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Zeit zum Hören – Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus

Anmerkung: Bei dem Beitrag handelt es sich um den Gewinnertext des Schreibewettbewerbs „Journalistische Trendthemen“ des Deutschen Journalistenkollegs in der Kategorie „Langsamer Journalismus“. Mehr Informationen darüber erhalten Sie hier.

Gute Musik ist wie gutes Essen. Sie benötigt Zeit. Mit gutem Musikjournalismus verhält es sich ebenso. Analog zur Slow-Food-Bewegung wird es Zeit, die Lanze für einen langsamen Musikjournalismus und damit einhergehend eine langsame Musikkritik zu brechen. Ein Plädoyer.

Auch und gerade in Zeiten der Algorithmenherrschaft haben die automatischen Empfehlungen bei Amazon & Co allen Kassandrarufen zum Trotz den Beruf des Musikkritikers nicht hinfällig werden lassen – ganz im Gegenteil. Diese Algorithmen können aufgrund struktureller und damit letztendlich technisch-mathematischer Ähnlichkeiten von Musikstücken Wahrscheinlichkeiten à la „gefällt dieses, gefällt auch jenes“ vorhersagen. Der Musikkritiker indessen bringt neben seiner Expertise auch genügend Leidenschaft ins Spiel, die seine Leser im besten Falle dazu anstiftet, auch solchen Klängen eine Chance zu geben, die keinerlei Ähnlichkeiten mit bisherigen Vorlieben aufweisen. In diesem Sinne erschließt der Kritiker neue Klangsphären und ist damit Mittler zwischen zwei Welten. Er übersetzt, dem bekannten Aphorismus „über Musik schreiben ist wie über Architektur tanzen“ wacker trotzend, aus dem Medium des Klanges ins Reich der Worte.

„Die Kunst der Rezension“, schreibt Musikjournalismus-Professor Holger Noltze, „liegt darin, auf einfallsreiche Weise für ihren Gegenstand zu interessieren. Das setzt voraus, dass sich der Kritiker selbst interessiert.“ Dem Algorithmus ist Leidenschaft ebenso fremd wie jegliche andere menschliche Regung. Was das nun mit Langsamkeit und Essen zu tun hat? Alles.

Junk in Nahrung und Musik

Im Manifest der Slow-Food-Bewegung, verfasst 1989 vom italienischen Lebens(mittel)qualitäts-Aktivisten Carlo Petrini, heißt es:

„Die Industriegesellschaft hat zuerst die Maschine erfunden und nach ihr das Leben modelliert. Mechanische Geschwindigkeit und rasende Beschleunigung werden zur Fessel des Lebens. Wir sind alle von einem Virus befallen: ‚Fast Life!‘ Unsere Lebensformen sind umgestürzt, unser häusliches Dasein betroffen nichts kann sich der ‚Fastfood-Bewegung‘ entziehen. Aber der Homo sapiens muss sich von einer ihn vernichtenden Beschleunigung befreien und zu einer ihm gemäßen Lebensführung zurückkehren. Es geht darum, das Geruhsame, Sinnliche gegen die universelle Bedrohung durch das ‚Fast Life‘ zu verteidigen.“

„Junk“ ist nicht nur ein Problem in der – vor allem, ohne hier der künstlichen Trennung zwischen E- und U-Musik das Wort reden zu wollen, populären – Musik, sondern hat sich desgleichen in den Musikjournalismus eingeschlichen. Wurde schnell und einfach konsumierbaren „Junk-Klängen“ anfangs noch eine kritische Gesinnung entgegengehalten, ist die Rolle des Kulturpessimisten mithin unmodern geworden. Nicht selten lassen sich selbst gestandene Musikjournalisten in die Rolle des Hofberichterstatters von allenfalls mittelmäßigen Musikern drängen. Es gibt einen fertigen Pressetext? Toll! Muss ich mir selbst nichts ausdenken. Aufbereitete O-Töne? Super! Muss ich kein Interview mehr machen. Und die Platte brauche ich ohnehin nicht mehr, kann ich doch bei Amazon oder iTunes in sie hineinhören – in Form von dreißigsekündigen Snippets, die vollkommen ausreichen, um mir ein fundiertes Urteil zu bilden. Wen interessieren da noch Parameter wie songimmanente Entwicklung oder ausgeklügelte Albumdramaturgie? Wo solch ein liebloses Vorgehen schlechter Musik von Herzen zu gönnen ist, leidet die mit Herzblut gemachte Musik darunter, die doch eigentlich Nahrung unserer Seele sein soll.

Die Gegenbewegung: der „extrem langsame Anti-Journalismus“

Es ist an der Zeit, dass wir Musikjournalisten uns endlich auch der sich allmählich formierenden Gegenbewegung eines „extrem langsamen Anti-Journalismus“ anschließen, die 2010 von Medien-Professor Bernhard Pörksen ausgerufen wurde. Wir sind es uns schuldig, uns selbst wieder ernst zu nehmen, auf dass auch der Leser uns wieder ernst nimmt und nicht dem populären Irrtum aufsitzt, Musikkritik sei nichts weiter als die öffentliche Äußerung privaten Geschmacks.

In einer idealen Welt wäre Gehörbildung keine enervierende Übung, um große von kleinen Septimen unterscheiden zu lernen. Gehörbildung wäre vor allem Geschmacksbildung, die auf einer täglich größer werdenden Repertoirekenntnis fußt. Nur, wer werksimmanente Vor-, Rück- und Querverweise richtig einordnen kann, ist in der Lage, ein Musikstück oder auch einen musikalischen Gag, den sich ein Komponist erlaubt, richtig zu verstehen. Und das gelingt nur mittels zahlloser Stunden, die mit dem Hören von Musik verbracht werden.

Hinhören – Verstehen – Vermitteln

Um es auf eine simple Formel zu bringen: Wer mehr weiß, hört besser. Wer mehr weiß, kann auch seiner Rolle als Vermittler besser gerecht werden, beruht die Autorität des Kritikers letzten Endes doch auf Kompetenz. Es ist nicht unbedingt die sorgfältige Recherche, die guten Musikjournalismus ausmacht – vielmehr ist es das fundierte, nachvollziehbare Werturteil des Musikjournalisten. Solch ein Urteil muss argumentativ gestützt sein – und nicht durch eine im Hintergrund ablaufende, automatisierte Wahrscheinlichkeitsrechnung. Kompetenz aber gibt es nicht als „Fast“-Variante, es sei denn, man ist nicht auf fundiertes Wissen aus, sondern will nur dessen Anschein erwecken. Das funktioniert zwar erschreckend oft erschreckend gut, hat mit dem Geist eines wahrhaftigen ‒ und insbesondere auch sich selbst gegenüber authentischen ‒ Musikjournalismus indes nichts mehr zu schaffen.

Hören im Sinne von nicht nur Anhören, sondern vielmehr von Hinhören, von Zuhören, scheint jedoch längst nicht mehr selbstverständlich. Das schönste Lob heutzutage ist, wenn gesagt wird, der Rezensent hätte die Platte ganz genau gehört. Genaues, ja differenziertes Hören kommt zwingend vor dem Verstehen. Wenn der besprochene Musiker äußert, noch nie hätte jemand die Platte so gut verstanden wie der Rezensent, fühlt sich dieser in seiner Herangehensweise als Vielhörer bestätigt. Und wenn es dann noch gelingt, den – mal mehr, mal weniger vorgebildeten – Leser mit ins Boot zu holen, der zurückmeldet, die Rezension habe das Hörbare lesbar gemacht, scheint das höchste und vornehmste Ziel der Musikkritik erreicht.

Voraussetzung für den Dreiklang des langsamen Musikjournalismus, der hier mit Hinhören – Verstehen – Vermitteln kurz gefasst werden soll, ist Zeit. Unter Umständen sehr viel Zeit. Mit einem Album muss man leben, um ihm gerecht zu werden. Es hat Zeit gebraucht, es aufzunehmen, es braucht Zeit, es zu rezipieren. Nicht zuletzt hat das etwas mit Respekt zu tun.

Die Entdeckung der Langsamkeit

In einer Ära, die den „schleichenden Tod der Musikkritik“, wie jüngst die Universität Dresden, zum Forschungsgegenstand erhebt und der schon das gedruckte Magazin gegenüber einer täglich aktualisierten Website als „Slow Music Journalism“ gilt, ist langsamer Musikjournalismus nicht nur gänzlich unwirtschaftlich, sondern vor allem purer Idealismus. Idée fixe und gleichzeitig Amour fou. Völlig aus der Zeit gefallen. Schließlich verlangt nicht nur das Schreiben über Musik nach Zeit, sondern auch das Lesen. Allein dies Anhalten(müssen), Sich-Zeit-nehmen-Müssen kann indes therapeutische Wirkung haben:  Der Gedanke, sich nur mit einer Sache zu beschäftigen und dafür aus dem Alltag auszuklinken, ist in unserem immer komplexer werdenden Alltag verlockend wie nie. Er lässt langsamen Journalismus ‒ und seine Rezeption! ‒ nicht mehr als liebenswerten Anachronismus erscheinen. Sondern im Gegenteil als höchst zeitgemäße Antwort auf die Anforderungen eines modernen Lebensstils, in dessen Zuge sich völlig neue Nutzungsgewohnheiten entwickelt haben – die zwar mit Fast-Food-Journalismus bedient oder gar gefördert werden können, denen sich aber auch das bewusste Angebot zur Entschleunigung entgegensetzen lässt. Vornehmliche Aufgabe eines langsamen Musikjournalismus kann dann sein, dem Leser eine Zeit des „Single-Tasking“ zu verschaffen und ihm spürbar zu machen, dass Selbstrestriktion in der heutigen Zeit kein Mangelzustand, sondern ein Geschenk ist.

Andererseits können wir es nicht leugnen: Das Internet hat unsere Hirne unwiderruflich verändert. Vor allem den für Entscheidungen zuständigen präfrontalen Cortex, der dank exzessiven Hierhin- und Dorthinsurfens in zunehmendem Maße auf der Suche nach dem nächsten Kick durch den nächsten Klick ist. Ein Nutzungsverhalten, das auch auf den Konsum herkömmlicher Medien rückwirkt. Darauf müssen sich auch Zeitschriftenhersteller durch entsprechende Aufbereitung einstellen. Aber wollen wir wirklich in einer Welt der oberflächlichen Informationshäppchen leben?

Gerade Fach- und Special-Interest-Zeitschriften sollten sich in der Verantwortung sehen, fundierte Geschichten bis hin zur verpönten Bleiwüste zu liefern. Das kann abschrecken. Und anstrengen. Und doch es ist richtig, den Leser zu fordern. Auch das hat etwas mit Respekt zu tun. Von seinem Fachblatt will der Leser keine Unterhaltung. Schließlich hat er sich beim Gang zum Kiosk nicht für die farbenfrohe Illustrierte entschieden, sondern für eine Zeitschrift, die sich mit seinem Leib- und Magenthema befasst. Dem bringt der Leser per se Interesse entgegen – und zwar eines, das die Mühe nicht scheut.

Fazit

Als Fachjournalismus ist Musikjournalismus per definitionem langsamer Journalismus. Guter, respektabler, ich bin versucht zu sagen richtiger Umgang mit der klingenden Materie setzt Zeitnehmen und Zeithaben voraus. Derweil ist Zeit auch hier Geld: Wer den wirtschaftlichen Nutzen im Sinn hat, sollte einen anderen Beruf ergreifen. Langsamer Musikjournalismus muss ‒ ebenso wie eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion sowie jede Art von Kunst- und Kulturäußerung ‒ das Spielfeld der Wirtschaftlichkeit komplett verlassen. Dabei muss es ihm gelingen, Menschen anzusprechen, die ihn unterstützen, auf dass er damit weitermachen kann, was er muss: eine Platte ein-, zwei-, gar dreimal zu hören. Aus seinen Notizen Sätze zu formen, um den jeweils noch besseren Begriff, den treffenderen Vergleich, die passendere Referenz zu ringen. Es ist die einzige Art, Musikjournalismus zu betreiben, der seinen Namen verdient.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Victoriah SzirmaiDer Autorin Victoriah Szirmai hört Musik und schreibt darüber. Unter anderem für das Online-HiFi-Magazin „fairaudio.de“ und  „Jazz thing. Seit 2014 hat sie eine eigene Kolumne bei „JAZZthetik„, außerdem ist sie Musikautorin für das Berliner Stadtmagazin „Zitty. Als Dozentin gibt die studierte Musikwissenschaftlerin Seminare zu Themen wie „Grundlagen der Musikkritik“, „Gehörbildung als Geschmacksbildung“ und „Traumberuf Musikjournalist? Existenzgründungscoaching mit Schreibwerkstatt“. Victoriah Szirmai ist Schülerin des Deutschen Journalistenkollegs.

Kommentare
  1. Sebastian Netta sagt:

    Liebe Victoriah,
    viele Dank für Ihren fantastischen Artikel. Ich wünschte, auch unser Publikum würde sich diese Ansichten zu eigen machen. Irgendwie ist es nicht mehr schick, sich zu bilden.

    Nochmals Danke und
    Weiter so!

    Sebastian Netta
    Münster

  2. Manuel sagt:

    Liebe Victoria,
    Ihr Beitrag spricht mir aus dem Herzen. Auch ich benötige oft Stunden um Stunden um eine Platte nach dreimaligem (und öfter) Hören zu besprechen. Es ist aber der einzige Weg, es gut oder sehr gut zu machen! Da haben Sie so recht! Es schmerzt aber trotzdem, dass herausragende Musikkritik nicht mehr (finanziell) belohnt wird.

    Manuel Stangorra
    Leipzig

  3. Liebe Victoriah Szirmai,
    schöner Artikel, der dankenswerter- und klugerweise auch gar nicht erst darüber lamentiert, dass die gewöhnlichen Arbeitsbedingungen für Musikjournalisten jegliche Langsamkeit ja leider torpedieren – einmalige Listening Sessions der Labels, auf deren Grundlage man Pop-Platten beurteilen soll, Vorab-Streams, die nur am Rechner gehört werden können etc.
    Zusätzlich zu den von Ihnen genannten Dingen würde ich mir auch wünschen, dass die vermeintlichen Meinungsführer der Branche ihre Arbeit mal etwas mehr auf die Musik selbst, ihre Rahmenbedingungen und die Motive der Künstler richten würden statt Musikkritik in erster Linie als Ausweis der eigenen Hipster-Identität zu begreifen (sage mir, was du hörst, und ich sage dir, ob du cool bist). Wer sich wirklich für Musik interessiert, der will mehr über sie erfahren, will lernen und nicht wissen, ob er den entsprechenden Musiker gut finden darf, weil das irgendein geheimes Hipness-Kartell gerade so beschlossen hat.
    Schönen Gruß aus München!
    Ernst Hofacker