RSS-Feed

Innovationen aufspüren: Wie Fachjournalisten Neues entdecken, recherchieren und aufbereiten

Fachjournalismus lebt davon, über Neuerungen aus Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik, Sport oder Kultur zu berichten. Doch: Wie kommen die Autoren eigentlich an ihre Themen? Uwe Herzog ist freier Fachjournalist für Innovationen, Design und Lifestyle. Anhand von Praxisbeispielen erläutert er, worin sich „echte“ Erfindungen von (weniger interessanten) Nachahmungen unterscheiden, warum manche Redaktionen bei Artikelangeboten zu außergewöhnlichen Entwicklungen oft skeptisch sind – und warum es sich trotzdem lohnt, neuen Entdeckungen, Ideen und Kreationen nachzuspüren, die das Potenzial haben, „die Welt zu verändern“.

Sie sind prall gefüllt mit Ideen, Skizzen, Überlegungen und Visionen: die Notizbücher von Leonardo da Vinci, besser bekannt unter dem Titel „Codex Arundel“. Als das größte Multitalent der Renaissance die jahrzehntelange Arbeit an diesem bis heute unvergleichlichen „Kreativkatalog“ im Jahr 1518 – wenige Monate vor seinem Tod – beendete, hinterließ er damit zahlreiche innovative Ansätze und wertvolle Erkenntnisse aus Biologie, Optik, Astronomie, Mathematik und Physik. Das Spektrum reicht von der Erforschung des Vogelflugs über den Bau neuartiger Musikinstrumente bis hin zu Plänen für die Konstruktion eines U-Boots zur Erkundung der bis dahin noch völlig unbekannten Tiefsee.

Doch es sollten weitere 500 Jahre vergehen, bis die Aufzeichnungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurden: Nach aufwendiger Digitalisierung sind nun sämtliche erhalten gebliebenen Notizen da Vincis auf der Website der britischen Nationalbibliothek verfügbar – und damit zugleich ein unerschöpflicher Fundus für Beiträge von Fachjournalisten aus aller Welt über einen der größten Erfinder, Künstler und Philosophen der Geschichte.

Die Tragik der klugen Köpfe: die schwierige Öffentlichkeitsarbeit von Entdeckern und Erfindern

Nicht nur Leonardo da Vinci hielt zu seiner Zeit vieles zurück und verwahrte in geheimen Aufzeichnungen, was ihn bewegte. Denn allzu leichtfertig wurden selbst weithin anerkannte Genies wie er als „Quacksalber“ oder „Scharlatane“ abgetan – und so mancher von Klerus und Obrigkeit wegen seiner Entdeckungen und Erfindungen verfolgt, die ihrer Zeit voraus und daher nicht erwünscht waren.

Heute fürchten kluge Köpfe vor allem die Kosten, die mit der Umsetzung ihrer Innovationen verbunden sind – und den weltweit allgegenwärtigen Ideenklau. Bei dem Spagat zwischen notwendiger Verschwiegenheit und kluger Öffentlichkeitsarbeit sind viele Erfinder daher auf Journalisten angewiesen, die verantwortungsvoll und seriös über das Neue berichten, auf das die Welt gewartet hat.

Angesichts von rund 166.000 Patenten, die allein im vergangenen Jahr beim Europäischen Patentamt eingereicht wurden, wird deutlich, welches Potenzial an spannenden Storys zwischen all den „digitalen Aktendeckeln“ der beantragten Schutzrechte steckt. Im Ranking der europäischen Länder nimmt Deutschland mit mehr als 25.000 Patenten im Jahr 2017 derzeit den Spitzenplatz ein. Die Schwerpunkte liegen dabei vor allem bei Neuerungen in den Bereichen Maschinenbau, Energieerzeugung, Mess- und Prüftechnik sowie im Transportwesen.

Die zentrale Frage für Journalisten lautet: Ist das jetzt wirklich neu?

Doch was macht eine Neuentwicklung eigentlich aus, über die es sich zu berichten lohnt? Grundsätzlich gilt: Ein Patent allein reicht nicht. Denn allzu oft werden Schutzrechte für Neuerungen erteilt, deren konkreter Nutzen entweder zweifelhaft oder aber derart spezialisiert ist, dass er nur einem sehr kleinen Kreis von Anwendern zugute kommt.

Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Innovationen, für die nie ein Patent (oder Musterschutz) beantragt wurde – entweder, weil dafür die Mittel fehlten oder weil ein solches Schutzrecht nur schwer erworben werden kann. Das gilt vor allem für Entdeckungen im Bereich der Naturwissenschaften: So barg das Aufspüren bislang unbekannter Pflanzenarten schon öfter Potenzial für die Heilung bestimmter Krankheiten. Beweise für die Existenz von Wasser auf dem Mars legen die Möglichkeit von Leben im All nahe. Und die Beobachtung natürlicher Belüftungssysteme in den Lehmhütten von Wüstenstämmen diente Architekten als Grundlage für die Verbesserung moderner Klimaanlagen. Mit solchen und ähnlichen Entdeckungen waren in der Geschichte mehr als einmal bahnbrechende Entwicklungen verbunden, die sich nicht allein auf ein einziges, fest umrissenes Konzept beschränken lassen und somit nur schwerlich Rechtsschutz erlangen.

Wenn es also darum geht, über eine (Neu-)Entdeckung oder Erfindung zu berichten, sollte daher die zentrale Frage zunächst lauten: Welcher konkrete Nutzen ist damit verbunden?

Sobald zu vermuten ist, dass eine Innovation bei einer breiten Öffentlichkeit (oder zumindest bei einem ausreichend großen Fachpublikum) auf Interesse stößt, wäre im nächsten Schritt zu klären, ob es sich dabei um eine Erfindung ersten oder zweiten Grades handelt. Denn nur sehr wenige Innovationen stellen eine echte Weltneuheit – also eine sogenannte „Erfindung ersten Grades“ – dar, auf die bis dahin kein anderer Mensch gekommen ist.

Bei den meisten „Neuerungen“ handelt es sich vielmehr um Weiterentwicklungen bereits vorhandener Ideen oder Produkte (Erfindung zweiten Grades). Hier gilt es, erneut die Spreu vom Weizen zu trennen: Ist damit im Einzelfall wirklich eine Neuerung im Sinne einer „Neuschöpfung“ verbunden – oder handelt es sich lediglich um eine Nachahmung, bei der dasselbe (ähnliche) technische oder ideelle Prinzip einer bereits vorhandenen Erfindung mit nur geringen Modifikationen zu einem vergleichbaren Zweck genutzt wird?

Beispiel: Ein äußerlich neu gestalteter Haarföhn würde nicht bereits deshalb zu einer „Innovation“, weil der Hersteller verspricht, dass man damit ab sofort nicht nur die Haare trocknen kann, sondern auch Tusche auf Papier. Und selbst, wenn Service-Hotlines von Kühlschrankmarken gelegentlich empfehlen, die Dichtungsgummis mit der Warmluft eines Haushaltsföhns zu bearbeiten, damit das Eisfach nicht mehr tropft, ist das noch nicht das Ei des Kolumbus. Wirklich spannend wird es erst, wenn die Funktion des Geräts durch eine völlig andere Lösung ersetzt werden kann – in unserem Beispiel etwa durch ein ungewöhnlich stark trocknendes Handtuch, bei dem die Haare zugleich wie beim Föhnen in Form gebracht werden können. Eine solche Erfindung würde das bisher für diesen Anwendungszweck genutzte Produkt ersetzen, Energie sparen und bei Verwendung natürlicher Rohstoffe auch die Umwelt schonen. Dann wäre der „neue Föhn“ vielleicht ein Thema.

Segen oder Fluch – welche Auswirkungen haben Erfindungen in der Praxis?

Neben der Frage nach dem konkreten Nutzen ist jedoch noch ein anderer Aspekt für den Nachrichtenwert einer Innovation entscheidend – der mit einer Neuentwicklung unter Umständen verbundene Schaden. Auch dafür gibt es zahlreiche Beispiele:

  • Die Atomkraft wurde von der Industrie oft mit der Entdeckung des Feuermachens durch den Urmenschen verglichen und entsprechend gepriesen – heute wissen wir um die tödlichen Gefahren, die von der kriegerischen, aber auch von der friedlichen Nutzung der Kernspaltung ausgehen.
  • Heroin, einst von der Pharmaindustrie als „hochwirksames Hustenmittel“ entwickelt, erwies sich schon bald als eine der schlimmsten Geißeln der Menschheit. Auch Contergan galt lange Zeit als harmlose Beruhigungspille – und war schließlich für mehr als 10.000 Missgeburten verantwortlich. Viele andere „innovative“ Medikamente machen vor allem … süchtig und krank.
  • Rasant schnelle Flugzeuge wie die Concorde, selbst steuernde Autos, Hochgeschwindigkeitszüge oder auch neuartige Sportgeräte wurden – allen Lobeshymnen zum Trotz – in der Praxis oft zu tödlichen Fallen.

Die Liste solcher „gefährlichen Erfindungen“ ließe sich endlos fortsetzen. Dabei ist die dunkle Seite einer Neuerung längst nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Oft sind langwierige Untersuchungen und die Einschätzungen unabhängiger Experten erforderlich, um mögliche Gefahren zu erkennen, die mit einer (vermeintlichen) Innovation verbunden sind. Wer weiß schon, wie gefährlich etwa Photovoltaik-Anlagen aufgrund ihrer Hochspannung werden können, wenn das Haus darunter in Brand gerät – oder welche Umweltgifte mit jedem Regen aus Fassaden gewaschen werden, die zuvor mit sogenannten „Wärmeverbundsystemen“ gedämmt wurden?

Daneben kommt es häufig vor, dass ein und dieselbe Neuerung den einen nutzen, den anderen jedoch schaden kann. Ein klassisches Beispiel dafür sind immer neue, technisch verbesserte (oder auch nur geringfügig veränderte) Smartphones, Tablets oder Notebooks. Meist werden dabei die Vorteile für den Anwender hervorgehoben – etwa Schnelligkeit, Datenspeicher oder Betriebszeit. Kritikpunkte gibt es allenfalls unabhängig von der jeweiligen Marke und Geräteversion. Dabei geht es zum Beispiel um Unfälle bei Selfies, Rückenprobleme durch häufiges Herabbeugen bei der Nutzung von Mobilfunkgeräten oder auch um eine allgemeine Zunahme von Vereinsamung und Depression in der digitalen Welt.

Doch in jedem dieser hochmodernen Alltagsgegenstände stecken noch ganz andere Storys, denen nachzugehen sich für Journalisten allemal lohnt. Beispiel: seltene Metalle. Bis zu 60 verschiedene davon sind in einem einzigen Notebook enthalten. Um welche Metalle handelt es sich dabei genau? Wo liegen die Fundstellen? Wem gehören die Schürfrechte? Welche wirtschaftlichen und politischen Interessen sind damit verbunden? Welche Umweltauswirkungen hat ihre Gewinnung? Ist Kinderarbeit im Spiel? Werden (Bürger-)Kriege um ihre Schürfrechte geführt? Das Notebook, Smartphone oder Tablet mag für sich genommen eine Innovation darstellen – die oft brutalen Methoden zur Entdeckung, Verteidigung und Gewinnung der darin verarbeiteten Materialien sind es dagegen kaum.

Die genannten Beispiele zeigen: Fachjournalisten, die sich für Innovationen interessieren, sind gut beraten, wenn sie in ihrer Fragestellung selbst kreativ werden und – ähnlich wie berühmte Erfinder – dabei auch „gegen den Strich“ denken.

Tief tauchen in Bibliotheken, Archiven und Instituten: Wie können Journalisten spannende Innovationen aufspüren?

Die wichtigsten Quellen sind zunächst die Medien selbst. Täglich werden in Zeitungen, Magazinen, Internetportalen oder TV-Sendungen neue Entdeckungen oder Erfindungen gemeldet. Das Spektrum ist dabei riesig und reicht von umweltschonendem Kunststoff aus Bananenschalen über optimierte Solarzellen bis hin zu speziellen Bakterien, die Plastikmüll „fressen“. In einschlägigen Fachmedien werden zudem häufig Aspekte zu aktuellen Forschungsergebnissen, Umfragen oder Praxiserfahrungen diskutiert, die auch für eine breitere Öffentlichkeit interessant sein könnten. Zahlreiche Bibliotheken und Archive verfügen über ergänzende Fachliteratur.

Besonders lohnenswert: Onlinerecherchen in der Datenbank des  Europäischen Patentamts mit Sitz in München. Hier finden sich Millionen von Dokumenten zu geschützten Erfindungen aus aller Welt, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen.

Daneben ist die persönliche Kontaktpflege zu namhaften Wissenschaftlern, Ingenieuren sowie weiteren Akteuren und Beobachtern im eigenen Fachgebiet wichtig. Woran arbeiten die bekannten „Koryphäen“, welche Institute führen gerade spannende Forschungsprojekte durch, welche Experten haben sich bereits zu einer Neuentwicklung auf ihrem Gebiet geäußert? Oft genügt eine kurze E-Mail, um zu erfahren, was es beim Thema „Neues“ derzeit Neues gibt.

Wer Kontakt zu Erfindern selbst sucht, findet über deren Foren im Internet Zugang. In Deutschland hat sich dabei vor allem die „Gesellschaft für außergewöhnliche Ideen“ einen Namen als Sammelbecken für kluge Köpfe und Innovationen aus verschiedenen Fachbereichen gemacht. Die Akteure setzen auf einen regen Austausch mit (Fach-)Journalisten und eine gegenseitige Unterstützung bei der Suche nach öffentlichem Interesse, Fachberatern und Investoren.

„Nie gehört! Hatten wir doch schon!“ – Warum sich viele Redaktionen mit Innovationsthemen schwer tun

Das kennen viele freie Journalisten gut: Das Thema klingt spannend, erste Recherchen sind vielversprechend, das Exposé steht – trotzdem fällt die Story bei der Planung der Redaktion durch. Häufig lautet die Begründung: „Das hatten wir doch schon mal!“ Dabei übersieht manch zuständiger Redakteur jedoch oft das „Neue“ innerhalb eines Themenkomplexes.

Beispiel: Als der Freiburger Solararchitekt Rolf Disch in den 1990er-Jahren damit begann, Häuser zu bauen, die mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen, gab es durchaus erste Achtungsberichte über seine „Plusenergie“-Bauweise in den Medien. Dann wurde es wieder ruhiger um den Energiepionier unter Deutschlands Architekten.

Jahre später verabschiedete schließlich die EU-Kommission eine neue Richtlinie, nach der die Plusenergiebauweise künftig in ganz Europa zum Standard bei Neubauten werden soll. Auch der Wirkungsgrad der von Solarzellen gespeisten Wohn- und Gewerbekomplexe hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits nahezu verdoppelt. Last, not least standen deutsche Studenten plötzlich bei internationalen Architektur-Awards mit ihren eigenen Plusenergiekonzepten immer öfter auf dem Siegerpodest.

Trotzdem lehnten viele Redaktionen Themenangebote dazu mit dem kategorischen Hinweis ab: „Kalter Kaffee!“ Andere wiederum glaubten schlicht nicht an die Wirkung der neuen Bauweise, die gerade dabei war, Passivhäuser abzulösen, welche ihrerseits lange als die Innovation galten. Eine überregionale Tageszeitung brachte stattdessen lieber einen groß aufgemachten Artikel darüber, dass Photovoltaik-Anlagen nicht sinnvoll seien, weil die Sonne nicht oft genug scheint und auch Bäume Schatten darauf werfen.

Wie bahnbrechend die ursprünglich von einem Einzelkämpfer wie Rolf Disch vorangetriebenen Konzepte jedoch letztlich waren, zeigen nicht nur die heute weitverbreiteten Plusenergiehäuser. Auch die neuen gesetzlichen Energiestandards für Gebäude und die somit wirkungsvoll unterstützten Bemühungen um Klimaschutz und Atomausstieg liefern einen Hinweis auf die starke Innovationskraft solcher Erfindungen.

Fazit: „Wer zur Quelle gehen kann, sollte nicht beim Wassertopf Halt machen“ (Leonardo da Vinci)

Um beim letzten Beispiel zu bleiben: Ohne die hartnäckige Initiative des Plusenergiehaus-Erfinders Rolf Disch wäre die heutige Architektur eine andere. Und auch viele engagierte Journalisten haben ihren Anteil daran, dass die Welt nicht länger auf solche und ähnliche Innovationen warten musste. Ein Tipp für den Umgang mit dennoch skeptischen Redaktionen: Lieber zunächst den konkreten Nutzen einer Neuerung herausstellen – und erst an zweiter Stelle darauf verweisen, welcher oft bewundernswerte Erfindergeist diese erst ermöglicht hat.

Titelillustration: Esther Schaarhüls

Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen Fachjournalisten-Verbands (DFJV).

Uwe_HerzogDer Autor Uwe Herzog ist Fachjournalist für Innovationen, Design und Lifestyle. Er schrieb u. a. über die Risiken der Atomwirtschaft, Vorteile der Plusenergiebauweise, innovative Gebäudesysteme („Heizen mit Eis„), Umweltprobleme bei der Wärmedämmung von Gebäuden sowie die Brandgefahr von Photovoltaik-Anlagen. Für seine Reportagen über die „Heilkraft von Farben“ in der Gesundheits-Architektur interviewte Herzog namhafte Architekten, Bauplaner, Ärzte, Künstler und Wissenschaftler. Für den Fachjournalist berichtete er zuletzt über ein umstrittenes Bauprojekt in Köln-Braunsfeld, bei dem erstmals Wohnhäuser unmittelbar über einer Industriebahnlinie errichtet werden sollen, auf der täglich große Mengen Gefahrgüter transportiert werden – und gab dazu Tipps für schwierige Recherchen.

Kommentare sind geschlossen.