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Wie Videos viral gehen

Für soziale Bewegungen und NGOs sind die sozialen Medien und das Medium Video inzwischen zentrale Leitmedien. Fridays for Future, Greenpeace und die Kirchen mobilisieren mit Webvideos auf Facebook und YouTube für Kampagnen, Veranstaltungen oder Fundraising. Dass aber Produktion und Upload eines Films auf das eigene Facebook-Profil nur die halbe Miete ist, merken viele erst, wenn es kaum einmal Klick macht. Helfen kann dann ein gezieltes Seeding, um das Video, im besten Fall über die eigene Community hinaus, zu verbreiten. Wie funktioniert Seeding? Was muss man dabei beachten und welche erfolgreichen Beispiele gibt es? Der Fachjournalist sprach darüber mit dem Seeding-Experten Jan Heilig und mit Johannes Rogge, Multimediaredakteur beim Erzbistum Berlin.

Ob Fridays for Future, Ende Gelände, Greenpeace oder die katholische Kirche: Vor dem Internet sind alle gleich. Auf Videos zur Mobilisierung kann keine Nichtregierungsorganisation (NGO) mehr verzichten. An Produktionsfirmen herrscht kein Mangel. Der Upload auf den eigenen YouTube-Kanal, das Facebook- oder Instagram-Profil der Organisation, oder die Verbreitung via Twitter ist technisch unproblematisch.

Dort erreicht das Video dann zuverlässig die eigene Community. Der Traum jedes Social-Media-Redakteurs ist es aber, dass sein Content über die eigene „Filterblase“, die „Bubble“, hinaus „viral geht“ – also von immer mehr fremden Menschen geklickt, gelikt, retweetet, gelinkt, kommentiert und weiterverbreitet wird. Idealerweise verbreitet sich das Video also ohne eigenes Zutun, nur aufgrund des Clips selbst.

Unterstützung bei der Verbreitung

In der Regel muss die Verbreitung unterstützt werden, entweder über ein organisches Seeding oder über ein paid Seeding. Bei Letzterem zahlt man für eine Verbreitung bei den großen Plattformen. Beim organischen Seeding dagegen gewinnt man durch direkte Ansprache spezielle Multiplikatoren. Das können Seitenbetreiber, Webmaster, Influencer, Journalisten oder Blogger sein.

Ein prominentes Beispiel dafür, wie ein Video mit sozialem Content aus der Community über organisches Seeding in die virale Verbreitung geht, ist „All that we share“ vom dänischen TV-Sender TV 2. Der dreiminütige Social Spot thematisiert die Themen Ausgrenzung und Toleranz in einem Gruppenexperiment und war zunächst nur im dänischen Sprachraum bekannt. Bis ihn der Berliner Filmemacher und Seeding-Spezialist Jan Heilig entdeckte. Der betreibt für NGO-Kunden mit filmbit eine Filmproduktion und mit okayfactor eine Agentur für die Contentverbreitung in sozialen Netzwerken.

Heilig war begeistert von „All that we share“ und beschloss, den Clip international bekannt zu machen. In Absprache mit TV 2 sorgte er zunächst für deutsche Untertitel. Dann fand er zwischen 300 und 400 Personen, die den Spot in ihren Social-Media-Umgebungen posteten. Da viele Menschen das Video von der deutschen in ihre jeweilige Landessprache übersetzten und in ihren Communities verbreiteten, ging der Film irgendwann viral und wurde international bekannt. Inzwischen hat „All that we share“ die Marke von 20 Millionen Klicks überschritten. „Dafür haben wir keinen Cent bekommen – das haben wir pro bono gemacht“, berichtet Heilig.

Zuletzt betreute der Berliner eine Seeding-Kampagne für die NGO Freunde alter Menschen, ein Verein, der Besuchsdienste für einsame alte Menschen organisiert. Der hatte zu Weihnachten eine Fundraising-Aktion gestartet und Heiligs Agentur seedete den dazugehörigen Clip auf Instagram und auf Facebook. „Wir haben Gruppen recherchiert und angesprochen, zu denen der Content thematisch passte, also zum Beispiel Pflegenetzwerke oder Angehörige von Pflegepatienten. So konnten wir die Zahl der Follower des Accounts verdoppeln“, erinnert sich Jan Heilig.

Der Weg zum professionellen Seeding

Zum Seeding von Videos kam der Filmemacher über Umwege. Als 2015 die Syrienkrise eskalierte, besorgte Heilig über sein persönliches Netzwerk für das ZDF Videomaterial aus Syrien, weil zeitweise keine Korrespondenten mehr vor Ort eingesetzt werden konnten.

Parallel produzierte der Berliner ohne Kundenauftrag dort den Film Syria Inside. Dessen syrischer Regisseur, Tamer Alawam, der zuvor nach Deutschland geflüchtet war, kehrte für den Dreh in den Krieg zurück. Er kam während der Dreharbeiten ums Leben. Für ihn sprang der junge syrische Schauspieler und Filmemacher Firas Alshater ein, der dann ebenfalls nach Deutschland kam, um das Projekt hier fertigzustellen.

Mit Alshater entwickelte Heilig die YouTube-Serie „ZUKAR“ mit kurzen Clips, in denen der junge Syrer aus der Perspektive eines Geflüchteten den deutschen Alltag kommentiert. Die ZUKAR-Folge „Wer sind diese Deutschen?“ ging viral und erreichte über 2,5 Millionen Klicks auf YouTube und Facebook. Mittlerweile hat es Alshater ins Fernsehen geschafft und veröffentlicht Bücher.

An der Prominenz von ZUKAR und seinem Host wollten dann andere NGOs partizipieren. Für Heilig und Alshater entwickelten sich daraus Folgeaufträge. So präsentierte Alshater bei YouTube Verbrauchertipps für Geflüchtete, im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbzv).

„Durch die Arbeit im NGO-Bereich habe ich schnell gelernt, dass die größere Herausforderung nicht darin besteht, ein Video zu produzieren, sondern darin, den fertigen Film effizient und effektiv zu verbreiten, zu seeden. Einen Film einfach nur auf den eigenen Facebook- oder Insta-Account hochzuladen, reicht heute längst nicht mehr“, ist sich Jan Heilig sicher.

Seeding – was heißt das?

Das Buzzword „Seeding“ kann man einfach mit dem deutschen „Säen“ übersetzen. Man sät das Video im Internet aus, damit es dort weitere Aufmerksamkeit generiert und weiter verbreitet wird.

Seeding ist dabei zumeist ein kommunikativer und händischer Prozess, im Unterschied zu den von den Plattformen eingesetzten Algorithmen, die Content atomatisiert auf Profilen oder in Ergebnislisten platzieren. Eines führt aber auch zum anderen: „Ein Content muss ja initial auf bestimmte Klickraten kommen, um von Facebook, Instagram oder Twitter als relevant erkannt und ausgespielt zu werden. Wenn 500 Personen ein Video teilen, klappt das besser. Und das persönliche Seeden über reale Menschen, vielleicht auch über die eigene Bubble hinaus, ist effizienter als der Algorithmus“, glaubt Jan Heilig.

Aber ab wie vielen Shares und Klicks gilt ein Clip als erfolgreich geseedet, ab wann bekommt die Verbreitung eine Eigendynamik und geht in die Viralität? Die Zahl der Aufrufe ist, zum Beispiel auf YouTube, öffentlich einsehbar. So steht das Zählwerk bei „All that we share“ inzwischen bei 7,9 Millionen. „Und natürlich reden wir hier nicht über typischen Influencer-Content, wie Schmink- oder Shoppingtipps“, gibt Jan Heilig zu bedenken.

Sie säen und sie ernten – Kirchen in sozialen Medien:

Einer von Heiligs Kunden ist das Erzbistum Berlin. Dort verantwortet Johannes Rogge als Multimediaredakteur Kampagnen in den Sozialen Medien. Auch er setzt ganz konkret auf Webvideos und Seeding: „Wir hatten vor Weihnachten eine Aktion, bei der unser Bischof Berufsgruppen besuchte, die – zum Wohle aller – regelmäßig während der Nacht und auch an den Feiertagen arbeiten müssen: Feuerwehrleute, Krankenhauspersonal, Polizei, Sozialarbeiter in der Obdachlosenarbeit. Diesen Besuch haben wir filmisch begleiten lassen“, berichtet Johannes Rogge.

Das so entstandene Video sollte dann gezielt über thematisch passende Gruppen und Fanpages auf Facebook verbreitet werden. Dazu wurden Facebook-Seiten und -Gruppen, etwa der Freiwilligen Feuerwehren oder des Technischen Hilfswerks (THW), durch die Agentur kontaktiert. Deren Administratoren und Onlineredakteuren wurde das Video, bereits im Vorfeld seiner Entstehung, aktiv angeboten – als passender Content zur Weihnachtszeit. „Manche meldeten sich gar nicht zurück, andere mit Absagen, weil sie keinen fremden Content teilen wollten, andere wiederum griffen freudig zu“, erinnert sich Rogge.

Nach der Fertigstellung des Videos meldete sich die Seeding-Agentur in thematisch passenden Facebook-Gruppen an und teilte das Video dort selbst. „Am besten funktioniert die Verbreitung über Gruppen natürlich immer dann, wenn der Facebook-Algorithmus das Video den Mitgliedern der Community als thematisch passend empfiehlt“, erklärt Multimediaredakteur Johannes Rogge.

Er selbst hat gerade, diesmal ohne Agentur-Unterstützung, ein eigenes Seeding gestartet und Content zum Thema „Orgelmusik“ als Transportmittel genutzt. Zunächst wurde mit dem gerade neu eingestellten Domorganisten ein Video produziert. Dann suchte Rogge Gruppen, die sich dem Thema Orgelmusik widmen. Bei solchen Gruppen meldete er sich an und teilte das Video mit dem Organisten. „Vermittelt über das Thema Orgelmusik bekam plötzlich auch die Facebook-Seite unserer Sankt Hedwigs Kathedrale, wo der Organist arbeitet, Likes von Menschen, die sonst wahrscheinlich niemals auf die Idee gekommen wären, diese Seite zu besuchen“, freut sich Rogge.

Kirche viral?

Grundsätzlich stecke die Kirche bei dem Thema Video und Seeding noch in den Kinderschuhen. „Digital ist sie noch ein altes schweres Schiff, das sich langsam bewegt. Auch sind viele unserer Inhalte so intern, dass es nur wenige Anknüpfungspunkte zu anderen öffentlichen Gruppen gibt. Deshalb ist Viralität schwer herzustellen“, bedauert der Multimedia Redakteur.

Und auch bezüglich der Erzählweise habe man vielleicht oft noch eine Schere im Kopf und wisse nicht so genau, wie die Kernzielgruppe auf „kontroversere“ Clips reagieren würde. In dem Zusammenhang erinnert man sich direkt an das „Umweltsau“-Video des WDR, als Beispiel für eine krasse Fehleinschätzung der Zuschauerreaktion durch die Macher, die sicher auch auf Viralität gesetzt hatten.

Zudem seien bei der Kirche die Ressourcen für die Themen Webvideo und soziale Medien noch beschränkt. So gibt es beim Erzbistum Berlin eine Pressestelle mit einem Pressesprecher, einer Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, die sich vorwiegend um Publikationen und das Internet kümmert, und mit Rogge nur eine halbe Multimedia-Stelle.

Trotzdem gibt es virale Beispiele für kirchlichen Videocontent. Rogge berichtet von einem viral gegangenen Video-Beitrag aus dem Bistum Essen. Dort hatten die Kollegen zu Weihnachten 2018 einen Clip produziert, der für kirchliche Verhältnisse viel Feedback ausgelöst hat und viral gegangen war. Darin wurde thematisiert, dass viele Menschen nur einmal im Jahr, zu Weihnachten, in die Kirche kommen. Man visualisierte das in persona einer Stewardess, die vorm Altar – ähnlich wie im Flugzeug vor dem Start – die Besucher in die richtigen Verhaltensregeln beim Kirchenbesuch einwies. „Das war in der Erzählweise ironisch, visuell gut umgesetzt, andockfähig an eine laufende öffentliche Diskussion – und dabei gar nicht böse. Das hat sehr gut funktioniert“, lobt Johannes Rogge.

Organisch verbreitet hatte der Clip geschätzt etwa 500.000 Klicks und damit insgesamt sicher eine Verbreitung von einer Millionen Views. Das ist das erfolgreichste Beispiel, das Rogge aus dem Kirchenkontext kennt.

Fazit

Zusammenfassend raten die Experten zu folgendem Vorgehen:

  • Das Thema des Clips sollte gut ausgewählt und in den sozialen Medien nachgefragt sein.
  • Der Clip muss professionell gestaltet sein, nicht unbedingt hochglanz, aber dramaturgisch funktionierend.
  • Die Erzählweise darf gerne humoristisch, wenn die Zielgruppe das goutiert, auch provokant sein, immer aber informativ und/oder
  • Beim Seeden können paid Seeding oder organisches Seeding gewählt werden. Das organische Seeding ist letztlich glaubwürdiger und bietet bessere Chancen, dass der Clip viral geht.
  • Für die Verbreitung in thematisch passenden Gruppen und auf Websites muss persönlich kommuniziert werden – per Mail, Chat und Telefon.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino.  Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.

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