mit nur einem Bild, einem kurzen O-Ton, einem kurzen Text. Solche Seiten betonen den ruhigen Grundcharakter unserer Dokumentation und die Bedeutung einzelner Aussagen und Fotos. Uns scheint es sinnvoll, dass eine Scrollytelling-Doku sich auf die Art deutlich unterscheidet von geschriebenen Reportagen, aber auch vom dokumentarischen Film.

Handgemaltes Mahnschild: Die eigenen Grundsätze nicht vergessen!

Handgemaltes Mahnschild: Die eigenen Grundsätze nicht vergessen!

4. Weniger ist mehr! So eine Blätter-Doku darf nicht zu lang sein. Viele Nutzer haben nach rund zehn Seiten einen Durchhänger. Sie dann bei der Stange zu halten, ist schwierig. Unsere einzelnen Reportageteile sind mit jeweils rund 20 Seiten schon sehr lang. Sie anzuschauen dauert jeweils um die 15 Minuten. Das geben wir auf den jeweiligen Titelseiten auch an. Die Erfahrung lehrt, dass Nutzer sich dann besser auf das Gezeigte einlassen können.

5. Finger weg von kleinteiligen Layout-Basteleien! Man ist immer wieder versucht, am Layout herumzuschrauben, mal hier eine Leerzeile einzusetzen und da einen Absatz, um den Text im Bild „schöner“ zu machen. Bringt aber nichts. Scrollytelling heißt nun mal, fürs Netz zu produzieren und damit zu leben, dass das auf jedem Bildschirm anders aussieht – je nach Darstellungsgröße. Optimieren geht, wenn überhaupt, nur auf eine Größe hin. Gut also, wenn man weiß, wo die User die Dokumentation vor allem anschauen: Daheim auf dem großen Bildschirm oder unterwegs auf dem Smartphone. In unserem Fall ist die Doku eher für den großen Desktop-Bildschirm ausgelegt.

6. Vorsicht vor Links! Hinweise auf weiterführende Informationen in ein Scrollytelling einzubauen erscheint uns ungünstig. Links wirken wie Einladungen, aus der Reportage auszusteigen – Rückkehr ungewiss. In der Gesamtwirkung ist eine Scrollytelling-Doku eben doch eher ein interaktiver, linearer Film, der einen dramaturgischen Aufbau hat. Eine sprunghafte, komplett modulare Nutzung ist kaum möglich. Manche Kritiker halten Scrollytelling-Formate ja genau deswegen für nicht massentauglich. Vermutlich spricht Scrollytelling eher ein Publikum an, das auch bereit ist, sich mit gewisser Hingabe auf ein Thema einzulassen.

Der Nutzer: längst nicht sicher im Umgang mit Scrollytelling-Reportagen

Apropos Nutzer: Gemeinhin denken wir Journalisten, dass alle Welt weiß, wie man liest, schaut und hört im Internet. Und dass längst alle wissen, wie man sich durch eine Scrollytelling-Reportage bewegt. Nach einem Jahr Webdoku sehen wir das anders. Wir haben den Eindruck, dass viele Nutzer sich gar nicht so leicht tun mit diesem Format. Besonders auffällig wurde das immer dann, wenn wir User bei der Betrachtung unserer Webdoku zugeschaut haben. Denn einiges hat uns dabei überrascht – zum Teil sehr:

1. Viele Nutzer scrollen gar nicht durchs Scrollytelling, sondern klicken sich durch! Und zwar klicken sie dafür auf den Hinweis „Scrollen, um Weiterzulesen!“ Paradox – und problematisch. Denn dieser Hinweis erscheint jeweils nur am Ende einer Seite. Ist der Text also länger als die sichtbare Seite, fehlt der Hinweis und man erreicht ihn erst durch das Scrollen. Weil die Nutzer aber nicht scrollen (können), kommen sie da nicht hin. Wir haben einige Nutzer (auch Kollegen!) ratlos vor der Webdoku sitzen sehen und dann die Frage gehört: „Und jetzt?“

2. Viele Nutzer wissen nicht, dass man durchaus einiges an der Darstellung einer Webdoku ändern kann. Die einen hatten keine Ahnung, dass man ein Vollbild einschalten kann. Manche wussten nicht, wo man den Ton reguliert. Einige waren überfordert, weil sich beim Klick auf weitere Teile unserer Dokumentation eine neue Seite im Browser öffnet, dann aber der Ton beider Webdoku-Teile zu hören war. Manche hat auch irritiert, dass sie mal ein Video selbst starten mussten, mal nicht. Kurzum: Scrollytelling ist schön, aber muss (auch deshalb) schlicht sein. Es frustriert die Nutzer sonst.

3. Manche Nutzer haben uns außerdem explizit gefragt, ob es denn nicht auch eine Autoplay-Funktion gibt. Sie wollen also gerade nicht interaktiv selbst bestimmen (müssen), wann es weitergeht. Vielleicht überschätzen wir Journalisten dieses Bedürfnis manchmal.

Dennoch: Ausprobieren!

Beflügelt hat uns aber, dass viele – auch junge – Nutzer uns zurückgemeldet haben, wie sehr sie das langsame Erzählen in unserer Dokumentation genossen haben: die Möglichkeit, einzutauchen; mal in Ruhe Situationen, Töne, Bilder erfassen zu können. Für uns ist und bleibt das die große Chance der Scrollytelling-Formate.

Wer ein Thema mit Tiefe aufarbeiten will, sollte sich also unbedingt am Scrollytelling versuchen. Tools dafür gibt es inzwischen viele. Oft sind Basis- und Testversionen kostenlos. Und selbst in der Vollversion sind viele für wenige Hundert Euro zu haben. Manche Anwendungen sind auch samt Hosting für eine monatliche Gebühr unter zehn Euro buchbar. Beispiele:

Pageflow – http://pageflow.io/de

Linius – http://linius-storytelling.de/

Klynt – http://www.klynt.net/

Exposure – https://exposure.co/

Atavist – https://atavist.com/

Storyform – https://storyform.co/

Wofür die jeweiligen Programme geeignet und zu empfehlen sind, liest man bei bleiwüsten.de oder onlinejournalismus.de.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Sandra MuellerDie Autorin Sandra Müller arbeitet als Redakteurin, Moderatorin und Reporterin überwiegend für den Südwestrundfunk, manchmal auch im TV. Sie bloggt und twittert unter anderem über zu wenig multimediale Experimentierfreude der deutschen Hörfunker. Seit Dezember 2014 begleitet sie in der Webdoku „Jeder Sechste ein Flüchtling“ eine Kleinstadt auf der schwäbischen Alb, in deren ehemaliger Kaserne jetzt Tausende Asylsuchende untergebracht sind. Sandra Müller lehrt u. a. an der Universität Tübingen und der ARD.ZDFmedienakademie. Ihr Buch „Radio machen“ ist 2014 in 2. Auflage im UVK-Verlag erschienen.

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