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Serienkritik zu „Tijuana“: Das Risiko schreibt mit

Spannend, komplex und unerwartet klischeearm: Die mexikanische Netflix-Serie Tijuana (2019) erzählt von einem investigativen Wochenmagazin im für Journalisten gefährlichsten Land der Welt.

Seit Jahren gilt Mexiko traurigerweise als Negativ-Rekordhalter in puncto Pressefreiheit und auch in der aktuellen Jahresbilanz von „Reporter ohne Grenzen“ nimmt es eine besorgniserregende Platzierung ein: Mit acht getöteten Medienschaffenden im Jahr 2020 wird Mexiko derzeit als „gefährlichstes Land für Journalist*innen“ eingestuft. Ein erschreckendes, aber für die informierte Öffentlichkeit vermutlich kaum überraschendes Fazit – schließlich geht es in Berichten über Mexiko häufig um Drogenkriminalität und die Kämpfe zwischen mächtigen Drogenkartellen.

Diese lieferten zudem den Stoff für beliebte Netflix-Serien wie Narcos:Mexico und El Chapo. An Letzterer war als Produzent auch der Kolumbianer Daniel Posada beteiligt, der 2019 gemeinsam mit Zayre Ferrer eine in Mexiko angesiedelte Serie für Netflix erschuf, die sich ausnahmsweise nicht mit dem Aufstieg und Fall der Drogendealer, der sogenannten Narcos, beschäftigt: Tijuana nimmt stattdessen die Berichterstattenden ins Visier und verzichtet, wie der gelungene Titel-Vorspann schon zeigt, auf die warmen, gelbstichigen Töne, in denen Serien mit mexikanischem Sujet normalerweise gehalten sind.

 

Ermordete Hoffnungsträger

Der Handlungsort Tijuana ist dabei sehr bewusst gewählt: Als an Kalifornien grenzende Stadt im Nordwesten Mexikos ist Tijuana vom Schmuggelgeschäft besonders betroffen und galt bis Kurzem als gefährlichste Stadt der Welt. Dies habe sich auch auf die Qualität des hier angesiedelten Journalismus ausgewirkt, hebt Posada in einem Interview hervor: „Es ist eine Stadt mit so viel Gewalt, dass dieses Ausmaß an Korruption und Kriminalität einen sehr starken investigativen Journalismus in Tijuana hervorgebracht hat. Die unglaublichsten investigativen Journalisten kommen aus Tijuana, also machte es Sinn, die Serie hier anzusiedeln.“

Und so rückt auch gleich in der ersten Episode von Tijuana ein aufsehenerregender Mordfall in den Fokus: Eugenio Robles (Roberto Mateos), ein ehemaliger Fabrikarbeiter, der zum vielversprechenden sozialistischen Kandidaten für das Gouverneursamt des mexikanischen Bundesstaats Baja California aufstieg, wird in Tijuana am helllichten Tag von einem Unbekannten mit mehreren Schüssen hingerichtet. Ein Schock für die Stadt, galt Robles doch als Hoffnungsträger für die Arbeiterschicht und als gewichtiger Gegenkandidat zur ansonsten dominierenden, vermeintlich sozialdemokratischen Partei PRI. Während am Abend noch im Fernsehen über den Mord berichtet wird, betritt die junge Bloggerin Gabriela Cisneros (Tamara Vallarta) die Redaktion des Wochenmagazins Frente Tijuana: Sie hat den Wahlkampf von Robles hautnah begleitet und war bei seinem Mord zugegen.

Letzte Bastion der Pressefreiheit

Dass sich Gabriela, vom Attentat auf Robles noch selbst gezeichnet, mit ihren Informationen an die Redaktion der Frente Tijuana wendet, hat seine Gründe: Das von Chefredakteur Antonio Borja (Damián Alcázar) und Herausgeberin Federica Almeída (Claudette Maillé) geleitete politische Wochenmagazin setzt seit jeher auf Unabhängigkeit und investigative Recherchen. Es hat eine stolze Tradition und eine traurige Geschichte: Mitgründer Iván Rosa (Roberto Sosa) wurde vor 20 Jahren ermordet. In der Serie ist er dennoch präsent und immer wieder in Auszügen aus einem Video-Interview kurz vor seinem Tod zu sehen. Darin zweifelt er die Wahrhaftigkeit des gegenwärtigen mexikanischen Journalismus an und bemängelt die Nähe vieler Berichterstatter zu den Mächtigen, die es doch zu konfrontieren gelte.

Diese Interviewpassagen dienen einerseits der Zeichnung der Frente Tijuana als letzter Bastion für unabhängigen Journalismus in der von Korruption und Gewalt geprägten Stadt. Zugleich wird dieses Material aber auch auf Handlungsebene von Andrés Borja (Iván Aragón) gesichtet, dem jungen Sohn von Antonio, der an einem Dokumentarfilm über seinen Patenonkel Iván Rosa arbeitet. Obgleich der damalige Attentäter eine Haftstrafe für den Mord an Iván absitzt, ist der mutmaßliche Drahtzieher hinter dem Mord auf freiem Fuß und mächtiger denn je: der Glücksspielmagnat Gregorio Mueller (Rodrigo Abed), einst ein Freund von Antonio und Iván. Über Umwege nimmt Andrés Kontakt zu Mueller auf und ist bald im inneren Kreis des einflussreichen, sich betont herzlich gebenden Geschäftsmannes unterwegs.

Dieser in die Vergangenheit weisende Erzählstrang um Iván Rosas Tod wird in Tijuana geschickt mit dem Hauptplot um die Recherche zum Attentat auf Robles verflochten und weist deutliche Parallelen zu realen Begebenheiten auf: So hat Posada in Vorbereitung für diese Serie einige Zeit in der Redaktion des Wochenmagazins Zeta verbracht, das 1980 von drei Journalisten in Tijuana gegründet wurde. Zwei der Gründer – Héctor Félix Miranda und Francisco Ortiz Franco – kamen 1988 und 2004 gewaltsam ums Leben. Der Dritte im Bunde, Jesús Blancornelas, überlebte 1997 ein Attentat und starb 2006 an den Folgen von Krebs. Zeitlebens macht Blancornelas den Politiker und Glücksspiel-Tycoon Jorge Hank Rhon für die Ermordung von Héctor Félix Miranda verantwortlich. Trotz dieser Parallelen zur Serienhandlung sei Tijuana von realen Ereignissen lediglich inspiriert, betont Regisseur Hammudi Al-Rahmoun Font, denn in diesem Fall übersteige die Realität bei Weitem die Fiktion.

Vorsichtig recherchieren, beherzt veröffentlichen

Dabei hat es der fiktionale Verlauf von Tijuana schon in sich: Die Recherchen zum Attentat auf Robles führen die Frente Tijuana-Redakteure zu einem chinesischen Chemiekonzern und zum Drogenhandel im großen Stil. Gabriela, die nun für Frente Tijuana arbeitet, wird mehrfach von Chefredakteur Antonio ermahnt, äußerste Vorsicht bei der Vor-Ort-Recherche walten zu lassen und potenziell gefährliche Situationen, vor allem im Umkreis der organisierten Kriminalität, zu meiden. Die möglichen Konsequenzen sind allen bekannt: „Du sollst nicht an einer Brücke hängend oder im Kanal enden.“ Doch Gabriela, dem Prototyp der waghalsigen Rookie-Journalistin entsprechend, tut es natürlich trotzdem, was mehrfache Rettungsaktionen nach sich zieht und schließlich die gesamte Redaktion des Wochenmagazins in Gefahr bringt.

So sehr Antonio aber auch für Zurückhaltung bei der Spurensuche im Umfeld der Drogenkriminellen plädiert, so hartnäckig bleibt er an der Robles-Story dran – auch, als der vermeintliche Einzeltäter gefunden zu sein scheint. Die Drahtzieher des Mordes vermutet er in Politikerkreisen, deren Irritation er bewusst in Kauf nimmt. Dabei lauert gerade hier, in der Recherche zu Korruption von Staatsbeamten und der Verstrickung von organisiertem Verbrechen und Politik, die größere Gefahr. So formuliert die mexikanische Journalistin und Buchautorin Anabel Hernandéz in einer Kolumne für die Deutsche Welle sehr deutlich: „Die mexikanische Regierung hat die Gewalttaten der Drogenkartelle konsequent als Ablenkung und Erklärung für die Gewalt gegen Journalisten benutzt. Es gibt aber keine Beweise dafür, dass die eine Sache mit der anderen zu tun hätte. Stattdessen ist es die weitverbreitete Korruption, die die Gewalt gegen Journalisten erklärt.“

Auch Tijuana thematisiert diesen eigentlichen Grund für die anhaltende Gewalt gegen Medienschaffende in Mexiko mehrfach. So lehnt Antonio nach einem gewaltsamen Angriff auf die Redaktion das heuchlerische Hilfsangebot der PRI-Kandidatin Rosaura Cifuentes konsequent ab und begründet es folgendermaßen: „Du bist eine Vertreterin des Staates. Der Staat hat dem Journalismus vor vielen Jahren den Krieg erklärt.“ Und schließlich führt eine entlarvende Veröffentlichung der Frente Tijuana zu politischen Verwicklungen im Mordfall Robles zu einem besorgniserregenden Cliffhanger.

Klischeearm, spannend, fortsetzungswürdig

Tijuana ist eine mit jeder Episode an Spannung und Komplexität gewinnende Journalismus-Serie, die sich der bewundernswerten Arbeit tapferer mexikanischer Medienschaffender widmet, ohne in Effekthascherei oder Klischees zu verfallen. Um die beiden dominierenden Erzählstränge zum Mordfall Robles und zu den Machenschaften von Gregorio Mueller herum ordnen sich noch weitere Geschichten zu Menschenschmuggel und Kinderprostitution an, denen die Redakteure und Redakteurinnen der Frente Tijuana beherzt nachgehen und die sie nach Feierabend nur schwer hinter sich lassen können. Dabei zeichnen sie sich graduell als interessante, noch vielversprechende Figuren ab.

Bislang gibt es leider keine Informationen zu einer Fortführung von Tijuana, die Daniel Posada nach eigener Aussage auf drei Staffeln angelegt hatte. Man kann lediglich hoffen, dass Netflix diese so sorgsam aufbereitete Serie über ein hochaktuelles Thema fortsetzt – immerhin hat es bei der Serie über den mexikanischen Kartellboss El Chapo auch für drei Staffeln gereicht.

Tijuana
Mexiko 2019
Serie, 1 Staffel, 11 Episoden à ca. 40 Min.
Idee: Zayre Ferrer, Daniel Posada
Regie: Hammudi Al-Rahmoun Font, Clara Roquet, Francisco Vargas, Daniel Posada, Carlos Rincones
Drehbuch: Iván Cuevas, Zayre Ferrer, Rodrigo Ordoñez, Daniel Posada, Max Zunino u. a.
Kamera: Tonatiuh Martínez Valdéz, Guillermo Granillo, Martín Boege, Alejandro Ramirez Corona
Besetzung: Damián Alcázar, Tamara Vallarta, Rolf Petersen, Claudette Maillé, Tete Espinoza, Iván Aragón u. v. m.
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=Y3ghrsJ2Pok

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Dobrila Kontić, M.A., studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Englische Philologie und Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und Journalismus am Deutschen Journalistenkolleg (DJK). Sie arbeitet als freie Journalistin, Film- und Serienkritikerin in Berlin.

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