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Hannes Steins „Der Weltreporter“: Von fantastischen Reisen und der verführerischen Macht des Erzählens

Ob von einem verkleinerten München im Regenwald, einer Gemeinde in den USA, in der eine abgespaltene Gruppe eines nordamerikanischen indigenen Volkes posthum Donald Trump verehrt, oder von einer Almhütte am Gipfel des Mount Everest, die zahlungskräftigen Extrembergsteigern als groteskes Ausflugsziel dient: In diesem Roman erzählt ein fiktiver Reisejournalist wortgewandt von wundersamen Orten – bis seine Geliebte immer mehr Gründe findet, an ihm und seinen Geschichten zu zweifeln.

Kein Corona-Roman

Was ist wahr, was ist geschwindelt? Diese Frage stellt sich über die Grenzen des Romangeschehens hinaus schon beim Lesen der Vorbemerkung, in der die Entstehungsgeschichte des Textes erörtert wird. Denn der Roman, der von einem Journalisten erzählt, welcher in der Zukunft für ein renommiertes Magazin Reportagen über fantastische Orte schreibt, während seine Freundin immer mehr Indizien findet, die den Wahrheitsgehalt seiner Geschichten infrage stellen, spielt vor dem Hintergrund einer Seuche. Es gibt Ausgangssperren, die Menschen tragen Mundschutz und die wenigen, die gegen die Krankheit immun sind, müssen dies durch einen Ausweis bezeugen.

In der Vorbemerkung erfährt man jedoch, der Roman sei „nicht im Seuchenjahr 2020“ geschrieben worden, sondern bevor der Autor das Wort „Coronavirus“ gekannt habe. Er habe auch „nichts vorausgesehen“, sondern für seine Liebesgeschichte einfach ein „apokalyptisches Hintergrundrauschen“ gebraucht. Der Autor erinnert sich an ein viele Jahre zurückliegendes Gespräch mit einem Wissenschaftler, der meinte, dass die nächste Pandemie „überfällig“ sei. Deswegen habe er sich vielleicht für die Beschreibung einer fiktiven Seuche entschieden. Er folgert: „Dies ist also kein Corona-Roman (was auch immer das sein mag).“

Obwohl in den einleitenden Zeilen also aufgeschlüsselt wird, warum der Romantext vor dem Beginn der Covid-19-Pandemie geschrieben wurde, fragt man sich doch, ob so ein großer Zufall glaubhaft ist oder ob man hier bereits einer ersten, zur Gesamtkomposition des Textes gehörigen Flunkerei aufsitzt. Jedenfalls handelt es sich bei diesen Zeilen um einen gelungenen Einstieg in die Romanwelt, in der die Frage nach Lüge oder Wahrheit und die Macht des Geschichtenerzählens eine wichtige Rolle spielen.

Die Rahmenhandlung

In einer Rahmenhandlung wird erzählt, wie sich die junge Philosophiestudentin Julia in den preisgekrönten, alternden Journalisten Bodo von Unruh verliebt, an dem ihr zwar zuerst gar nichts gefällt; der sie aber schließlich aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften – er zeigt sich als aufmerksamer Zuhörer, ist ein belesener Gesprächspartner und ein guter Liebhaber – für sich zu gewinnen weiß. Die beiden verbindet außerdem, dass sie gegen die im Hintergrund des Romangeschehens grassierende Seuche immun sind. Dadurch können sie sich trotz häufiger Ausgangssperren einigermaßen frei in der Gesellschaft bewegen.

Beruflich ist Bodo als Reporter für das Hochglanzmagazin Holzmann’s Weltspiegel (der Journalist besteht in einem Gespräch mit Julia auf der Richtigkeit des altmodisch gesetzten Apostrophs) tätig, für das er Reisereportagen schreibt. Immer wieder ist er unterwegs, um, wie er Julia sagt, für seine Texte zu recherchieren.

Fantastische Reiseberichte

In diese Rahmenhandlung sind zwölf Reisekapitel eingefügt, in denen Bodo von den außergewöhnlichen Orten berichtet, die er besucht. So führt ihn eine Recherche etwa in den brasilianischen Regenwald, wo er eine von anarchistischen Ideen beeinflusste Münchner Rätemonarchie vorfindet, in der ein bisher unbekannter Nachkomme des bayerischen Königs Ludwig II. regiert. Für eine weitere Reportage reist er nach Utopia; einem in Sibirien liegenden, hinter hohen Mauern versteckten und sich selbst versorgenden Stadtstaat, in dem die Planwirtschaft durch neue Technologien vollendet wurde und der von einem Algorithmus namens Alpha regiert wird. Auch besucht er eine amerikanische Kleinstadt, in der eine Gruppe von Abspaltlern des indigenen Volkes der Diné posthum den 45. amerikanischen Präsidenten Donald Trump verehrt. In der Romanzukunft ist Trump an Syphilis gestorben und die Erinnerung an ihn wurde beinahe vollständig aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht; nur diese kleine Anhängerschar huldigt den Verstorbenen nach wie vor.

Profundes Wissen und Intertextualität

Das mit viel Humor erzählte Buch fußt auf profundem Wissen. So bilden Bezugnahmen auf reale (historische) Personen – Politiker, Philosophen und Theoretiker – sowie auf weltpolitische Gegebenheiten und berühmte Orte die Fundamente für die fantastischen Erlebnisse, über welche die Hauptfigur berichtet. Auch wird mit Verweisen auf bekannte fiktive Werke nicht gespart. Hierbei reicht die Spanne intertextueller Bezüge von den populären „Asterix“-Comics bis zu literarischen Werken von Thomas Mann, Joseph Conrad oder Edgar Allen Poe, um nur einige zu nennen. Eine Reportage handelt außerdem von Shakespeares verlorenem Theaterstück „Cardenio“ und entschlüsselt die „wahre“ Identität des weltberühmten Dichters.

Formal lehnt sich der Episodenroman an den Erzählzyklus „Sindbad der Seefahrer“ an, der in späten Fassungen der orientalischen Geschichtensammlung „Tausendundeine Nacht“ zu finden ist. In der Rahmenhandlung dieses Klassikers der Weltliteratur erzählt Scheherazade, die Frau des persischen Königs Schahryâr, diesem Nacht für Nacht spannende Geschichten, um nicht, wie seine Frauen zuvor, aufgrund seiner vorausschauenden Eifersucht am Morgen von ihm getötet zu werden. Sindbads Abenteuer sind märchenhafte Seemannsgeschichten, welche sich auf die Erlebnisse einer Hauptfigur konzentrieren und wie die fantastischen Reportagen Bodos in Form mehrerer Reisen dargestellt sind.

Gesellschaftskritische Seitenhiebe

An seinen Reisezielen findet der „Weltreporter“ oft absonderliche Staatsformen vor – wie die anarchistisch angehauchte Rätemonarchie im Urwald oder eine Nekrokratie, also die Herrschaft eines Verstorbenen, hier der Vorsitz des toten Donald Trump über eine indigene Gemeinde.

Oft weist der Text dabei mit einer gesellschaftskritischen, satirischen Speerspitze in Richtung Realität. In einer weiteren Reportage richtet sich diese gegen das Geschäft mit der Extrembergsteigerei im Himalaya, die zum Massentourismus wurde und jährlich viele Todesopfer fordert. Für eine Story besteigt Bodo nämlich den Mount Everest. Er beschreibt dabei wichtige Stationen der Südroute, die auch in der Realität von abenteuerlustigen Menschen genutzt wird, um den Achttausender zu besteigen. Als er völlig entkräftet am Berggipfel ankommt, erwartet ihn dort eine österreichische Almhütte. In dieser können vom Aufstieg erschöpfte Bergsteiger nach dem Passieren einer Druckschleuse gegen viel Geld bei „Schunkelstimmung“ Austropop-Musik, Wiener Schnitzel und Bier genießen.

Wahrheit oder Fiktion?

Während Bodo in seinen Reportagen rund um den Globus von einem dramaturgischen Höhepunkt zum nächsten jagt, verstärkt sich bei Julia immer mehr der Verdacht, dass es sich bei ihm um einen Hochstapler handelt. Der renommierte „Weltreporter“ – ein Lügner?

Der Tatsachengehalt jeder Behauptung würde von einer ganzen Abteilung überprüft, lässt Bodo sie jedenfalls schon beim ersten Kennenlernen wissen: „Im Durchschnitt wird eine Reportage von mir drei Mal durch die Mangel gedreht, ehe sie erscheinen darf.“ Und dennoch steht er bald in Verdacht, nicht nur seine Freundin, sondern auch das renommierte Magazin, für das er arbeitet, jahrelang mit erfundenen Reiseberichten getäuscht zu haben.

Fälschungsskandale und die Macht des Erzählens

Der Roman zeigt zum einen die verführerische Macht des Erzählens: Bodo ist ein wortgewandter Geschichtenerzähler. Seine Reportagen sind stets mit jeder Menge fundiertem Allgemeinwissen gepolstert, dramaturgisch gekonnt gestaltet und stilsicher formuliert. Nur allzu gerne lässt man sich von seiner Erzählkunst fesseln.

Zum anderen ruft er reale journalistische Fälschungsvorwürfe und -vorfälle ins Gedächtnis. Man denke beispielsweise an die Debatte um die 2010 erschienene, aufsehenerregende Biografie „Kapuściński non-fiction“. Damit reagierten die Medien über die polnischen Grenzen hinaus auf Schilderungen des Autors Artur Domoslawski, der posthum aufgezeigt hatte, dass der berühmte Reisejournalist Ryszard Kapuściński, der als „Meister der literarischen Reportage“ gilt, es mit der Faktentreue in Texten und bei autobiografischen Angaben nicht immer genau genommen hatte.

Insbesondere erinnert „Der Weltreporter“ aber an den Betrugsskandal um die Fälschungen in Reportagen des vielfach preisgekrönten Starjournalisten Claas Relotius, der in der jüngeren Vergangenheit die deutschsprachige Medienlandschaft erschütterte. In der folgenden Debatte über ethische Standards im Journalismus wurde das Genre der Reportage wiederum als journalistische Kategorie und Form, die aufgrund ihrer ästhetischen und kompositorischen Merkmale der Literatur am nächsten steht, infrage gestellt.

Im Roman spiegelt insbesondere ein fiktives „Verhör“ der Hauptfigur durch die Blattverantwortlichen die Auswirkungen des realen Skandals auf die Zeitungsbranche wider. Dabei bleiben, so viel sei noch verraten, Fragen nach dem „Warum“ unbeantwortet.

In einem humorvollen Selbstinterview spricht der Autor von den Texten, die er in den Reisekapiteln seines Romans parodiert, selbst von „literarischen Reportagen“ und damit von jener journalistischen Form, die auch Elemente der Fiktion in sich trägt. Eine Form, die er sehr liebe, sagt er, und fügt an: „Wahrscheinlich kann man nur das gut parodieren, was man liebt.“ Diese Vermutung bestätigt sich in diesem unterhaltsamen Buch. Und in der Fiktion bleibt sogar der Betrug vergnüglich.

Fazit

Ein ebenso geistreicher, gesellschaftskritischer wie amüsanter Roman über einen Reisereporter, der unter Betrugsverdacht gerät und dessen Geschichten an reale Fälschungsvorfälle erinnern. Dank der Sprachgewandtheit und Erzählkunst der fantasiebegabten Hauptfigur lässt man sich jedoch gerne an der Nase herumführen. Ein Lesevergnügen!

Hannes Stein wurde 1965 in München geboren und ist in Salzburg aufgewachsen. Er schrieb unter anderem für die FAZ und den Spiegel. Seit 2007 lebt er in den USA und ist als Kulturkorrespondent für die Welt tätig. Er bloggt bei den Salonkolumnisten und ist Mitglied des amerikanischen PEN-Clubs. „Der Weltreporter“ ist sein dritter Roman; zuvor erschienen „Der Komet“ (2013) und „Nach uns die Pinguine“ (2017).

Autor: Hannes Stein
Titel: Der Weltreporter. Ein Roman in zwölf Reisen
Preis: 22,- Euro (gebundene Ausgabe)
Umfang: 352 Seiten
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Galiani Berlin
ISBN: 978-3-86971-235-2

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Friederike SchwabelDie Autorin Friederike Schwabel, Dr. phil., promovierte Ende 2017 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien und ist Absolventin der Deutschen Fachjournalisten-Schule. Sie lebt in Wien, ist als freie Fachjournalistin tätig und schreibt wissenschaftliche und journalistische Texte. Veröffentlichung von Rezensionen unter anderem in der „Berliner Literaturkritik“, „IASLonline“ oder im Buchmagazin des Literaturhauses Wien.

 

 

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