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Vom Grassroots Journalism zu Open Source

Der lange Marsch von Bürger-Reporter*innen und Non-Professionals in die Institutionen der etablierten Medien hat Spuren hinterlassen. Bei Tageszeitungen, Radiosendern und digitalen Angeboten gibt es inzwischen partizipative Formate, über die Bürger*innen und freie Journalist*innen ihre Beiträge einliefern und publizieren können. Hier folgen eine Einordnung dieses Phänomens durch eine Wissenschaftlerin und ein konkretes Praxisbeispiel aus Berlin.

Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, … wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen.“

Die Vision, Medien vom Sender zum Empfänger (und dann wieder zum Sender zu machen), stammt von Bertolt Brecht, ist 90 Jahre alt und zielte damals auf das noch junge Radio. Die zugrunde liegende Idee aber – etablierte Medien für Nicht-Profis zu öffnen – beschäftigt Medienmacher*innen seitdem.

So auch Dr. Annika Sehl. Die Professorin für Digitalen Journalismus an der Universität der Bundeswehr München arbeitet als Forscherin schon lange unter anderem über den partizipativen Journalismus; bereits 2011 hat sie eine Dissertation über das Thema geschrieben. Für die Publikumsbeteiligung im Journalismus kennt sie viele verschiedene Begriffe: Grassroots-Journalism, Bürgerjournalismus, partizipativer Journalismus, Open-Source-Journalismus, Laienjournalismus, kollaborativer Journalismus und noch einige mehr.

Wichtig ist es ihr deshalb, zu unterscheiden, was sich hinter den jeweiligen Begriffen verbirgt.

Bürgerjournalismus oder partizipativer Journalismus?

Für zentral wichtig hält Sehl die Klärung, in welchem Kontext die Publikumsbeteiligung stattfindet. So liege im Bürgerjournalismus beispielsweise der gesamte Prozess der Inhalteproduktion und der Veröffentlichung in Händen der Laienkommunikator*innen.

„Dagegen findet das, was ich als partizipativen Journalismus bezeichne, unter dem Dach und der Kontrolle einer professionellen Medieninstitution statt“, sagt sie. „Im partizipativen Journalismus binden professionelle journalistische Medieninstitutionen ihr Publikum in redaktionelle Prozesse ein und beteiligen es an der Produktion von Inhalten. Die professionellen Journalist*innen werden dadurch nicht überflüssig. Ihre Arbeit wird lediglich unterstützt und ergänzt. Die professionellen Journalisten behalten die Entscheidungsmacht und legen auch fest, wie sich das Publikum einbringen kann und wer was wann und in welcher Form publizieren darf“, schrieb sie in ihrer Dissertation.

Open Source als Form des partizipativen Journalismus

Recht nahe kommt dieser Definition von partizipativem Journalismus das Format Open Source bei der Berliner Zeitung. Es wird seit September 2020 von Dr. Petra Kohse, seit 2017 Kulturredakteurin der Berliner Zeitung, als Chefin Open Source verantwortet. „Open Source ist zunächst ein Zugang zur Berliner Zeitung, über den Autor*innen, die keine Kontakte in die Redaktion haben, ihre Texte einreichen können. Diese Beiträge werden kuratiert“, erklärt Kohse.

Mit Open Source wurde also zunächst einmal eine technische Möglichkeit geschaffen, einen Text hochzuladen. Dabei werden dann auch alle vertraglichen Fragen geklärt: Es wird darüber informiert, dass man kein Recht auf den Abdruck in der Zeitung hat, und man bekommt die voraussichtliche Honorierung des Textes angezeigt, falls es bei der eingelieferten Länge bleibt. An dieser Stelle können Autor*innen auch entscheiden, ob sie ihren Beitrag in einer Creative-Commons- (CC)-Lizenz publizieren möchten.

Dazu Petra Kohse: „Wir nennen das Format ja Open Source, weil wir im Zugang und in der Verbreitung offen sein wollen. Daher haben wir beschlossen, die Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 wahlweise bei der Veröffentlichung anzubieten. Konkret: Unter CC bei uns veröffentlichte Beiträge können unverändert und unter Nennung des Autors und der Primärquelle in gemeinnützigen – nicht kommerziellen Medien – wiederveröffentlicht werden.“ Der Verlag dränge die Autor*innen aber nicht zur Wahl von CC. Wer seinen Beitrag anderweitig kommerziell weiterverwerten möchte, muss nicht unter CC veröffentlichen. Etwa die Hälfte der Autor*innen entscheidet sich trotzdem dafür.

Gründe für Open Source

Hinter der Entscheidung eines Verlags, ein partizipatives Format einzuführen, stehen ganz verschiedene Motive. Um diese herauszufinden, hatte Annika Sehl für ihre Dissertation eine Chefredaktionsbefragung der sogenannten publizistischen Einheiten, also der Zeitungen mit eigenem Mantelteil, durchgeführt.

Das am häufigsten genannte Motiv war damals die Stärkung der Leser-Blatt-Bindung. Als weitere Motive wurden genannt: Rückmeldungen zur Berichterstattung erhalten, neue Zielgruppen für Online oder die Zeitung erschließen, die Meinungsvielfalt erhöhen und die lokale Berichterstattung vertiefen. Außerdem erhofften sich die befragten Chefredaktionen durch partizipative Formate eine Verbesserung des Images der Zeitung, größere Themenvielfalt und höhere Aktualität sowie ein besseres Standing im Wettbewerb mit dem Internet.

Weitere, seltener genannte Motive waren die Möglichkeit, neue Mitarbeiter*innen zu entdecken, und interessanterweise – mit acht Prozent – die Möglichkeit, Kosten zu sparen.

Ganz ähnliche Gründe gab es scheinbar auch bei der Berliner Zeitung für die Einrichtung von Open Source. Petra Kohse erinnert sich: „Ein Anlass war durchaus der Vorwurf, immer aus der eigenen Blase zu berichten. Dem sind wir entgegengetreten, indem wir die Leute eingeladen und gesagt haben: So, jetzt liefert ihr uns bitte mal die Themen, von denen ihr glaubt, dass sie sonst immer außen vor bleiben. Einer unserer Claims ist: Vielfalt ist jetzt eure Sache.“

Auch für die Berliner Zeitung  sei das Kostenargument nicht zentral gewesen, betont die Open-Source-Chefin. „Wir nehmen ja Geld in die Hand. In dem Fall nicht für die vorhandene Redaktion, sondern für den autonom eingelieferten Content von Freien. Wir haben für Open-Source-Beiträge ein Stufenhonorar. Es gibt bestimmte Textlängen, für die ein Open-Source-Autor sogar etwas mehr bekommt als das sonst übliche Zeilenhonorar. Den Vorwurf, dass partizipativer Journalismus gleich Billig-Journalismus ist, entkräftet unser Modell“, ist sie sich sicher.

Open Source bei der Berliner Zeitung

Die Initiative für Open Source bei der Berliner Zeitung ging ganz konkret vom Verleger Holger Friedrich aus. Der Begriff „partizipativer Journalismus“ allerdings sei bei den Diskussionen der Redaktion, wenn überhaupt, dann nur am Rande gefallen. „Wir haben auch nicht viel herum geschaut, ob und wie andere Zeitungen bei dem Thema agieren, sondern habe alleine, für uns, eine praktikable Lösung gesucht und gefunden“, sagt Kohse.

Veröffentlicht wurden über Open Source, seit dem Start im September 2020, bisher rund 100 Beiträge. Eingereicht wurden gut dreimal so viel, hat Petra Kohse festgestellt. Die letzten 30 oder 40 Texte werden auf der Open-Source-Landingpage gelistet und online in den Ressorts veröffentlicht. Viele werden auch gedruckt, einzelne in den, ebenfalls im Berliner Verlag erscheinenden, Berliner Kurier übernommen.

Unter den Beiträgen gäbe es von Profis geschriebene „Glücksfälle“, die wenig Aufwand verursachen. „Dann gibt es aber auch Texte, bei denen man denkt: interessantes Thema, aber leider noch so gar nicht geformt. Grundsätzlich ist Open Source zwar kein Kanal für die Textentwicklung. Aber immer wieder kommt es doch zur intensiveren Arbeit mit den Autor*innen“, berichtet Petra Kohse.

Nach den ersten fünf Monaten Open Source könne man ganz generell sagen, dass zunächst einmal die Leser*innen selbst schreiben. Das seien oft akademisch gebildete oder in der Wissenschaft arbeitende Personen, aber auch Ältere aus dem journalistischen Bereich. „Dann schreiben aber auch viele jüngere Frauen. Die sind möglicherweise auf anderen Kanälen benachteiligt und nehmen die Gelegenheit wahr. Ganz junge Menschen, die ja generell kaum Zeitung lesen, haben wir kaum. Die sind aber herzlich eingeladen, beizutragen“, sagt Kohse.

Auch Fachjournalist*innen hat sie als spezielle Gruppe noch nicht ausmachen können. „Möglicherweise, weil Fachjournalist*innen in der Regel ihre eigenen Fachmedien haben und Open Source bei einer Berliner Lokalzeitung beheimatet ist. Sie sind uns aber herzlich willkommen, denn wir wollen ja mit Open Source in Szenen hineinschauen und auf Themen blicken und Leute kennenlernen, die bisher noch nicht bei uns vorkommen“, betont Petra Kohse.

Zu den Personen:

Dr. Annika Sehl ist unter anderem Professorin für Digitalen Journalismus an der Universität der Bundeswehr München und hat sich in ihrer Forschung auch mit dem partizipativen Journalismus beschäftigt. Als ausgebildete Redakteurin saß sie über mehrere Jahre in Jurys des renommierten Grimme-Preises. Aktuell ist sie Mitglied im Projektteam Lokaljournalisten des Lokaljournalistenprogramms der Bundeszentrale für politische Bildung.

Dr. Petra Kohse ist promovierte Theaterwissenschaftlerin, Mitgründerin des Portals nachtkritik.de, Feuilletonistin und Buchautorin. 2010 – 2017 war sie Leiterin der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin, seit 2017 ist sie Kulturredakteurin der Berliner Zeitung, seit September 2020 auch Chefin Open Source.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino. Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.

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