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Zahlen, bitte! Die Macht der Zahlen im Journalismus

Zehn Jahre liegt sie mittlerweile zurück – die Finanz- und Wirtschaftskrise, die das Potenzial hatte, rund um den Globus Wirtschaftssysteme kollabieren zu lassen. Die Medien begleiten seitdem wirtschaftliche und politische Ereignisse zunehmend mit Infografiken. Zahlen oder auf Zahlen beruhende Darstellungen sorgen für Aufmerksamkeit, bringen Sachverhalte auf den Punkt, sind Währung in Form von Klicks und Likes – und anfällig für Fakes.

Spätestens seit der Finanzkrise 2008 hat sich die Berichterstattung im Bereich Wirtschaft gewandelt. Nach der Pleite der Lehman-Bank begann die Ursachenforschung. Haben einst Börsenkurse die ansonsten eher textlastigen Beiträge ergänzt, informieren nun Infografiken und Zahlen kompakt über Zusammenhänge. Aber die Konkurrenz ist größer geworden. Es wetteifern nicht nur die klassischen Medien – wie Zeitung, Zeitschrift, Rundfunk und Fernsehen – um Aufmerksamkeit, im Netz potenzieren sich weitere Stimmen und Meinungen. Um aus dieser enormen Flut an Informationen herauszuragen, setzen zahlreiche Beiträge auf die Macht oder – man kann sogar sagen – die Magie der Zahlen.

Der sogenannte Ankereffekt übt dabei einen bedeutenden Einfluss auf das menschliche Urteil aus: Zahlen werden unbewusst zum Referenzpunkt für Folgeentscheidungen – selbst dann, wenn sie in keinem rationalen Zusammenhang stehen. Dieses psychologische Phänomen ist ebenso bizarr wie gut erforscht; in Studien stieg beispielsweise die durchschnittliche Spendenbereitschaft mit der Zahl, die zuvor in einer Ankerfrage genannt worden war. Sogar Experten sind nicht immun gegenüber diesem Effekt. So orientierte sich der Urteilsspruch von erfahrenen Richtern in einem Experiment an der zuvor gewürfelten Zahl. Der Verhaltensökonom Daniel Kahneman führt dies darauf zurück, dass das menschliche Denken in zwei unterschiedlichen Modi stattfindet (Kahnemann 2012). Das System 1 arbeitet gewissermaßen automatisch und wunderbar mühelos, wenn schnell reagiert werden muss. Für gründliches Nachdenken steht dann das System 2 im Stand-by-Modus zur Verfügung. Es bedient sich aber zunächst der Daten, die automatisch vom System 1 aus dem Gedächtnis abgerufen werden. In den meisten Fällen ist die Arbeitsteilung der beiden Systeme effizient. Auch der Ankereffekt lässt sich in Schach halten, wenn System 2 stärker aktiviert wird.

Damit also keine Zahl zur „miesen Nummer“ wird, sollten vor ihrer Veröffentlichung folgende Fragen geklärt sein:

  • Wer ist der Auftraggeber?
  • Wie erfolgte die Berechnung?
  • In welchen Kontext ist sie einzuordnen?

Lobbyisten als Auftraggeber?

Im Laufe eines Gesetzgebungsverfahrens ist es durchaus üblich, Stellungnahmen von Interessenverbänden einzuholen. In der Regel verfügen diese auf ihrem Gebiet über detaillierte Informationen. Allein die Liste der registrierten Lobbyisten – Stand Oktober 2018 sind dies 2.363 Verbände mit mehr oder weniger Einfluss – deckt ein breites Spektrum der Gesellschaft ab. Vertreten sind nicht nur Branchen oder Berufe, sondern auch kulturelle, soziale und religiöse Bereiche. Zahlreiche Statistiken und Studien werden also von Verbänden, Wirtschaftsinstituten oder statistischen Ämtern herausgegeben. In regelmäßigen Abständen flammt dann eine Diskussion über die Aussagekraft von Zahlen auf, beispielsweise, wenn unterschiedliche Definitionen für Armut verwendet werden.

Heikel wird es dagegen, wenn der interessengeleitete Einfluss der Urheber nicht unmittelbar erkennbar ist. So waren die Bewertungsnoten der großen Ratingagenturen vor der Lehman-Pleite von intransparenten Entscheidungen und Interessenkonflikten geprägt: Topnoten gegen Aufträge. Auch hinter den neuen Währungen im digitalen Medienzeitalter – den Klicks, Sternchen, Likes und Followers – können möglicherweise Auftraggeber stehen. Noch gibt es keine hohen Hürden für Fake-Bewertungen. Die Plattformen sind indessen aufgefordert, endlich wirksame Maßnahmen gegen Manipulationen zu ergreifen.

Vielleicht können bezahlte Pressebeiträge hier als Vorbild dienen: Sie müssen als Anzeige gekennzeichnet sein.

Welche Berechnungsmethode?

„42!“ spuckte der Supercomputer Deep Thought „auf die große Frage nach dem Leben, dem Universum und allem“ aus (Adams 2012). Klar, eine Antwort hängt immer davon ab, wie präzise die Frage dazu gestellt wurde. Eine Zahl ist also immer nur so gut wie ihre Berechnungsmethode.

Drei Millionen Jobs – so das Weiße Haus – habe die US-Wirtschaft infolge der „Pro-Wachstums-Agenda“ von Trump geschaffen. Ein Online-Magazin für Wirtschaftspolitik überprüfte daraufhin diese Zahl anhand einer statistischen Analyse, die auch anderen Forschern für eine Nachprüfung zugänglich ist (Born et al. 2018). Ein Zusammenhang zwischen der verkündeten Zahl und Trumps Wirtschaftspolitik konnte darin nicht festgestellt werden.

Ein weiteres Beispiel: Manch öffentlich genannte Zahl ist nicht mehr in Stein gemeißelt, wenn die Methode ihrer Berechnung  beachtet  wird. „Fast die Hälfte der Jobs könnte durch künstliche Intelligenz vernichtet werden“, so hallte es als Echo in einigen Medien wider (Rauner 2017). Diese Größe basiert auf einer Hochrechnung des Ökonomen Carl Benedikt Frey und des Informatikers Michael Osborne von der Universität Oxford. Allerdings war die Studie kaum repräsentativ, denn die beiden Wissenschaftler hatten dazu nur zehn Robotik- und Computerforscher zum Gespräch eingeladen. Auch wenn diese Einschränkung auf dem Weg in die Öffentlichkeit verloren ging, wurde sie allerdings an mancher Stelle nachgeholt.

Auch der prominente Indikator für das Wirtschaftswachstum, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), weist bei genauerer Betrachtung Mängel auf. Gepresst in eine einzige Zahl wird mit dem BIP seit Jahrzehnten gemessen, wie sich die Wirtschaft der einzelnen Länder entwickelt hat. Der Charme dieses Wohlstandsindikators liegt in erster Linie in seiner scheinbar einfachen Quantifizierbarkeit. Aber das BIP bildet eben nur einen Bruchteil der wirtschaftlichen Leistung ab. Nicht enthalten sind etwa Schwarzarbeit, Umweltschäden (solange sie nicht entgeltlich wieder beseitigt werden) oder Sorgearbeit (Care in der Familie oder ehrenamtlich); so steigt das BIP, wenn Angehörige nicht mehr zu Hause, sondern in einem Heim gepflegt werden.

Die Berechnungsmethode hat ihre Wurzeln bereits im 17. Jahrhundert, obwohl das BIP erst nach der Weltwirtschaftskrise 1929 an Popularität gewann. Somit bildet es im Grunde genommen die moderne Wirtschaft nur noch unzureichend ab. Diese ist zunehmend digital, der Nutzer zahlt mit seinen Daten; im Prinzip ist es ein Tausch, der nicht im BIP abgebildet wird. Werden aber Bereiche nicht erfasst, tauchen sie weder in einer Unternehmensbilanz noch im BIP auf. Eine Verschmutzung des Grundwassers oder der Luft trüben kaum den offiziellen Jahresüberschuss oder das amtliche Wirtschaftswachstum.

Aber es gibt mittlerweile moderne Ansätze. Der neue UN-Report „The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ (TEEB 2018) könnte beispielsweise ergänzend herangezogen werden. David Graeber, Autor des Bestellers „Schulden“, ist sogar noch radikaler und hält in seinem neuen Buch einen absoluten Wertmaßstab für unmöglich (Graeber 2018). Für einen in die Krise geratenen Journalismus würde es sich möglicherweise lohnen, über neue und ungewöhnliche Herangehensweisen nachzudenken.

Richtiger Kontext?

Um nicht für Manipulation missbraucht zu werden, gehören Zahlen in den richtigen Kontext. Der Rahmen (Frame), in den eine Information eingebettet ist, beeinflusst gleichermaßen Urteil und Entscheidungen. Gut messbar ist die Wirkung der bereits erwähnten Ankerzahlen. System 1, unser sogenanntes Bauchgefühl, neigt zu emotionalen Framing – oder, anders ausgedrückt: Es bevorzugt Gewinne und vermeidet Verluste. Gemeinsam mit Amos Tversky führte Daniel Kahneman zahlreiche Experimente durch, in denen immer wieder die menschliche Neigung zur Verlustaversion beobachtet wurde (Kahnemann 2012). An der Harvard Medical School sollten sich teilnehmende Ärzte beispielsweise zwischen zwei Behandlungsmethoden für Lungenkrebs entscheiden. Über einen Zeitraum von fünf Jahren betrachtet, war eine Operation – obschon kurzfristig riskanter – im Vergleich zur Bestrahlung erfolgreicher. Die statistischen Daten der kurzfristigen Überlebens- respektive Sterblichkeitsrate wurden jedoch in die beiden folgenden Frames eingeteilt:

  1. Die Ein-Monats-Überlebensrate liegt bei 90 Prozent.
  2. Im ersten Monat beträgt die Sterblichkeitsrate zehn Prozent.

Die Ärzte, welche die Information in Form der Überlebensrate (1. Frame) erhielten, bevorzugten mit über 80 Prozent die Operation. Anders die Mediziner, welchen die Information auf Basis der Sterblichkeitsrate (2. Frame) mitgeteilt wurde. Immerhin die Hälfte entschied sich anschließend für die Bestrahlung.

Auch grafische Darstellungen bieten enormen Spielraum zur Beeinflussung der Wahrnehmung. So veränderte eine Bank in ihrem Geschäftsbericht die Skalierung ab der 2.000-Markierung (Abb. 1), wodurch ein stärkeres Wachstum der Bilanzsumme suggeriert wurde. Der Versuch war allerdings leicht durchschaubar und trug ihr den Titel „schlechteste Grafik der Welt“ ein. Meist reicht aber schon ein geänderter Startpunkt der Achse, um Veränderungen optisch größer oder kleiner wirken zu lassen (Abb. 2).

Abb. 1: Geänderte Skalierung ab 2.000 (Quelle: WDR, Quarks & Co https://www.wdr.de/tv/applications/fernsehen/wissen/quarks/pdf/Q_Zahlen.pdf)

Abb. 2: Geänderter Startpunkt der Achse

Im Jahr 2016 hätte eine Schlagzeile so lauten können: „Dänemark hat mit 45,9 Prozent eine der höchsten Steuerquoten“ oder „Fast die Hälfte kassiert der dänische Staat“. Dieser Prozentsatz ist in den offiziellen Statistiken nachzulesen (BAMF 2018). Er relativiert sich aber, wenn ergänzt wird, dass dort alle Sozialsysteme steuerfinanziert sind. Die Bürger Dänemarks werden also nicht stärker belastet, da keine Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung zusätzlich erhoben werden. Der Kontext wäre somit zu eng gewählt.

Fazit

Fake News – die Schlacht um die Deutungshoheit tobt mittlerweile rund um den Globus. Manche sehen bereits die Demokratie in Gefahr. Insbesondere der richtige Umgang mit Zahlen kann Aussagen stützen und damit zur Versachlichung der Debatten beitragen. Eine solche Transparenz ist ein Qualitätsmerkmal des Fachjournalismus, der auch die Fallstricke einer verzerrten Wahrnehmung meidet.

Literatur:

Kahneman, Daniel 2012: Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler Verlag, München.

Adams, Douglas (2012): Per Anhalter durch die Galaxis. Heyne Verlag, München.

Born, Benjamin; Müller, Gernot; Schularick, Moritz; Sedláček, Petr 2018: Stable Genius – Welche Rolle spielt Trump für die US-Konjunktur? Makronom, 23.07.2018.

Rauner, Max (2017): Die Pi-mal-Daumen-Studie. Zeit Online, 23.03.2017.

TEEB (2018): TEEB for Agriculture & Food: Scientific and Economic Foundations. Genf.

Graeber, David (2018): Bull Shit Jobs. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart.

BMF – Bundesministerium für Finanzen (2018): Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2017; Rechtsstand zum 31.12.2017.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Die Autorin Birgit Groschwitz-Fiebig ist Diplom-Volkswirtin (univ.), gepr. Bilanzbuchhalterin (IHK), Certified IFRS Accountant (advanced) und freie Journalistin. Schwerpunkte sind die Themenbereiche Wirtschaftspolitik, Finanzen, Steuern sowie neue und interdisziplinäre Ansätze. Zuvor arbeitete sie im Controlling als Lehrbeauftragte für Makroökonomik.

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