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Als die Bilder laufen lernten: Rezension zu „And the King Said, What a Fantastic Machine“

Von den Lumières bis zu YouTube und Insta – die Mediengeschichte lässt sich auch als Geschichte der visuellen Medien lesen. Der sehenswerte schwedische Essayfilm „And the King Said, What a Fantastic Machine“ folgt dem Siegeszug des Bewegtbilds – von seinen Anfängen mit den ersten kinematografischen Maschinen bis zur heutigen Omnipräsenz in den sozialen Medien.

Zwei Episoden aus dem schwedischen Filmessay „And the King Said, What a Fantastic Machine“ zeigen besonders eindrücklich, wie sich unsere Wahrnehmung von bewegten Bildern in den letzten fast 130 Jahren verändert hat.

Wie in fast allen Dokumentationen über die Entstehung des Kinos, des Fernsehens oder der digitalen Bildmaschinen treten auch hier schon recht früh die Brüder Lumière auf. Die beiden französischen Fotoindustriellen Auguste und Louis Lumière filmten 1895/96 die „Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof La Ciotat“. Das gleichnamige kurze Filmstück brachten sie dann in einem Saal vor Publikum zur Aufführung – eine der Geburtsstunden des Kinos. Noch ohne Seherfahrungen mit bewegten Sequenzen glaubten sich die Anwesenden dem Kino-Mythos nach in höchster Gefahr, von dem heranrollenden Zug überfahren zu werden, und flüchteten panisch aus dem Saal.

Im letzten Drittel von Alex Danielsons und Maximilien van Aertrycks Filmessay und offensichtlich in der Jetztzeit kriecht eine junge Frau über den Rand der Fassade eines sehr hohen Gebäudes. Sie lässt sich am Arm ihres Begleiters über die Brüstung gleiten und schwebt dann über einem schwindelerregenden Abgrund. Gefasst blickt sie dabei nach oben, zu ihrem Partner, der das Geschehen mit dem Smartphone filmt – möglicherweise, um die Szene auf Facebook, Instagram oder TikTok hochzuladen oder sie gleich live zu streamen.

Während die Menschen bei der Vorführung der Lumières, eigentlich sicher im Kinosaal sitzend, der Legende nach panisch vor einem maschinell erzeugten Abbild der Wirklichkeit flüchteten, sucht die junge Fassadenstürmerin scheinbar seelenruhig die höchst reale Gefahr, um genau solch ein Abbild zu produzieren.

Was ist zwischen diesen beiden Momenten in der Historie des Bewegtbilds geschehen – mit den Bildern und mit den Menschen? Darüber haben die beiden schwedischen Filmemacher einen rauschhaften visuellen Reisefilm gedreht.

Produziert hat ihn übrigens der schwedische Filmemacher und zweifache „Goldene Palme“-Gewinner Ruben Östlund, der mit seinen beiden skurrilen Gesellschaftssatiren „The Square“ und „Triangle of Sadness“ internationale Kinohits landen konnte.

Chronologie der bewegten Bilder

Danielson und van Aertryck fordern ihr Publikum heraus. Mit verschiedenen thematischen Erzählsträngen, die sich wie ein Geflecht in- und umeinander winden, führen sie uns durch die Geschichte des bewegten Bilds. Es geht um Technik, Rezeption, Politik, Unternehmertum, Medienpsychologie. Das klingt kompliziert und nach Oberseminar, funktioniert in den fast 90 Filmminuten aber wunderbar leichtfüßig, oft unterhaltsam.

Ein unbekannter Fotoenthusiast wird zur lebenden Porträtkamera. In: „And the King Said, What a Fantastique Machine“ (2023); PC Bryan Troll.

Orientierung bieten die chronologischen Passagen der Erzählung, etwa über die Entwicklung fotografischer Apparate und die ersten Filmproduktionen. Ein Schatten an der Wand zeigt den physikalischen Vorgang. Mit dem Aufbau eines einfachen optischen Apparats in einer Fußgängerzone demonstrieren Danielson und van Aertrycks den vorbeikommenden Passant:innen ganz praktisch, wie eine statische Bildaufnahme funktioniert. „Wow! Mein Gott! Wie ist so etwas möglich“, staunt ein Mann. Rund 125 Jahre nach den ersten kinematografischen Shows der Brüder Lumiere funktioniert der Zauber noch immer.

Dann schreitet die Geschichte weiter voran: zu den ersten Fotoaufnahmen, den Daguerreotypen, den ersten Bewegtbildexperimenten von Eadweard Muybridge und zum ersten Filmerzähler Georges Méliès.

Die filmische Manipulation von Realität

Méliès reinszenierte die Krönung des britischen Königs Edward VII.in seinem Filmstudio, mit französischen Schauspieler:innen. „Was für eine fantastische Maschine diese Filmkamera doch ist! Sie hat sogar Möglichkeiten gefunden, Teile der Zeremonie aufzunehmen, die gar nicht stattgefunden haben“, staunte der König später. Die filmische Manipulation von Realität, um zu unterhalten, um der Realität neue Facetten hinzuzufügen – das ist ein weiterer roter Faden den Danielson und van Aertryck durch ihren Film gelegt haben.

Andere Erzählstränge folgen der Entwicklung von Medien und Genres. Sie zeigen zum Beispiel, wie die propagandistischen Kinowochenschauen der 1930er- und 1940er-Jahre vom aufklärerischen Impetus der ersten öffentlich-rechtlichen Fernsehsender abgelöst wurden. Dies wird deutlich etwa in Irland, 1961: „Ich hoffe, das sogenannte Fernsehen wird Ihnen viel Freude und Unterhaltung bieten. Aber auch Information, Lehrreiches und Wissen. Ich gebe aber auch zu, wenn ich darüber nachdenke, welche Macht Fernsehen und Radio haben, bekomme ich etwas Angst“, offenbarte sich der irische Präsident beim Launch der ersten TV-Sendung.

Inmitten ihrer film- und fernsehgeschichtlichen Exkursionen platzieren die beiden Filmemacher immer wieder Meta-Momente, Fragen nach den Wirkungen und Wahrnehmungen der Bewegtbilder: „Wie können wir, nach all der Kriegspropaganda, die Welt von dem überzeugen, was wir wirklich gesehen haben?“, fragten sich alliierte Filmemacher, als sie den angeblich ahnungslosen Deutschen mit extra langen, ungeschnittenen authentischen Szenen das Grauen der Konzentrationslager zu vermitteln versuchten.

Ikonografische Bildmomente und ihre Entstehung

Aus seiner Erzählung der Historie springt der Film, in seiner verwobenen und komplexen Machart, immer wieder zu wichtigen Protagonisten der Mediengeschichte.  So sehen wir eine Interviewszene, in der sich der CNN-Gründer Ted Turner mit dicker Zigarre in einem Sessel räkelt und offenherzig einräumt, dass er eigentlich ausschließlich Shows produzieren möchte, um mit ihnen möglichst viel Werbung zu verkaufen. „Und wenn dann alle nur noch Shows produzieren?“, fragt ihn der Interviewer. „Dann mache ich natürlich Nachrichten, Sie Dummkopf“, kontert Turner patzig. Cut! Gründung des Nachrichtennetworks CNN.

Zwei Krieger des Islamischen Staats scheitern an der Aufnahme eines Bekennervideos. In: „And the King Said, What a Fantastique Machine“ (2023); PC ISIS.

Die Inszenierungen ikonografischer Bilder und die dazugehörigen Entstehungsgeschichten nehmen breiten Raum ein. „And the King Said“ zeigt Diktatoren zu Pferd oder auf Truppenparaden, Kämpfer des IS (Islamischer Staat),die textlich an der Aufnahme einer Videobotschaft scheitern, die den Nationalsozialisten zuarbeitende Filmerin Leni Riefenstahl, wie sie an ihrem Schneidetisch in den Schnittfolgen und Kamerabewegungen einer ihrer Propagandafilme schwelgt.

Das Bild eines toten Mädchens im haitianischen Erdbebengebiet schockt uns. Noch mehr schockt uns dann aber die nächste Szene, in der sich der Bildausschnitt öffnet und man den Pulk der Pressefotografen sieht, die die Tote gleichzeitig ablichten. Neben dem Bild, das in Schweden den jährlichen Pressefotopreis gewann, wurde in einer schwedischen Online-Zeitung ein Bier-Werbeclip mit dem bekannten Filmschauspieler Mats Mikkelsen geschaltet. Mikkelsen prostet dem toten Kind quasi zu. Bilder verlieren ihre Realität und fotografierte und gefilmte Menschen verlieren ihre Würde auf dem Marktplatz für visuelle Sensationen.

Die Überforderung der Bildwelten

Immer wieder springen Danielson und van Aertryck vor und hinter den Bildschirm, von der Seite der Macher zu der Seite der Rezipienten. Etwa zu einem Ehepaar, das seine Freizeit fast bewusstlos an den Fernseher gefesselt verbringt. Der stetige Bilderfluss lässt ihn den harten Arbeitstag am einfachsten vergessen. Sie dagegen wünscht sich ein Stück reales Leben zurück.

Dann beobachten wir, quasi als einen Antagonisten der beiden, einen Stammesangehörigen in Papua-Neuguinea, der ein Foto betrachtet. Das ist für ihn zunächst etwas komplett Unverständliches. Erst nach stundenlanger Betrachtung realisiert er langsam, dass er selbst es ist, der darauf zu sehen ist. Die Wahrnehmung von Bildern, vor allem bewegten Bildern, ist ein zivilisatorischer Prozess – an seinem Anfang und seinem Ende steht oft eine Überforderung.

So auch bei den Kindern und Jugendlichen, die der Film zeigt. Wie nehmen sie Bilder wahr, was macht das mit ihnen und was machen sie aus dieser Erfahrung? Ein kleiner Junge imitiert, mit dem Rücken zum Fensehgerät, vollständig lippen- und bewegungssynchron den Kung-Fu-Darsteller auf dem Bildschirm hinter ihm. Gruselig! Eine junge Influencerin möchte von möglichst vielen Followern gesehen werden, aber dabei ihr Gesicht nicht zeigen. „And the King Said“ ist voller solcher fein beobachteter absurder und ambivalenter Momente, die zeigen, wie unsicher wir uns eigentlich immer noch in der Welt der Bilder bewegen.

Gelegentlich schalten die beiden Filmemacher im Erzähltempo herunter, in lange, langsame Beobachtungssequenzen. Dann zeigen sie beispielsweise, wie unterschiedlich die Kinder einer Schulklasse beim Klassenfoto mit der Situation des Fotografiertwerdens umgehen. Das sind großartige dokumentarische Momente.

Unterhaltsam und erhellend

Das temporeiche und effektvoll mit Kommentaren und Musik unterlegte Kaleidoskop aus inszenierten Aufnahmen, gefundenen Archivbildern, YouTube-Trouvaillen, privaten Filmschnipseln unterhält, bringt zum Nachdenken, zum Staunen, zum Schmunzeln. Es bietet viele Einsichten in unseren Umgang mit den Bildmedien und konfrontiert uns mit unserem oft zwanghaften Verhältnis zu ihnen.

Trotzdem fühlt man sich nach den fast 90 Minuten wie nach dem Spiel mit dem bunten Drehwürfel des ungarischen Architekten Emo Rubik: Man hat ihn gedreht und gewendet und plötzlich ist der Würfel fertig und gleichfarbig  – wie es dazu gekommen ist, hat man aber nicht so recht verstanden.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

And the King Said, What a Fantastic Machine
Regie und Drehbuch: Axel Danielson, Maximilien Van Aertryck
Dokumentarfilm (FSK 12), Schweden, Dänemark, 2023.
Laufzeit: 85 min, Farbe.

Der Film läuft derzeit in ausgewählten deutschen Kinos.


© Eberhard Kehrer

Der Autor Gunter Becker schreibt seit Beginn der 1990er Jahre als freier Autor über elektronische Medien, Internet, Multimedia und Kino Anfangs für die taz, dann für den Tagesspiegel und im neuen Millennium vorwiegend für Fachmagazine, wie ZOOM und Film & TV Kamera. Für das verdi-Magazin Menschen Machen Medien verfolgt er die Entwicklung nachhaltiger Filmproduktion, die Diversität in den Medien und neue Medienberufe.

 

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