RSS-Feed

„Für junge Kollegen ist Corona eine Katastrophe“

Als 17-Jähriger trampte er 1970 per Anhalter in den Himalaya; mittlerweile bereiste er fast alle Länder dieser Erde und beschrieb seine Erlebnisse und Begegnungen für Zeitschriften wie Spiegel, Stern, Bunte oder Playboy und Blätter wie Zeit oder Süddeutsche Zeitung. (Nicht nur) für die Frankfurter Rundschau ist Helge Timmerberg „der tollste, schrillste, unterhaltsamste und dabei weiseste deutsche Reiseschriftsteller“. Sein Markenzeichen: subjektive Reisereportagen in Ich-Form. Im Interview mit dem Fachjournalist spricht er über den Reisejournalismus zu Zeiten von Corona, nennt Dos und Don´ts für Reisejournalisten und wagt für sein Ressort eine Prognose für die Zukunft.

Reisen bildet, heißt es. Welche Erkenntnis über sich selbst hat es Ihnen erbracht?

Dass ich immer derselbe bleibe – egal, an welchem Ort der Welt ich mich gerade befinde. Du fällst immer wieder auf dich zurück. Ich habe mal zwei Jahre in Havanna gelebt. Am Anfang war das ein einziger Rausch, dann habe ich festgestellt, dass ich auf Kuba genauso oft gut oder schlecht drauf war wie in Hamburg. In den verschiedenen Kulturen kommen unsere jeweiligen Ichs hervor: in Asien das Meditative, in New York Speed, im Orient das Träumerische. Alle Nuancen schlummern in mir drin, aber die jeweilige Umgebung bringt eine andere Farbe von mir zum Vorschein.

Welche Eigenschaften braucht ein Reisejournalist?

Man sollte fähig sein, auf fahrende Busse aufzuspringen. Und keine Spinnen-Phobie haben. Generell muss man natürlich gerne reisen. Und neu-gierig sein. In der Heimatstadt herrscht Routine, die macht einen blind. Den Weg von meiner Wohnung zum Frühstückscafé finde ich mit geschlossenen Augen. Anderswo lebt man viel mehr im Hier und Jetzt.

Was man sonst noch mitbringen sollte als Reisejournalist? Einfühlungsvermögen. Sich einschwingen, auf Leute einlassen und sie öffnen können. Menschen mit einer anderen Denk- und Lebensweise nicht nach den eigenen Wertmaßstäben beurteilen. Unsere westliche Ungeduld sollte man in Afrika oder Indien zügeln. Ich habe mich oft für meine Fotografen geschämt, die beispielsweise einem Reisbauern gegenüber zu großem Druck aufgebaut haben.

Mir ist die Recherche immer leichter gefallen als das Schreiben. Aber natürlich muss man gut schreiben können und den Text so aufbereiten, dass der Leser nicht aussteigt – sonst war alle Mühe und letztlich auch die Reise sinnlos.

Was sollte man in Ihrem Ressort tun und lassen?

Du kannst die Leser nur berühren, wenn du selbst berührt bist. Wenn es dich packt, kannst du das auch weitergeben. Als ich aus Uganda zurückkam, hörte ich noch tagelang die Trommeln in der Savanne. Und nach meinem Besuch im Heim für Sterbende von Mutter Teresa in Kalkutta habe ich drei Tage lang am Schreibtisch gesessen und gebetet: Lieber Gott, lass mich noch so lange leben, dass ich den Artikel zu Ende bringen kann. So wichtig war es mir, weiterzugeben, was ich dort stellvertretend für die Leser erlebt habe.

Der Chefredakteur von Tempo wollte einmal eine Angst- und-Schrecken-Geschichte von mir haben. Ich war in einem Dorf, in dem zwei Drittel der Bevölkerung schon an Aids gestorben war, die Hälfte vom letzten Drittel war erkrankt. Aber: Die hatten keine Angst vorm Sterben – jedes Kind in jeder Hütte hat schon mal jemand sterben sehen – im Gegenteil: Die Leute sagten, Aids ist eine ganz gute Krankheit, sie lässt einem Zeit Abschied zu nehmen. Vor Ort ist es meistens anders, als man sich das am Schreibtisch so ausbaldowert hat. Da muss man sich wehren und den Mut haben, die Realität vor Ort nicht so hinzubiegen, dass sie zum Briefing passt. Das ist Scheiße – vor allem, wenn es um ideologische Dinge geht. Das habe ich nie gemacht. In den Redaktionen wusste man das nachher auch, dass der Timmerberg mit etwas anderem zurückkommt als gedacht, aber dass es immer druckbar ist.

Freier Journalist zu sein, ist in dem Fall besser. Wenn die eine Redaktion die Geschichte nicht wollte, habe ich sie halt einer anderen angeboten. Einmal habe ich eine Geschichte für den Stern über das größte Fest der Hindus gemacht. Dem Chefredakteur gefiel die Geschichte nicht, da habe ich sie dem Süddeutschen Magazin gegeben. Man muss sich als Journalist durchsetzen, nicht zu allem Ja und Amen sagen. Du bist vor Ort, nicht der Chefredakteur.

Man bekommt Erfahrung, was sich realisieren lässt in der Kürze der vorgegebenen Zeit. Wenn du drei Tage vor Ort bist, kannst du keine Rundum-Geschichte machen. Dann musst du dir einen Aspekt herausgreifen und dich da reinwühlen. Das hat viel Potenzial. Das kann dann genauso gut werden, als hätte man viel Zeit gehabt. Etwas nur der Ordnung halber noch mit reinzunehmen, macht keinen Sinn, das sollte man einfach lassen. Eine A-Z-Geschichte darüber zu schreiben, was alles interessant ist in Uganda, ist generell weniger interessant. Was ich geradezu verachte: Geschichten à la In welcher Ecke des Landes ist es denn bei euch am Beschissensten? Ich würde nie schreiben: Ägypten ist ein Traum, aber die Müllkippe stinkt wie Hölle. Müllkippen stinken überall.

Welche Ausbildung ist für Reisejournalisten sinnvoll?

Ich habe den Journalismus von der Pike auf gelernt, bei einer Lokalzeitung in Bielefeld volontiert. Das war eine super Ausbildung, von der ich mein ganzes Berufsleben lang gezehrt habe. Ob Feuilleton, Politik, Sport oder die Außenredaktion – ich bin ins kalte Wasser geschmissen worden, habe fotografiert, die Bilder in der Dunkelkammer entwickelt und meine Texte geschrieben. Um 18 Uhr war Redaktionsschluss, nicht fertig gab´s nicht – man kann schließlich keine weiße Seite erscheinen lassen. Das war extremer Stress, aber das hat mir auch später immer geholfen, rechtzeitig fertig zu werden. Woran erkennt man einen Journalisten? Dass er sich fünf Minuten vor der Deadline noch einen Kaffee kocht …

Sie sind seit fünf Jahrzehnten im Reiseressort tätig. Was hat sich seitdem verändert? 

In den 1980er-/90er-Jahre hatte man extrem viel Kohle zur Verfügung. Ausgiebige Reisen werden immer seltener von Redaktionen bezahlt. Magazine wie Stern und Spiegel schicken zwar noch Reporter um die Welt, aber der Druck, dass dabei etwas Spektakuläres herumkommen muss, ist ungleich höher. Nicht nur der Job – ich selbst habe mich ebenfalls verändert: Nach 50 Jahren des Herumreisens ist meine Einstellung zum Reisen eine andere. Die emotionalen Aufwallungen, wenn ich meinen Rucksack packe, sind nicht mehr so stark. Ich weiß ja, wie es ist. Die Faszination des Neuen ist nicht mehr so da. Mein ganzes Leben bin ich nur beruflich gereist, war stets auf der Jagd nach der Geschichte. Privat käme ich nie auf die Idee zu reisen. Ich würde mich langweilen ohne Mission.

Durch Corona steckt der Reisejournalismus in der Krise. Virtuelle Reisen können niemals das selbst vor-Ort-Sein ersetzen. Wie erleben Sie diese Zeit?

Meine letzte größere Reise habe ich Ende Januar nach Thailand unternommen. Ich war in Bangkok zum Weihnachtsfest der Chinesen in Chinatown. Da liefen alle mit Masken herum. Zu Hause war alles ganz normal. Ein paar Wochen später bin ich nach Barcelona gefahren, da trugen dann auch alle Masken. Seit Corona weltweit ein Thema ist, war ich nicht mehr unterwegs, außer zwischen meinen beiden Wohnsitzen in St. Gallen und Wien.

Jetzt wäre Venedig eine Reise wert, das ist wie leergefegt, und die Hotels kosten nur noch einen Bruchteil. Aber niemand fährt jetzt beispielsweise gerade mal eben nach Marokko. Abgesehen davon, dass man neben dem Visum jetzt auch einen Corona-Test braucht: Du kannst zwischen den Städten nicht reisen, das Basarleben ist eingefroren.

Für junge Kollegen ist Corona eine Katastrophe. Ich werde meine Sachen ja noch los. Ich habe viele alte Geschichten reloaded. Zum Beispiel die, wie ich Mitte der 1990er ein Dorf in Indien besucht habe, in dem eine Pest-Epidemie ausgebrochen war. Da fühlen sich die heutigen Leser an die Situation mit Corona erinnert. Oder die, wie ich Mitte der 1980er-Jahre, ausgerüstet wie ein Marsmensch, nach Uganda an den Victoriasee gereist bin, wo angeblich Aids von Affen auf den Menschen übertragen worden war. Ich wiederhole mich ungern, deshalb bemühe ich mich immer, irgendeinen neuen Dreh zu finden. Über Marrakesch, wo ich mal gelebt habe, habe ich mittlerweile bestimmt 100 Artikel geschrieben. Ich habe ein gutes Gedächtnis, erinnere mich an vieles, insofern kann ich solche Geschichten gut vom Schreibtisch aus machen. Auch Konzept-Geschichten à la „12 Orte, an denen man im Leben gewesen sein muss“ kann man „kalt“ schreiben.

Nach 30 Jahren als Reporter mache ich mittlerweile kaum noch Reportagen, sondern schreibe vornehmlich Bücher. Dadurch arbeite ich unter normalen Umständen in einem ganz anderen Rhythmus: Meine Reisen dauern länger, und ich habe mehr Zeit zum Schreiben. Als Buchautor bin ich auch viel unabhängiger von aktuellen Entwicklungen und verdiene weiterhin Geld. Während Corona mache ich meine Lesungen online, und Amazon liefert ja glücklicherweise noch.

Schon vor Corona hatte der Reisejournalismus Probleme: Viele Berichte sind nur möglich, weil Journalisten sich Hotels oder Tourismusbüros suchen, welche die Reisekosten übernehmen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Wenn die TUI oder eine Hotelkette dem Reporter eine Reise sponsort, kann er in der Suite des Fünfsterne-Beachhotels abhängen. Das ist schön für ihn, aber da geht die journalistische Unabhängigkeit verloren, die Freiheit, zu schreiben, was man für richtig oder wichtig erachtet. Vor der Corona-Pandemie hatte ich eine monatliche Kolumne im Lufthansa magazin. Ich bin sowieso ein großer Fan der Lufthansa, aber natürlich hätte ich allein deswegen nie ein schlechtes Wort über die Airline verloren. Ich bin mal von Öger Tours zu einer Insel-Reise durch die Türkei eingeladen worden. Das war komisch, das ist nicht der Hausweg. Wenn man so etwas annimmt, muss man die Geschichte sowieso unbedingt machen wollen, dann sollte es einem wichtig sein, was man da verbreiten soll. Das ist immer eine Gratwanderung. Aber die Redaktionen haben keine Kohle mehr, Auslandsredaktionen werden abgeschafft. Wem wird denn heute noch eine längere Reise von der Redaktion finanziert? Früher war das anders. 1986 hat mich mein Chefredakteur nach China geschickt, weil er meinte: Kein Mensch weiß, wie toll die Chinesen im Bett sind. Für so eine Idee bekamen ein Fotograf und ich Business-Flugtickets und wurden in den besten Hotels untergebracht. Mittlerweile sind die Kollegen froh, wenn sie ihre Reisekosten nicht selbst bezahlen müssen. Darunter leidet der Reisejournalismus mehr als unter Corona.

Große Konkurrenz für klassische Reisejournalisten ist durch Blogger und Influencer aufgekommen, die von den Tourismusverbänden „umworben“ werden.

Durch die ganzen Social-Media-Kanäle verliert der Journalismus irre an Relevanz. Wenn man in den 1960er-/70er-Jahren sagte, dass man vom Spiegel kommt, standen alle stramm, denn ein Artikel konnte Existenzen aufbauen – oder zerstören. Ich bin auf Facebook und verfolge die Reiseberichte da: Manche schreiben echt gut und witzig. Aber im Prinzip fühlt sich jeder zum Reisejournalisten berufen, alle möglichen Leute schreiben von unterwegs, jeder kann reisen, Fotos und Texte fabrizieren. Das ist eine Riesen-Konkurrenz für uns ausgebildete Journalisten. Social Media ist ein Grab für den Journalismus.

Was prophezeien Sie für die Zukunft des Reisejournalismus?

Die Leute wollen Reiseberichte lesen. Das Geschichtenerzählen wird nie aussterben – nur das Medium wechselt. Aber das war schon immer so. Zunächst gab es die Höhlenmalerei, dann wurden Berichte auf Papyrus festgehalten – da sahen die, die sich auf Höhlenmalerei spezialisiert hatten, natürlich erstmal alt aus. Man muss eben mit der Zeit gehen. Und das heißt für Nachwuchsjournalisten auch im Reisejournalismus: online.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Helge Timmerberg, geboren 1952 im hessischen Dorfitter, schreibt Reisereportagen aus aller Welt. Der Journalist volontierte bei der Neuen Westfälischen in Bielefeld, arbeitete meist frei. In den 1980er-Jahren etablierte er den sogenannten New Journalism in Deutschland, die subjektive Erzählweise in Ich-Form. Er veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, der Neuen Zürcher Zeitung, GEO, Allegra, Stern, Spiegel, Playboy u.a. Er schrieb unter anderem die Bücher „Im Palast der gläsernen Schwäne“, „Tiger fressen keine Yogis“, „Das Haus der sprechenden Tiere“, „Shiva-Moon“, „In 80 Tagen um die Welt“, „Der Jesus vom Sexshop“ und „African Queen“. Bei Malik und Piper erschienen zuletzt „Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich“, seine Autobiografie, der SPIEGEL-Bestseller „Die rote Olivetti“, und die Reisestories „Die Straßen der Lebenden“. Gerade erschien sein 15. Buch, eine Biografie: „Reinhold Würth. Der Herr der Schrauben“ (Piper). Auf seiner Facebook-Seite informiert Timmerberg über seine aktuellen Artikel. Sein neustes Magazin-Projekt: https://www.utiya-magazine.com

Kommentare
  1. con2epa sagt:

    Warum freuen Sie sich nicht, dass endlich die Spreu vom Weizen getrennt wird? Dass nicht mehr jeder Artikelschreiber sich Journalist nennen darf und von Verlag durchgefuettert wird, sondern dass nur noch qualitative Texte erscheinen?

    Ich sehe das so: Journalismus ist eine Leistung an der Gesellschaft und wenn die Leistungserbringer durch Social Media bedroht sein sollen, dann braucht man diese Erbringer nicht.

    Sie müssen sich nur entscheiden, ob Sie Journalismus als Leistung verstehen, welche Qualität beinhaltet oder nur als Beruf, deren Mitglieder sich nur deshalb Journalisten nennen, weil sie bei einem Verlag angestellt sind.

    Und zu diesem Punkt finde ich bedauerlicherweise nicht in den vier Seiten.